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Der andere Blick

Anlässlich der Rusalka-Inszenierung im MiR (Gelsenkirchen) sprach Ursula Decker-Bönniger mit Regisseurin Elisabeth Stöppler über Lesarten der Inszenierung, ihren Werdegang und ihre Arbeit


„Ich bin infiziert“, äußert eine Opernbesucherin anlässlich des Publikumsgespräches, zu dem sich am Ende der 5. Rusalka-Vorstellung einige Interessierte zusammengefunden haben. Es sei ihre erste Stöppler-Inszenierung. Sie habe alle bisherigen Vorstellungen angesehen. Immer wieder sei sie berührt, entdecke Neues. Dabei strahlt sie. Die Begeisterung ist übergeschwappt. Anders als ich hat sie das Ende nicht als tragisch empfunden. Vielmehr öffne sich der Raum, sei in goldfarbenes Sonnenlicht getaucht. Rusalka trete zurück aus der leidvollen Erfahrung und Auseinandersetzung, nehme Distanz auf. Nun könne etwas Neues für sie beginnen.

Für dieses wiederkehrende Opernerlebnis der besonderen Art zeichnet eine talentierte, selbstbewusste Regisseurin verantwortlich, die im Januar dieses Jahres 35 Jahre alt geworden ist. Ihr Name ist Elisabeth Stöppler. Das Inszenieren von Weltanschauungen lehnt sie ab. Ein Regiekonzept zu erstellen, heißt, sich mit Formen und Ästhetik zu beschäftigen. Und doch zeigen ihre Inszenierungen einen anderen, für uns Zuschauer mitunter verwirrenden Blick. Dazu gehört ein einfühlsames Spiel von künstlerischer Darstellung und erfahrbarer Lebenswirklichkeit ebenso wie die detaillierte Analyse des Ausdrucks, Gefühlsgehaltes der Musik. Ob klangfarbliche, rhythmische oder harmonische Veränderungen, jeder Takt, jede Phrase findet seine Umsetzung, geht in das Regiekonzept ein. Stöpplers vielschichtige Inszenierungen berühren. Ihr gradliniger Berufsweg erstaunt: Mit 14 ist sie Jungstudentin für Klavier an der Musikhochschule Hannover bei Prof. Konrad Meister. Nach dem Abitur folgt ein einjähriger Schauspielstudienaufenthalt in Rom. Anschließend studiert sie in Hamburg Musiktheaterregie u.a. bei Götz Friedrich und Peter Konwitschny, ist von 2001 bis 2003 ist sie Stipendiatin der Akademie Musiktheater Heute.

Für Stöppler sollte man die Kunst Regie zu führen wie ein Handwerk erlernen. Musik lesen wie eine Sprache, zuhören, viel sehen und Ideen sammeln. Ihr erstes Engagement, die Diplominszenierung von Rossinis Il barbiere di Siviglia im Jahre 2003, habe sie bekommen, weil sie in dem Theater zuvor als Hospitantin, Regie-Assistentin gearbeitet habe. „Ich bin mehr als meine Studienkollegen hinausgegangen, habe mich hingesetzt, zugeguckt und bei Leuten hospitiert, das Handwerk erlernt von der Kaffee kochenden, kokettierenden Assistentin bis hin zum Mitschreiber, Co-Regie-Assistenten.“ Dazu gehöre ihrer Meinung nach auch die Chance, Fehler zu machen, als freier Jungregisseur z.B. ein Inszenierungsangebot über mehrere Spielzeiten zu bekommen und nicht Angst haben zu müssen, nach der ersten, schlecht gelaufenen Inszenierung fallen gelassen zu werden.

Inszenieren bedeutet immer, sich dem Blick der anderen zu stellen.

„Mut und Selbstbewusstsein braucht man, zu dem zu stehen, wie man ist; das im Beruf zu leben und es als Glück zu erleben“, kommentiert die eigenwillige Regisseurin das Ringen um künstlerische Selbstbehauptung und Finden des eigenen Wegs. Und unter den vielschichtigen, möglichen Lesarten der Rusalka-Inszenierung – ihre letzte Opernproduktion im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen - scheint durch, wie mühe- und leidvoll es für einen freiheitsliebenden Menschen ist, sich immer wieder diesem „Blick der Anderen“ zu stellen, mit ihm auseinander zu setzen und vom Druck der Öffentlichkeit, der Erwartungshaltung abzugrenzen.

Von Lehrern wie Konwitschny habe sie gelernt, die emotionale Öffnung durch Musik als Möglichkeit zu nutzen, Fragen zu stellen, zu hinterfragen, Oper als Grundmuster menschlichen Miteinanders und als Bewusstmachen elementarer Lebensfragen zu interpretieren. Im Interview führt sie aus, wie die klare Gestalt, die perfekten Proportionen der Oper, die Zeitverläufe es dem Zuhörer leicht machen, die heute aktueller denn je scheinende Thematik von „Freiheit, Sehnsucht, Sehnsucht sich zu spüren, jemand Anderen, Begegnung“ nachzuvollziehen. „Ich finde, dass sind emanzipatorische, elementare Fragen, die sich ab der Pubertät Jedem, ob Mann oder Frau, homo- oder heterosexuell stellen. Und trotzdem sind es die schwersten, dieses Reduziert-Sein-Auf-Sich-Selbst, Geliebt-Werden und Lieben, und dann auch diese Konstellation, dass man zurückgehalten wird von der einen Seite und dass man bricht, um frei zu sein.“

Sollte das, was sich in der Oper auf das Zwitterwesen Rusalka bezieht, für den Prinzen gleichermaßen gelten? Eine solche konzeptionelle Gleichberechtigung erstaunt. Stöppler dazu: „Auch er (der Prinz) ist ja eine Figur, die eine Position bekleiden wird, die die anderen oder das Schicksal als Lebensweg für ihn auserwählt haben. Du bist der Mann und nicht das Reh.“ Rusalka dagegen, die „beratungsresistente, grenzenlose Fatalistin“, muss für ihren Wunsch verstummen. Sie wird bestraft und vergewaltigt. „Diese Frau ist gefährdet.(...) Sie will sich nicht verbergen, sie will raus, sie möchte sich im besten Sinne auflösen in jemanden. Es geht nicht um Schutz bei dieser Figur und es geht auch nicht um etwas Konstituierendes. Es geht vielmehr darum einen Bewusstheitszustand, eine innere Freiheit zu erreichen, alle Mechanismen zu sprengen.“

„Meine Arbeit wird immer nur so gut wie die Proben.“

Stöppler gibt jeder Opernfigur ein eigenes Gesicht, stellt sie kunstvoll konstituiert und doch aus der Perspektive des subjektiven Erlebens heraus dar. Anders als in den erfolgreichen Inszenierungen der drei Britten-Werke im MiR (Peter Grimes 2009, Gloriana 2010, War Requiem 2011) geschieht dies bei Rusalka in einer der Dvorak-Oper angemessenen, kammermusikalischen Privatheit - offen, berührend, geradezu intim und gegen den Strich gebürstet.

Es gibt eine Nacktszene, die in der Öffentlichkeit mit viel Aufsehen und Ablehnung begleitet wurde. Nacktdarstellungen von Frauen sind in Opern geläufig geworden, scheinen niemanden mehr zu erregen. Hier wagt es ein Sänger, ein Mann, sich nackt auf der Bühne zu zeigen. Und wer genauer zusieht, erkennt die Andersartigkeit der Darstellung. Stöppler zeigt kein Zur Schau-Stellen, sondern ein Sich-Öffnen, präsentiert den Mann, den Prinzen von seiner verletzlichen, menschlichen Seite. „Ich fand es wichtig, dass es den Mann gibt, der sich hingibt und die Frau, die nimmt. Dass die Frau sagt, ‚ich will lieben, ich will nicht nur geliebt werden'. Dass der Prinz sagt, ‚bitte, liebe mich'.“ Dass für das Proben einer solchen Schamgrenzen brechenden Darstellung eine vertrauensvolle, über mehrere Spielzeiten gewachsene Zusammenarbeit mit den Gesangssolisten und ein besonderer Teamgeist gehöre, verstehe sich von selbst, meint die Regisseurin. Nicht nur kenne sie den Darsteller des Prinzen, Lars-Oliver Rühl, seit ihren drei Britten-Produktionen. Schon ein halbes Jahr vor Probenbeginn habe sie ihn in ihre Überlegungen eingeweiht. Die Proben seien „total irritierend, schön, fragil“ gewesen. Ebenso wichtig sei der vertrauensvolle Umgang der Solisten miteinander. „Petra Schmidt, die im MiR die Rolle der Rusalka verkörpert, und Lars-Oliver Rühl sind wunderbar miteinander umgegangen. Sie haben sich durch den Prozess bis in die Vorstellung getragen.“ Was Stöppler hier harmlos mit dem Begriff „Prozess“ beschreibt, ist wieder die in Frage stellende Auseinandersetzung mit dem Blick der anderen, ihre wohlmeinenden, ermutigenden oder warnenden Kommentare.

„Meine Arbeit wird immer nur so gut wie die Proben,“ stellt Stöppler lapidar dazu fest. Nebenrollen wie z.B. Küchenjunge und Heger, die in anderen Inszenierungen gestrichen werden, sind von Anfang an geplant und entwickeln sich in den Proben weiter. „Sie sind mir wichtig. Auch Nebenfiguren haben ihre Funktion in dem Rusalka-Schema. Der Küchenjunge ist der zögernde, sanfte schwache Mann, der Junge, der zu dem Nixenfetisch gemacht wird, wovor Rusalka fliehen kann, während der Heger der Macho-Mann par excellence ist - ein Mann, der mit Frauen über Gewalt, Unverschämtheit und einer Form von Unbedarftheit umgeht.“

Musiktheater muss berühren, verwirren

Aus Publikumssicht sollte Oper mit Stimme, Licht, Tanz, Musik, Kostümen und Bühnenbild im besten Falle ein ästhetisches Konglomerat, ein Gesamtkunstwerk aus detailliert vernetzten, bildhaften Assoziationsfeldern sein. Bei Stöppler hat nicht nur jede Figur, sondern auch jede Lichteinstellung, jedes Requisit, Bühnen- und Kostümdetail seine Bedeutung. Man ist überfordert, beim einem einmaligen Theaterbesuch alle Einzelheiten des analytisch durchdrungenen Märchens der kleinen Seejungfrau zu erfassen, stößt an seine Grenzen. „Farbsymbolik wie ‚Weiß wie Schnee, Schwarz wie Ebenholz, Rot wie Blut'“, ob der Wassermann als Zeichen häuslicher Privatheit seine Schuhe anzieht, wer sich im Scheinwerfermond sonnt oder jemanden damit verfolgt und warum, ob Jezibaba mit Zigarette, Perücke, Stola und Schuhen Rusalka Mittel an die Hand gibt, die ihrer Meinung nach zur Rolle der Frau gehören usw.

„Überall steht, der Wassermann trage einen Blaumann. Dabei ist es ein blauer Anzug mit Weste, Krawatte und Strickjäckchen.“ Und hat man eigentlich verstanden, dass Rusalka ein Männerhemd trägt, werde ich gefragt. Das Hemd, das sie am Anfang trage, sei viel zu lang und spiele auf die Verbindung und das Treffen mit dem Prinzen an. Für Petra Schmidt und sie sei es sehr wichtig, dass Rusalka quasi „seine Haut“ trage. Ältere wie mich erinnert das viel zu lange, unförmige Hemd eher an die naturverbundene, schillernde Metrosexualität der 1970er Jahre. Mein Kopfkino beginnt, mir die eigene Rezeptionshaltung vor Augen zu führen. Ich bin verwirrt. Was ist mir alles bei der Premiere entgangen? Wie oft sollte man eine Inszenierung sehen, um sich ein einigermaßen objektives Bild machen zu können?

Die Hauptleistung des menschlichen Gehirns ist seine Assoziationsfähigkeit. Stöpplers Inszenierungen fordern diese Fähigkeit in besonderer Weise. Ihre Inszenierungen erzählen nicht nur viele Geschichten auf einmal, versuchen nicht nur Fragen zu stellen, sondern wollen das Publikum emotional ansprechen. Wie schafft man es, eine Opernaufführung als berührende, lebendig inszenierte Erfahrung erlebbar zu machen? „Aufrichtig instrumentalisieren“, nennt die Regisseurin ihr Bemühen, die Darsteller dazu zu bewegen, sich selbst einzubringen. „Gib von dir. Und wir setzen, deine Art sich zu bewegen, deine Art von Körperlichkeit, deine Art freiheitlicher Umgang mit deinem Körper ein.“ Und wenn das gelingt wie in der Rusalka-Inszenierung im MiR hat es in der Tat eine berührende, geradezu verwirrende Wirkung.

Hinzu kommt etwas, was Stöppler „die vierte Wand einreißen, den Orchestergraben überwinden“ nennt: dass bspw. der Spannungsbogen einer Inszenierung nicht durch Applaus unterbrochen werden sollte. „Seit ich denken kann rührt mich im Theater die Vereinbarung des Zuhörens und Zuschauens. Erst in der Pause wird geredet. Auch das Klatschen ist geordnet.“ Um diesen Moment der Stille nutzen zu können, sollte unmittelbar auf den Schlussakkord die nächste Phrase, die nächste Attaca folgen.

Überforderung als Stilmittel

„Ich würde nie versuchen, die Wirklichkeit abzubilden, sondern es geht um menschliche Bezüge, Zusammenhänge, Beziehungen. So ein Abend in formvollendeten, historischen Kostümen finde ich falsch.“ Musiktheater ist für Stöppler „ein Schwamm für die Zeit, in der es geschrieben ist“. „Freilegen, wildern wie in einem Garten“ nennt sie die intellektuell reflektierende, faszinierende Auseinandersetzung mit der Gestalt der Musik, der Textauswahl, dem Timing der Szenen. Für sie werde Musiktheater durch die eigene Arbeit und die von Kollegen lebendig. Gelassen reagiert sie auf den Vorwurf, zu viele Geschichten auf einmal zu erzählen. „Ich nehme offenbar auch in den Arbeiten anderer viele verschiedene Dingen wahr und liebe die Überforderung, fühle mich selber wohler, als wenn mir alles klar und eindimensional dargelegt wird.“ Wichtig sei ihr, nicht nur kunstvoll, detailliert und reflektiert zu erzählen, sondern auch mittels Musik die Distanz zum Zuschauer aufzubrechen.

Eine Lieblingsoper hat die Regisseurin nicht. Tristan und Isolde würde sie gern einmal in Szene setzen. Ambitioniertes Musiktheater habe sie schon als Kind und Jugendliche fasziniert. „Ich kann mich an eine Don Giovanni-Inszenierung, die ich als Jugendliche in Osnabrück sah, erinnern, in der eine junge Frau in Jeans durch die Szenerie lief. Sie hat im Grunde genommen wie eine von uns geguckt, was da los war. Und griff auch mal in das Bühnengeschehen ein, hat z.B. eine Frau mal in den Arm genommen oder Don Giovanni auch mal was geklaut.“ Nachhaltig beeindruckt habe sie auch die Bayreuther Tristan-Inszenierung von Heiner Müller im Jahre 1993, vor allem „dieser im Sand versunkene dritte Akt“ oder die Intolleranza-Inzenierung Benedikt von Peters 2011 in Hannover – ein spektakuläres, intensives Bühnenexperiment, bei dem das Publikum zu etwa 200 Leuten auf der Bühne zwischen den Sängern saß und das Orchester stereophon in der Unter- und Oberbühne aufgestellt war.

Stöpplers Interesse an der romantischen Oper des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ist „die Schwärze“, „diese Integration von Tod, Vergänglichkeit, Abgrund und Leben bis zum Zenith.“ In vielen Werken werden Frauen zum Schluss wahnsinnig oder gehen in die Handlungsunfähigkeit. Stöpplers Blick auf Rusalka ist anders: „Rusalka geht nicht in den Himmel im Sinne von 'sie wird wahnsinnig und stirbt', sondern sie kann gehen, den Raum ihres Martyriums verlassen.“

(August 2012)


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Foto Philippe Jordan

Foto: privat



Elisabeth Stöppler hat am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier Benjamin Brittens Opern Peter Grimes (2009) und Gloriana (2010) inszeniert sowie das War Requiem szenisch interpretiert (2011). Im Sommer 2012 bereitet sie an der Dresdner Semperoper diePremiere von Hans Werner Henzes We come to the River vor.



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