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Musikfestspiele
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Bregenzer Festspiele 2010

Die Passagierin

Oper in zwei Akten, acht Bildern und einem Epilog
Libretto von Alexander Medwedew
nach der gleichnamigen Novelle von Zofia Posmysz Musik von Mieczyslaw Weinberg

in deutscher und russischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2 h 15' (eine Pause)

Szenische Uraufführung
Premiere im Festspielhaus Bregenz am 21. Juli 2010

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Bregenzer Festspiele
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In der Hölle der Erinnerung

Von Joachim Lange / Bühnenfotos von Karl Forster und andereart

Die Freiluftspektakel auf der Seebühne in Bregenz sind das eine. Die örtliche Tourismuswirtschaft müsste die Festspiele erfinden, wenn es sie nicht schon gäbe. Und weil von 28 Vorstellungen im Schnitt nur 1,8 wegen Regen tatsächlich mal ausfallen, lohnt sich das Ganze auch. Doch intellektueller Hochmut ist fehl am Platze, denn mehr oder weniger ernsthafte Versuche, die große massentaugliche Show mit dem Genre Oper zu vereinbaren, sind diese auf ein spektakuläres Bühnenbild setzenden Inszenierungen allemal. Wie gerade die Aida aus dem vorigen Jahr (unsere Rezension). Zu Füßen einer zerborstenen Freiheitsstatue, mit Wasserballett, Goldelefanten und einem tragischen Liebespaar, das am Ende in die luftige (Baukran-)Höhe entschwebt. Diese Produktionen am See laufen immer zwei Jahre – sie sind die Cash-Cow der Festspiele. Der finanzielle Spielraum, der damit eröffnet wird, den nutzt der Festspielchef David Pountney seit Jahren, um das Ambitionierte, Außergewöhnliche zu finanzieren.


Vergrößerung in neuem Fenster Mieczyslaw Weinberg (Foto: Olga Rachalskaya)

Der diesjährige Festspielschwerpunkt ist dem 1919 in Polen geborenen und 1996 in Moskau verstorbenen, nahezu vergessenen Schostakowitsch-Schüler Mieczyslaw Weinberg gewidmet. 1941 entkam er vor den Deutschen in die Sowjetunion, während Eltern und Schwester den Nazis zum Opfer fielen. In Moskau geriet er als Jude dann nach Kriegsende in den antisemitischen Strudel. Nur Schostakowitschs Einsatz und Stalins Tod 1953 bewahrten ihn vor dem Schlimmsten. Weinbergs Leben war also mit so gut wie allen großen Verwerfungen des zwanzigsten Jahrhunderts verwoben – vom Holocaust bis Gulag.


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Librettistin Zofia Posmysz zwischen Dirigent Teodor Currentzis (l.) und Regisseur David Pountney (Foto: andereart)

Mit der 1968 vollendeten und erst vor vier Jahren in Moskau konzertant uraufgeführten Oper Die Passagierin wurde jetzt der aktuelle Festspielschwerpunkt, der Weinberg gewidmet ist, eröffnet. Und die hat es nach wie vor in sich. Jedoch nicht, weil hier eine unbekannte Musikmoderne das Publikum irritieren würde. Weinbergs Musik bleibt einer theatertauglichen, emotional ausschwingenden, erzählenden Tonalität verpflichtet. Seine Musik ist Janaceks Aus einem Totenhaus, vor allem aber der seines Mentors Schostakowitsch verpflichtet. Weinberg durchsetzt lakonisches Parlando mit nahezu unverstelltem Pathos, pendelt zwischen Zitaten und schlichten Liedern. Er schert sich zwar wenig um die Gebote einer neuerungsverpflichteten Avantgarde, erspart sich aber auch jeglichen Umweg in Richtung Publikum. Dass Weinbergs bühnenwirksame Musik auch im Bregenzer Festspielhaus direkt „ankommt“, dafür sorgt der junge, seit 2003 als Chefdirigent im fernen Novosibirsk wirkende Grieche Teodor Currentzis am Pult der Wiener Symphoniker mit vehementem Einsatz und seiner Affinität zur russischen Musik auch des 20. Jahrhunderts. Überhaupt ist die Qualität, die die Wiener Symphoniker, das gesamte Protagonisten-Ensemble sowie der wirkungsvoll eingesetzte Chor bei dieser szenischen Uraufführung an den Tag legen, diese Anlass in jeder Hinsicht angemessen und höchst überzeugend!


Vergrößerung in neuem Fenster Walter und Lisa an Bord

Bei der Passagierin ist die Geschichte die Herausforderung und das Problem. Sie beantwortet nämlich die heikle Frage, ob der zivilisatorische Jahrhundertbruch namens Auschwitz ganz konkret auf der Bühne darstellbar ist, mit einem uneingeschränkten „Ja“. Alexander Medwedews von Ulrike Patows für die deutschen Rollen im Stück ins Deutsche übersetztes Libretto basiert auf den Erinnerungen der Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz. Es war ein berührender Moment, als das Premierenpublikum der alten Dame, mit der das Produktionsteam unter Leitung von Regisseur David Pountney gemeinsam Auschwitz besucht hat, stehend applaudierte. In der Oper befinden sich Lisa (Michelle Breedt wechselt mit beeindruckender Wandlungsfähigkeit zwischen ihrer Gegenwart und der verdrängten Vergangenheit) und ihr Mann, der Diplomat Walter (Roberto Saccà in bester Form und höchst wortverständlich), Ende der 50er Jahre auf einer Überfahrt nach Südamerika, um dort einen neuen Posten anzutreten. An Bord begegnet ihr eine Passagierin, die sie schlagartig mit ihrer, auch ihrem Mann bisher verschwiegenen Vergangenheit konfrontiert.


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Auf Deck wird getanzt

Lisa war nämlich KZ-Aufseherin in Auschwitz und meint in der Fremden jene Martha (mit ernster Leidenschaft und eloquenter Präsenz: Elena Kelessidi) zu erkennen, die sie für tot hielt, die aber offensichtlich doch dem Vernichtungslager entkommen ist und nun ihre bürgerliche Nachkriegs-Existenz infrage zu stellen droht. Unter dem weißen Deck des angedeuteten Hochseeliners mit all den weiß gekleideten Menschen mit ihren weiß gewaschenen Westen öffnet sich so plötzlich der Abgrund des Grauens unter dieser Oberfläche. Mit zwei Rampen und einer auf Schienen nach vorn rollenden Übernachtungsbaracke. Mit diesem metaphorischen Realismus von Johan Engels eindrucksvoller Doppelbühne aus Gegenwart und Vergangenheit, wird der Versuch der Verdrängung und dessen Scheitern vor allem der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft frappierend in einen Raum übersetzt.


Vergrößerung in neuem Fenster Der Vergangenheit entkommt Lisa nicht

In seinem heiklen Balanceakt, das Ungeheuerliche der Menschenvernichtung in der ganzen Banalität seines Grauens abzubilden, überzieht Pountney eigentlich nur mit dem Entleeren der Verbrennungsöfen. Jene Passagierin, diese Martha, die eben doch überlebt hat, stößt Lisa schließlich in die Hölle ihrer eigenen Vergangenheit zurück.

Die Passagierin ist ein Musiktheater Monument gegen das Vergessen. Und leider, längst keineswegs überflüssig. Sie bezieht ihre Überzeugungskraft aus einer spürbaren Authentizität ebenso wie aus der Verknüpfung von Opfer- und Täterperspektive. Vom Kampf um das pure Überleben und einen Rest Menschlichkeit auf der einen Seite. Und der Fassungslosigkeit der Aufseherin über den Hass in den Augen ihrer Opfer auf der anderen. Das eigentlich Perverse ist nämlich deren Wunsch nach einer Art Dankbarkeit der Opfer, wenn sie nicht sofort für die Gaskammer selektiert wurden. Für diese Produktion ist eine Übernahme nach Warschau, London und Madrid, aber auch nach Tel Aviv, Housten und New York vorgesehen. Bei wünschenswerten Folgeinszenierungen würden einige Striche die Bühnenwirksamkeit sicher noch steigern.


FAZIT

Den Bregenzer Festspielen ist mit der szenischen Erstaufführung der Auschwitz-Oper Die Passagierin von Mieczylaw Weinberg eine szenisch und musikalisch eindrucksvolle Eröffnung gelungen, die obendrein einem zu Unrecht vergessenen Komponisten Gerechtigkeit widerfahren lässt.




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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Teodor Currentzis

Regie
David Pountney

Bühne
Johan Engels

Kostüme
Marie-Jeanne Lecca

Licht
Fabrice Kebour

Chor
Lukáš Vasilek



Prager Philharmonischer Chor

Bühnenmusik in Kooperation
mit dem Vorarlberger
Landeskonservatorium

Wiener Symphoniker


Solisten

Martha (Polin, Gefangene in Auschwitz)
Elena Kelessidi

Tadeusz (Marthas Verlobter)
Artur Rucinski

Katja (russische Partisanin)
Svetlana Doneva

Krzystina (Polin, Gefangene)
Angelica Voje

Vlasta (Tschechin, Gefangene)
Elzbieta Wróblewska

Hannah (Jüdin, Gefangene)
Agnieszka Rehlis

Ivette (Französin, Gefangene)
Talia Or

Alte Gefangene
Helen Field

Bronka (ältere Gefangene)
Liuba Sokolova

Lisa
Michelle Breedt

Walter (Lisas Mann)
Roberto Saccà

1. SS-Mann
Tobias Hächler

2. SS-Mann
Wilfried Staber

3. SS-Mann
David Danholt

Älterer Passagier / Steward
Richard Angas

Oberaufseherin / Kapo
Heide Capovilla



Weitere Informationen
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(Homepage)




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