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Verena Mogl
"Juden, die ins Lied sich retten" Der Komponist Mieczysław Weinberg (1919 - 1996) in der Sowjetunion Portrait eines weiter zu entdeckenden Komponisten Von Christoph Wurzel Die Passagierin von Mieczysław Weinberg: Diese Uraufführung im Sommer 2010 bei den Bregenzer Festspielen ließ die Musikwelt staunen. Die Kritik äußerte sich anerkennend bis begeistert. Ein Rezensent schrieb von zahlreichen Momenten in dieser Oper, die "schlichtweg unfassbar" seien und meinte damit nicht allein das Thema, sondern deren überwältigende Musik. Der Name ihres Komponisten aber war selbst den meisten Musikkennern unbekannt. Ein Komponist polnisch-jüdischer Herkunft, der aber in der Sowjetunion gelebt hat und in einschlägigen Lexika hierzulande überhaupt nicht vorkam. Schlagartig belegte nun die Wirkung dieser Produktion die überragende Bedeutung eines fast Unbekannten. Die Passagierin, diese Oper über das SS-Terrorsystem von Auschwitz, über Verstrickung und Verdrängung der Täter und das unendliche Leid der Opfer, ist seitdem rund 25 mal über die Bühnen der namhaftesten Opernhäuser u. a. in Polen, USA, Russland und Israel gegangen, besonders aber auch im deutschsprachigen Raum. Sie gehört nun zum festen und besten Bestand einer Kultur der Erinnerung an den nationalsozialistischen Völkermord an den Juden auf dem Feld der Musik. Seitdem wird Weinbergs Musik auch über diese Oper hinaus zunehmend häufiger aufgeführt. Gidon Kremer gehört zu seinen vehementesten Befürwortern, das Quatuor Danel setzt sich in Konzerten unermüdlich für den Komponisten ein und hat eine Gesamtaufnahme seiner 17 Streichquartette auf CD vorgelegt. Auch im Rahmen umfangreicherer Konzertreihen von Komponistenportraits wird Weinberg zunehmend in den Focus gerückt wie jüngst im Herbst an der Elbphilharmonie (siehe unsere Rezension) und auch bei den Londoner Proms wurde eine seiner Sinfonien in diesem Jahr aufgeführt. Wer also war dieser Komponist? Rechtzeitig zur 100. Wiederkehr seines Geburtstags am 19. Dezember 2019 hat der Waxmann Verlag bereits 2017 die erste umfassende Monografie über Mieczysław Weinberg herausgegeben, in der die Hamburger Musikwissenschaftlerin Verena Mogl in einer hervorragend recherchierten Doktorarbeit Leben und Werk des Komponisten darstellt und detailreich auf die breiten Facetten seines Schaffens eingeht. Besonders arbeitet sie auch die im Falle Weinbergs unübersehbare Wechselwirkung seiner künstlerischen Entwicklung mit den politischen Rahmenbedingungen in der Sowjetunion auf. Daher bildet diese Edition im Katalog des Verlages auch als Band 1 den Anfang einer geplanten Schriftenreihe "Musik und Diktatur", innerhalb derer auch aus interdisziplinärem Blickwinkel die Bedeutung musikalischen Schaffens unter den Bedingungen einer Diktatur erforscht und dargestellt werden soll. Akribisch stellt Mogl die Fakten zu Weinbergs Biografie zusammen, die, was seine ersten 20 Lebensjahre im Polen der Jahre 1919 bis 1939 betrifft, nur sehr bruchstückhaft überliefert sind: die Tätigkeit seines Vaters, der als Musiker an jüdischen Theatertruppen nur karg für die Familie sorgen konnte, Weinbergs Studium am Warschauer Konservatorium, das er einen Tag vor dem Überfall der Nazi-Armee auf Polen gerade noch abschließen konnte. Ungeklärt ist der Verbleib der Eltern nach der Okkupation. Es muss davon ausgegangen werden, dass sie und weitere Familienmitglieder in einem der Vernichtungslager der SS umgebracht wurden. Weinberg selbst gelang aber die Flucht zuerst nach Minsk (Weißrussland) und von dort nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 weiter ins usbekische Tashkent, wohin sich eine ganze Reihe von Künstlern ins Exil gerettet hatten. Dort entstanden auch seine ersten erhaltenen Kompositionen, unter ihnen die 1. Sinfonie, durch deren Erfolg Dimitri Schostakowitsch auf den 13 Jahre jüngeren Weinberg aufmerksam wurde und ihn nach Moskau holte. Mogl schildert mittels zahlreicher Dokumente, wie es Weinberg gelang, dort seine Karriere als Komponist und Pianist in relativer künstlerischer Freiheit fortzusetzen. Das Jahr 1948 bedeutete dann eine heftige Zäsur, als die Stalin'sche Kulturpolitik rigide allen Bereichen der Kunst das Dogma des "Sozialistischen Realismus" aufzwang. Weinberg wurde (wie u. a. Schostakowitsch auch) offiziell des Formalismus und "dekadenter bourgeoiser Auswüchse" beschuldigt und bekam praktisch keine Möglichkeit mehr, seine Musik aufzuführen. Mogl gibt ein eindrucksvolles Bild, unter welchem Druck der Komponist gestanden haben muss, wie flexibel er aber auch darauf reagierte, indem er sich auf Gebrauchsmusik verlegte und für Zirkus und Film komponierte, wovon Der Zug der Kraniche sogar 1958 die Goldene Palme in Cannes gewann. Stilmittel dieses musikalischen Metiers verwendet Weinberg immer wieder auch in seinen "ernsten" Werken zur Charakterisierung besonderer Stimmungen, u. a. auch in einigen Szenen der Passagierin. Weinbergs Kompositionsstil bis 1948 war der eine Grund für die Angriffe. Aber er war zudem als gebürtiger Pole auch Ausländer in der Sowjetunion (wobei man berücksichtigen muss, dass sich die beiden sozialistischen "Bruderstaaten" zu einander alles andere als freundlich verhielten) und außerdem war er Jude. Dieses bedeutete in der Zeit, als nach dem Krieg das stalinistische Regime die totalitären Daumenschrauben massiv anzog und einen militanten Antisemitismus praktizierte, für Weinberg dreifach erhöhte Gefahr und so gipfelte die Verfolgung Anfang 1953 in seiner Verhaftung unter einem konstruierten Vorwand. Nach dem Tod Stalins im März d. J. kam er zwar wieder frei, aber "es dauerte Jahre, bis Weinberg wieder zu voller Schaffenskraft zurückfand" (Mogl). Wie sich die Wechselwirkung zwischen Politik und künstlerischer Kreativität auf Weinberg auswirkte, belegt Mogl besonders an den Kompositions-Phasen seiner Streichquartette, jener Gattung mit wohl den persönlichsten musikalischen Aussagen eines Komponisten. Zwischen 1937 und 1946 schrieb Weinberg sechs Quartette. Während der Phase der Anfeindungen und Verfolgung entstand kein Streichquartett. Erst ab 1957, als die Repression allmählich nachließ, komponierte er weitere elf Werke dieser Gattung. Dann genoss er in der sowjetischen Musikwelt auch zunehmend Anerkennung und erhielt sogar namhafte Preise. Weinbergs Oeuvre umfasst insgesamt 154 Werke mit Opuszahlen, daneben eine weitere Reihe von Kompositionen, deren teils schwierige Quellenlage Verena Mogl ausführlich darlegt. Neben zahlreicher Kammermusik finden sich unter Weinbergs Werken eine Reihe von Instrumentalkonzerten und allein 21 vollendete Sinfonien sowie 4 Kammersinfonien. Zentrale Werke unterzieht Mogl in ihrem Buch ausführlicher Analysen, was beim Hören und Studieren als willkommene Handreichung dienlich sein kann. Dem "unerhörten Meisterwerk" Weinbergs, der Passagierin, widmet Mogl auf rund 80 Seiten den breitesten Raum. Ihre Darstellung umfasst die Entstehungsgeschichte des Librettos und dessen Vorlage (einem romanhaften Bericht der polnischen Auschwitzüberlebenden Zofia Posmysz). In eingehenden Analysen werden die kompositorischen Aspekte der Oper erläutert wie Motivstruktur und Zitiertechnik. Weinbergs immense Varietät im Verwenden der jeweils der szenischen Situation angepassten Stile arbeitet die Verfasserin anschaulich heraus. Vor allem der musikalischen Figurencharakteristik schenkt sie große Aufmerksamkeit und stellt ihre Ergebnisse so plastisch dar, dass beim Lesen ein lebendiger Eindruck der jeweiligen Szenen entsteht. Im 2. Akt der Passagierin geben die im Frauenblock gefangenen Jüdinnen inmitten dieser eigentlichen Aussichtslosigkeit des Lageralltags ihrer Sehnsucht nach Freiheit anrührend Ausdruck. Sie retten sich gleichsam ins Lied als dem einzig verbliebenen Ort bewahrter Menschlichkeit. Daraus erklärt sich der Titel des Buches. Ausführlich beschreibt Mogl auch die "Nicht-Aufführungsgeschichte" der Oper in der Sowjetunion. Als Weinberg das Werk im Komponistenverband vorstellte, fiel die Bewertung der Kollegen äußerst positiv aus. Rodion Schedrin etwa nannte es das "schlichtweg hervorragendste Werk" Weinbergs. Schostakowitsch, der auch in der Zeit der Verfolgung seines Freundes stets zu Weinberg gehalten und ihn unterstützt hatte, bezeichnete diese Oper als ein Werk, "das wir dringend benötigen". Aber die sowjetischen Opernhäuser lavierten und zögerten, Die Passagierin aufzuführen. Eine bereits im Probenstadium befindliche Produktion am Prager Nationaltheater musste 1978 auf Intervention der sowjetischen Kulturbürokratie abgebrochen werden. Der Antisemitismus als teils offizielle, teils inoffizielle sowjetische Staatsdoktrin blieb virulent. So kam es erst 14 Jahre nach dem Tod Weinbergs zur Uraufführung in Bregenz in der Regie von David Pountney und unter der Leitung von Teodor Currentzis (siehe auch unsere Rezension). Verena Mogls Monografie gibt darüber hinaus auch Gelegenheit, unter Weinbergs Werken noch echte Entdeckungen zu machen. Sein umfangreiches Liedschaffen ist hierzulande bisher nahezu nicht rezipiert worden. Dabei nimmt es in seinem Schaffen einen zentralen Platz ein, denn in den Liedzyklen zumeist auf Texte polnischer Dichter verarbeitet Weinberg die Liebe und wohl auch Sehnsucht nach seiner Heimat, in die er bis zu seinem Tode 1996 außer wenigen Besuchen nicht mehr zurückgekehrt ist. Seit einigen Jahren erlebt er aber dort mit zahlreichen Aufführungen etwa beim „Warschauer Herbst“ eine regelrechte Wiedergeburt und seine Musik wird regelrecht geliebt. Verena Mogls Untersuchung von Leben und Werk lässt die Bedeutung Mieczysław Weinbergs als herausragender Komponist eindrucksvoll deutlich werden. Als wissenschaftliche Arbeit ist sie auch in den musikologischen Analysen außerordentlich gut lesbar, stilistisch ansprechend und durch übersichtliche Kapiteleinteilung bestens handhabbar. Allerdings wäre ein Stichwortverzeichnis mit Hinweisen auf die behandelten Werke und ein Personenverzeichnis hilfreich. Als Leser*in lässt sich aber bewundernd die ungemein aufwändige Recherchearbeit der Autorin nachvollziehen. Am Schluss der meisten Kapitel zieht die Verfasserin jeweils noch ein summarisches Fazit. Eine abschließende Gesamtbeurteilung vor allem des Kompositionsstils allerdings bietet sie leider nicht an. Das Buch enthält ein umfassendes und teilweise in mühsamer Eigenrecherche erstelltes den Entstehungsjahren folgendes Werkverzeichnis. Übersehen wurde darin allerdings leider, dass Weinbergs letzte Oper Der Idiot nach dem Roman Dostojewskis bereits 2013 am Mannheimer Nationaltheater unter der Leitung von Michael Sanderling szenisch uraufgeführt (siehe auch unsere Rezension) und in der folgenden Spielzeit auch vom Oldenburgischen Staatstheater erfolgreich produziert wurde (siehe auch unsere Rezension). Auch geht das Buch leider auf dieses ebenfalls bedeutende Werk Weinbergs aus dem Jahre 1986 so gut wie nicht ein. Fazit Dennoch ist Verena Mogls Buch eine überaus lohnende Lektüre für Musikfreunde, die Mieczysław Weinberg kennenlernen möchten und ebenso für jene, die mit seiner Musik schon mehr vertraut sind. Beide werden diese Monografie gleichermaßen mit großem Gewinn lesen. (Oktober 2019)
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