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Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt
In seinem sozialkritischen Märchen Das Mädchen mit den Schwefelhölzern beschreibt Hans Christian Andersen, wie ein armes Mädchen am Silvesterabend (in der Oper wird daraus der Weihnachtsabend) in der Stadt umherirrt, wie sie vor Kälte und Erfrierungen zu halluzinieren beginnt, wie sie die eigentlich zum Verkauf bestimmten Streichhölzer einzeln anzündet, um sich die Vorstellung von Wärme und Geborgenheit in Erinnerung zu rufen, und letztendlich am Neujahrsmorgen erfroren aufgefunden wird. Helmut Lachenmann, der in der Tradition Schönbergs, Weberns und Nonos komponiert, nahm in den 1990er Jahren dieses Märchen als Ausgangspunkt für sein bisher einziges, spektakuläres Musiktheaterwerk – eine Oper, deren Inszenierung sich an herkömmlichen Häusern aufgrund des experimentellen Charakters und der besonderen Aufführungsbedingungen geradezu zu widersetzen scheint.
Komponieren bedeutet für Lachenmann vor allem „Nachdenken“. Sein als „Musik mit Bildern“ bezeichnetes Werk erfordert ein Orchester mit über 100 in der Interpretation neuer Musik und abenteuerlichster Spielweisen geübter Musiker. Sieben Jahre hat er an der Komposition gearbeitet, zweimal musste die 1997 an der Hamburger Staatsoper stattfindende Uraufführung verschoben werden. Kennzeichnend für seine schon in den 1960er Jahren entwickelte Ästhetik der „musique concrète instrumentale“ sind die vielfältigen, auch Zitate einbeziehenden Geräusch- und Klangwelten des „Zauberkastens“ Orchester. Ob Akkordschläge aneinandergereiht werden, ob geflüstert, gestrichen, geklopft, gewischt, gehaucht oder gekratzt wird, ein Orchesterinstrument kann Kälte, Schneeflocke, Hitze und Königin der Nacht zugleich sein. Auch das Instrument Stimme ist in einzelne Laute, nicht zu identifizierende Worte, isolierte Klänge und Geräusche zerlegt. Zugleich ist der Inhalt des Märchens um Zitate aus einem Brief der RAF-Terroristin und Pfarrerstochter Gudrun Ensslin ergänzt, werden somit Assoziationen an die Frankfurter Kaufhausbrände geschürt – nicht in einer in der Aufführung unmittelbar verständlichen Form, sondern quasi als Subtext, der mitgedacht wird. Hinzu kommt ein Text Leonardo da Vincis, der eine Höhle vulkanischen Ursprungs beschreibt (und damit die Feuer-Metaphorik aufgreift). Eine reale Handlung mit verschiedenen Protagonisten ergibt das nicht. Zwar gibt die Märchenhandlung die Struktur vor, aber nicht in narrativer oder theatralischer Form. Nicht die Darstellung auf der Bühne, sondern das Hören wird in den Vordergrund gerückt.
In der riesigen Bochumer Jahrhunderthalle erlebt man eindrucksvoll, wie sich dieser unglaublich differenzierte „Ozean der Klänge“ im Raum entfaltet. Robert Wilson hat als Regisseur, Bühnenbildner und Lichtdesigner für die Inszenierung dieses komplexen Gesamtkunstwerks einen unterteilten, stark ansteigenden Kasten mit streng quadratischer Grundfläche in den Raum gestellt. Oben auf der umlaufenden Galerie und damit um das Publikum herum sitzt das Riesenorchester mit den beiden Solosopranistinnen, vierfach unterteiltem Chor, Dirigent und Tontechnikern; auf etwas harten, engen und steil ansteigenden Tribünen das Publikum, den Blick auf die quadratische Spielfläche in der Mitte gerichtet: Eine neonumrandete Zauberkiste, mit in den Boden eingelassenen Leuchtstoffröhren als Neon-Hölzer und weiteren Röhren, die zu Beginn zu einer Raumskulptur aufgerichtet sind, sich aber schnell in höchste Höhen erheben und verlöschen.
Wilson stellt dem schnellen Wechsel und der Bildhaftigkeit der Musik statische, künstliche Bilder gegenüber, die auf Haltungen, Gesten, Bewegungsandeutungen reduziert sind und die Aufmerksamkeit der Protagonistin sowie die des Betrachters auf das innere Hören lenken. Zusammen mit der großartigen Schauspielerin Angela Winkler steht Wilson selbst als Performer im Bühnenviereck. Mit einer bis in die Fingerspitzen gespannten, leicht zur Seite gekrümmten Körperhaltung stellt ist die fast 70-jährige Angela Winkler, in unschuldiges Weiß gewandet und mit einer zur Seite abstehenden Kunstfrisur, die Projektionsfläche für Gudrun Ensslin wie für das Streichholzmädchen dar, während Wilson in glitzerndem, schwarzen Anzug die in ihren Gedanken aufblitzende Schattenfigur verkörpert. Ob sie sich tastend, leicht schwankend oder unmerklich auf ein paar Schuhe zu bewegt, ob sie die als Sand verrinnende Zeit betrachtet, in Gedanken Morde und Selbstmord begeht oder ihrer Großmutter begegnet, er – der Tod? ein Widergänger Mephistos? - weicht nicht von ihrer Seite, vollzieht ihre Gedanken, ohne sie zu berühren - auch nicht in Erwartung des Todes.
Wenn im Sopran kurze, an ausgestoßene Schreie erinnernde Töne erklingen, während Angela Winkler am Boden aufmerksam, ja geradezu gierig ein Neontannenbäumchen betrachtet, wenn Wilsons Licht- und Regiekunst mit viel Bühnennebel einen kleinen Eisberg aus dem Boden hochfahren lässt oder Meerlandschaften suggeriert, dann scheinen sich Außen- und Innenwelt, die gegensätzlichen Bilderwelten intensiv zu berühren, wird die Rezeption, das hörende Beobachten in besonderer Weise befruchtet. Es sind aber noch mehr die ausgezeichneten Sängerinnen und Sänger des ChorWerk Ruhr, die Instrumentalsolisten, die beiden klangschönen Sopranistinnen Hulkar Sabirova und Yuko Katako sowie die Musiker des phänomenalen hr-Sinfonieorchesters unter der punktgenauen Leitung Emilio Pomàricos, die trotz räumlicher Aufteilung mit höchster Präzision zusammenfinden und in der Bochumer Jahrhunderthalle ein Raummusikerlebnis ermöglichen, das die Differenzierung der leisen „Töne“, die zu Klang werdende soziale Kälte in den Vordergrund rückt und Musik aus Klang-Bildern entstehen lässt, die unter die Haut geht.
Schlichtweg grandios: Hier finden sich Ausnahmekünstler zusammen, die Lachemanns ästhetische Intentionen sehr eindrucksvoll umsetzen. Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Regie, Bühne, Licht
Kostüme
Mitarbeit Regie
Mitarbeit Bühne
Mitarbeit Licht
Klangregie
Einstudierung Chor
Video
Dramaturgie
Solisten
Performer
Sopran
Sopran
Shô
Piano 1
Piano 2
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- Fine -