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„Ich wollte zeigen, dass ein Konzerthaus
viel mehr sein  kann als ein Musiktempel“

Das Gespräch mit Michael Kaufmann
führte
Maria Kostakeva (OMM)

OMM - Herr Kaufmann, vor kurzen ist bekannt geworden, dass die Essener Philharmonie vom Deutschen Musikverleger-Verband für das beste Konzertprogramm der Saison 2007/2008 ausgezeichnet wurde. Dieser Preis, der seit 1991 existiert, wird für  die besondere Kreativität und Vielfalt des Konzertprofils vergeben, vor allem aber für die Berücksichtigung zeitgenössischer Musik, wie auch selten gespielter Werke des 20. Jahrhunderts und Raritäten vergangener Epochen.  Man kann sich vorstellen, was für eine Freude das ist. Was denken Sie – wurde dieser Preis  für die gute Qualität der Interpretation oder für die thematischen Schwerpunkte des Konzertprogramms verliehen? Würden Sie Ihr Konzept ein bisschen erläutern? 

MK - Dieser wunderbarer Preis für das beste Konzertprogramm, ist für uns natürlich eine wahnsinnig tolle Auszeichnung. Die Philharmonie gibt es erst seit der Eröffnung  2004 und das ist eine große Bestätigung für unsere Arbeit in dieser vierten Saison. Um mögliche Missverständnisse zu vermeiden: Dieser Preis hat nichts zu tun mit den Essener Philharmonikern; Wir sind absolut unabhängig von dem Orchester. Natürlich spielt die tolle Qualität des Orchesters eine große Rolle. Aber diese hoch angesehene Auszeichnung bekommt  das Konzerthaus für sein Programm. Ich möchte an erster Stelle hier „Voila la France“ erwähnen.

OMM  - Es ist interessant zu erfahren: Wie kamen Sie auf die Idee, solch einen  Zyklus zu veranstalten?  Ich kann mir denken, dass hinter diesem Thema nicht nur künstlerische, sondern auch kulturpolitische Aspekte  zu erkennen sind?

MK - Ich kann Ihnen erzählen, woher die Idee kommt: ich bin sehr fasziniert von der europäischen Geschichte, vor allem aber, was in Verbindung mit der Aufklärung steht:  ich meine damit das Individuum, das  sich in der Gesellschaft als Individuum versteht und entwickelt. Alles das, was mit der Revolution, Aufklärung, Liberalisierung von Gesellschaft zu tun hat, beschäftigt mich sehr. Außerdem, es war mit der französischen Kultur lange Zeit  eine Einbahnstrasse. In Frankreich wurde viel mehr deutsche Musik gespielt als bei uns die Französische. Außer Ravels Bolero, Symphonie Fantastique von Berlioz und noch ein paar Stücke ist die französische Musik in unserem regulären Programm gar nicht zu finden. Ich will hier zwei Geschichten verbinden: einerseits wichtige französische  Musiker hierher einzuladen, die ihre Musik mitbringen  und andererseits Orchester der Region (Wuppertal, Duisburg, Recklinghausen, Dortmund, Solingen) einzubeziehen und mit französischer Musik zu verführen. Um in diesem schönen Saal sich präsentieren zu können, sollte man sich auch für ein Werk von Olivier Messiaen entscheiden, dessen 100- jähriges Jubiläum  2008 gefeiert wird, oder von Pascal Dusapin, der momentan in Essen ‚Composer in Residence’ ist. Außer den zahlreichen  Konzerten wurde auch eine 15-teilige Vortragsreihe „Kultour de France“ organisiert, wo Experten  aus  ganz Deutschland über die französische Kultur und Musik berichteten. Ich möchte zeigen, dass ein Konzerthaus viel mehr sein  kann als ein Musiktempel.

OMM  - Sie möchten die kulturpolitischen, historischen, geistigen und künstlerischen Beziehungen zwischen den beiden europäischen Ländern offenbaren...

MK - Wissen Sie, in der Schulausbildung der 60-70er Jahre war es nicht üblich, die kulturellen Ereignisse auf dem Grund der gesellschaftlichen Verhältnisse zu ordnen und zu erklären. Solche Angelegenheiten wurden nicht vermittelt. Ich möchte das Potential dieses Hauses dafür nützen.   

OMM  - In Ihrem Programm ist auch ein anderer, sehr aktueller Akzent zu finden: ‚YOUrope together’. Was wollen Sie uns dazu sagen?

MK - Es ist ein Paradebeispiel dafür, dass es manchmal geniale Ideen gibt, die schwer zu realisieren sind. Wir präsentieren 25 Länder der EU + Schweiz und Türkei. Die Idee von Markus Stolenberg, junge Künstler zu porträtieren, war mit einer Forschungsarbeit an verschiedenen Hochschulen verbunden. Es war ein schwieriges Ermittlungsverfahren, den richtigen Komponisten auszusuchen, denn die jungen Komponisten haben noch keinen Verlag. Es waren Professoren aus verschiedenen Schulen für ein Gremium eingeladen, die die Werke selektieren sollten. Das Problem ist, dass diese Künstler noch keinen Namen haben und es deshalb schwierig ist, Publikum anzulocken. Dabei sind die Konzerte durch den Deutschlandfunk aufgezeichnet worden, so dass man einen Ausdruck von der Musik bekommen konnte. So entsteht die interessante Frage der verschiedenen kulturellen Identitäten, gibt es solche in der Neuen Musik und wie unterscheiden sie sich von einander.

OMM  - B.A. Zimmermann hat schon am Ende der 60er Jahre den Begriff „individueller Stil“ abgeschafft...

MK - Umso interessanter,  die Unterschiede zwischen der Musik Skandinaviens und der der Mediterranée z.B. zu finden.

OMM  - Wie sieht die Situation mit der zeitgenössischen Musik in Ihrem Haus aus?

MK - Ich kann leider die zeitgenössische  Musik im Programm nicht gestalten, das gestaltet Stefan Soltesz selbst. Ich will, aber, dass die zeitgenössische Musik keine exotische Situation mehr im Konzertprogramm erzeugt. Mir bleibt also nichts übrig als die anderen Orchester in Versuchung zu führen und anzuregen,  zeitgenössische Musik zu spielen. In Ruhrgebiet gibt es so viele tolle Orchester, dass ich gar nicht traurig bin über die Situation in meinem Haus. Selbst wenn die Essener Philharmoniker nur wenige moderne Werke spielen, geben sie wichtige Impulse für die anderen Orchester,  viel mehr zeitgenössische Musik in das eigene Repertoire aufzunehmen.

OMM  - Durch die Kooperation mit anderen Orchestern werden die neuen Werke von viel mehr Zuhörern gehört und an viel mehr Spielorten präsentiert... Wie ist es eigentlich mit dem Abonnementspublikum, ist es  auch an den neuen Werken interessiert?

MK - Dieses Ziel zu erreichen ist nicht ganz so leicht. Auch  bei Schönberg gingen die Leute raus, aber sie sind wieder gekommen. Man muss nicht unbedingt eine Protesthaltung einnehmen, wenn ein Werk nicht gefällt. Dieses Haus wurde 1904 von Richard Strauss eröffnet und es wurde  viel neue Musik gespielt. Es ist auch sehr wichtig, dass die Komponisten sich dem Publikum persönlich  präsentieren. Vielleicht kommt die Neue Musik dann im normalen Konzertprogramm.

OMM  - Eine damit eng verbundene Frage: Die Auftragskompositionen. Soweit ich weiß, werden seit 2004 25 Aufträge erteilt.  Welches Ziel streben Sie an?

MK - Es ist wichtig, in die Zukunft zu investieren.

OMM  - Wie funktioniert das?

MK - Es ist meine eigene Wahl. Im Prinzip habe ich die Möglichkeit völlig selbst zu entscheiden, es gibt kein  Gremium.

OMM  - Kennen Sie die ausgewählte Musik im voraus?

MK - Es ist immer ein erhebliches Risiko, aber das Leben selbst ist ein Risiko.  Wenn man es ernst damit meint, die kulturelle Situation der  Zukunft zu gestalten, muss man Kreativität fördern. Wir müssen die Kunstlabors ernst nehmen. Auch wenn jemand neue Medikamente entwickeln und einführen will, muss er im Labor forschen.

OMM  - Nach welchen Kriterien wählen Sie die Komponisten aus?

MK - Es sind Leute, die ich für wichtig halte. Ich wollte solche Komponisten finden, die gerne mit Menschen kommunizieren, die nicht in  Elfenbeinturm leben, die gerne erklären, warum sie dies oder jenes tun. Hosokawa  war für mich eine tolle Erfahrung.   

OMM  - Haben sie Prioritäten bei der Wahl der Gattungen?

MK - Erst kommt der Komponist, dann alles andere. Eine Uraufführung, für die ich Komponisten und Musiker bezahlen muss, ist  nicht finanzierbar. Deswegen arbeiten wir in Kooperation mit anderen Orchestern.

OMM  - Diese Kooperationsprojekte zeigen sich als eine Idee mit vielen Perspektiven...  

MK - Meine Aufgabe ist, das Konzertprogramm in allen Fassetten zu präsentieren.      

OMM  - In den 60er Jahren wurde die Beziehung zwischen Künstler und Publikum total unterbrochen. Würden Sie Komponisten avantgardistischer Prägung wie Ferneyhough oder Lachenmann einladen?

MK - Wir machen beides. Aber vor allem muss ich versuchen, Menschen, die keine Ahnung von neuer Musik haben, zu verführen. Es geht doch um Ruhrgebiet. Die Musik  muss in ihrer  ganzen Breite präsentiert werden, nicht nur für Spezialisten. Und sie muss nicht nur laut, schrill und hässlich sein.

OMM  - Es entsteht der Eindruck, dass viele von den beauftragten Komponisten versuchen, das Abonnementspublikum anzusprechen. Die Musik wird viel milder, melodiöser, es gibt keine Extremitäten mehr.

MK - Das ist die Emanzipation der neuen Musik von sich selbst. In jeder Entwicklung gibt es moderate, harmonische oder emanzipatorische Phasen.

OMM  - In der Tat. Im Vergleich zu den spezifischen Besetzungen und Spielorten der Festivals für Neue Musik tendiert die gegenwärtige Musik mehr  zum symphonischen und kammermusikalischen  Podium im klassischen Sinne des Wortes. Es geht sogar nicht nur um die Besetzung selbst, sondern um die ganze Klanglichkeit. Bis vor einigen Jahren konnte man sich neue Musik und symphonisches Podium zusammen kaum vorstellen. Wenn man an die Musik von Jörg Widmann denkt, scheint die Devise „Zurück zur Schönheit“ wiederbelebt zu sein...  Aber meinen Sie nicht, dass es auch geschickte Komponisten gibt, die von modischen Themen profitieren, um leichter zu Geld zu kommen?

MK - Die Frage ist, WER WEM WOFÜR den Auftrag gibt. Alle Institutionen, die Steuergeld verwalten, müssen auch der Gesellschaft dienen:  Ist dieses öffentliche Geld von mir gut verwendet oder nicht? Ich muss den Auftrag denjenigen geben, die sich noch nicht behauptet haben.

OMM  - Wie Paul Sacher?

MK
- In Prinzip versuche ich schon ihm ein bisschen zu folgen
Man denke an für die neue, vielversprechende  Rubrik, die für die  nächste Saison geplant ist: „Stifter und Anstifter neuer Musik – von den Fürsten Esterházy bis Paul Sacher“.   




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