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Ab und zu fliegt ein Zeppelin vorbeivon Stefan Schmöe / Fotos © Wonge Bergmann für die Ruhrtriennale, 2014
Warum nicht mal 100 Schafe auf die Bühne stellen? Die „Kraftzentrale“ im Landschaftspark Duisburg-Nord ist ja groß genug und hat vermutlich auch das tierfreundlichere Umfeld als ein innerstädtisches Theater für diese opernuntypische Besetzung, und die Ruhrtriennale möchte sich ja ohnehin von den üblichen Festivals abgrenzen, dazu sind 100 echte Schafe ja ganz gut geeignet. Das passende Stück hat man auch: Auf der Suche nach Opern, die woanders nicht gespielt werden (können), ist der aktuelle Intendant Heiner Goebbels auf Louis Andriessens De Materie, uraufgeführt 1989 in Amsterdam, aber noch nie in Deutschland gespielt, gestoßen. Ein ziemlich theoretisches Stück Musiktheater, das sich in vier Akten ohne Handlung mit dem Verhältnis von Geist und Materie auseinander setzt, mehr eine symphonische Kantate als Oper. Einengende Regieanweisungen seitens des Komponisten gibt’s da nicht. Warum also nicht einfach mal 100 Schafe „aus dem Raum Düsseldorf“ aufbieten, wie der Besetzungszettel mitteilt?
Um den Eventcharakter geht es dem auch Regie führenden Intendanten Goebbels natürlich nicht, sondern er sucht nach hinreichend schlüssigen Bildern für die vier Teile der Komposition, die jeweils etwa 25 Minuten dauern. Im ersten verwendet Andriessen Texte des Wissenschaftlers David van Gorlee, genannt Gorleus (1591 – 1612), in dem dieser die Existenz eines unteilbaren Atoms als Grundbaustein aller Materie postuliert (zu seiner Zeit eine Ungeheuerlichkeit), dazu Anweisungen zum Schiffbau, und die Erklärung der niederländischen Unabhängigkeit von Spanien aus dem Jahr 1581. Das stellt einen handfest pragmatischen Begriff von Materie dar mit unmittelbaren wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen, vertont in Art einer Toccata (als Ausgangsmaterial verwendet Andriessen das Es-Dur-Präludium aus Bachs Wohltemperiertem Klavier) mit hämmernden Akkorden, in denen man vordergründig eine Anspielung auf den Schiffsbau hören mag, jedenfalls sehr greifbare Materie.
Andriessen, der vom Serialismus beeinflusst ist, sich aber keiner Strömung einordnen mag, konstruiert seine Musik aus vielen, oft auch außermusikalischen Parametern, was nicht unmittelbar hörbar ist, aber als Subtext mitschwingt. Problematisch ist aber, dass der hörbare Anteil relativ wenig variiert wird (das gilt für alle vier Teile), jeder Satz daher ziemlich statisch und eben auch schnell ermüdend wirkt. Dazu kommt, dass die Aufführungsbedingungen in der riesigen Halle akustisch nicht ideal sind. An den Nachhall kann man sich noch gewöhnen, aber die Abstimmung zwischen den Orchestermusikern untereinander und den acht Chorsolisten ist heikel; immer wieder sind die Akkorde um Sekundenbruchteile auseinander – das ist wenig, aber dieses Fehlen der letzten Präzision (wie auch gelegentliche Verspieler, Einsätze in die Pause hinein) nimmt von der Schärfe. Und unter der Leitung von Peter Rundel spielt das ansonsten recht gute Ensemble Modern Orchestra doch ziemlich massig, das dürfte bei aller martialischer Fortegewalt federnder erklingen und ist – wie fast das gesamte Stück – zu laut. Die elektroakustische Verstärkung trägt das Ihrige dazu bei. De Materie wird zu einer ziemlich lärmigen Angelegenheit.
Die acht Solisten des Chorwerk Ruhr singen tapfer, aber nicht unangestrengt, von einer im Renaissancestil gestalteten Empore in entsprechend historisierenen Gewändern den Text der Plakate, die den Bruch mit der spanischen Besatzungsmacht verkünden, und von einer Kanzel auf der anderen Seite kommt der (viel zu laut verstärkte) Tenor Robin Tritschler als Gorleus hinzu. Auf der nachtblau ausgeleuchteten Bühne stehen ein paar weiße Baracken, in denen man zwischendurch die Schatten hämmernder Arbeiter sieht, und über allem schweben mehrere Zeppeline (die leitmotivisch in den nächsten Bildern wiederkehren werden). Im zweiten Bild mit einem Vision der Mystikerin Hadewijch aus dem 13. Jahrhundert, in dem es um Geist und Sexualität geht (und in dem Andriessen die Architektur der Kathedrale von Reims kompositorisch aufgreift), stehen etliche schlichte Bänke in dem nun grün beleuchteten Raum, während Hadewijch in weißem Kleid mit schwarzem Umhang wie eine Nonne erscheint – Evgeniya Sotnikova singt mit schlichtem, knabenhaftem Sopran, aber auch hier wird die recht zarte Musik zu laut, zu direkt verstärkt. Und auch hier wiederholt Andriessen das kompositorische Grundmodell arg häufig.
Etwas mehr Schwung bekommt die Aufführung im dritten Teil, der Piet Mondrian und der Künstlergruppe De Stijl zum Thema hat und sich mit Geist und Abstraktion auseinander setzt – ein streng geometrisches Bild von Mondrian (Komposition in Rot, Gelb und Blau von 1927) wird kompositorisch umgesetzt, wobei die strukturierenden schwarzen Linien ziemlich humorvoll als Boogie Woogie auskomponiert sind. In diesen scherzoartigen Bild konterkariert der Regisseur die Strenge Mondrians mit drei „chaotischen Pendeln“, Objekten aus je drei durch Gelenke miteinander verbundenen Stangen, deren Bewegungen, einmal ins Pendeln gebracht, sich nicht vorhersagen lassen. Zwei Tänzer greifen über die gesamte Länge des riesigen, jetzt hart grauen Raums den Boogie-Rhythmus auf (auch hier fehlt in den synchronen Phasen das letzte Körnchen Präzision). Vier Choristinnen singen, auch hier Akkord an Akkord gemeißelt, Texte des Mathematikers M. H. J. Schoenmakers.
Dann endlich, im letzten, vierten Bild, kommen dann die Schafe. Zunächst gelegentlich blökend, aber Andriessens hier getragen ruhige Akkordwechsel bewegen sie offenbar zum Schweigen, und wie die Herde sich so über die Bühne bewegt, von einem Zeppelin umkreist, das hat etwas durchaus Meditatives. Die Choristen singen Zeilen aus Sonetten von Willem Klos (1859 – 1938) über Tod und Vergänglichkeit. Am Ende, wenn die Schafe verschwunden sind, stellt Goebbels ein Foto von der berühmten Solvay-Konferenz 1911 in Brüssel nach, auf der sich die wichtigsten Physiker ihrer Zeit versammelten – darunter (als einzige Frau) Marie Curie. Es werden mehrere Texte von ihr rezitiert, in denen sie den Tod ihres Mannes Pierre betrauert, an dessen wissenschaftliche Leistungen erinnert. Es geht um Materie und deren Vergänglichkeit. Ob es dazu wirklich der 100 Schafe aus dem Raum Düsseldorf bedurft hätte?
Es hat wohl seinen Grund, dass De Materie den Sprung ins Repertoire nicht geschafft hat. Heiner Goebbels, den 100 Schafen und den Musikern gelingt es jedenfalls nur in Ansätzen, Louis Andriessens verkopftem, nicht uninteressantem, aber doch arg sperrigem und streckenweise auch langatmigem Werk theatralisches Leben einzuhauchen.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Regie
Bühne, Licht
Kostüme
Klangregie
Einstudierung Chor
Dramaturgie
Solisten
Gorleus
Hadewijch
Tänzerin / Madame Curie
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- Fine -