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Nicht nur nachdenklich stimmende Tönevon Ursula Decker-Bönniger / Foto © Ruhrtriennale, Michael Kneffel, 2014
Zu den herausragenden Ereignissen der Ruhrtriennale 2014 gehört das Konzert in der Jahrhunderthalle mit dem hr-Sinfonieorchester. Wie im vergangenen Jahr - diesmal unter der Leitung von Sylvain Cambreling - zeigt das Orchester seine Kunst, die schwierige Klangwelt des 20. Jahrhunderts ausdrucksstark und spannungsvoll erfahrbar zu machen. Das Konzert ist dem in diesem Jahr verstorbenen Gründungsintendanten der Ruhrtriennale Gérard Mortier gewidmet, der im Programmheft mit den Worten zitiert wird: "Jedes Leben setzt sich irgendwo fort: mein Vater und meine Mutter in mir; und ich in dem, was ich realisiert habe. Das bedeutet für mich Auferstehung. Paradiese interessieren mich nicht".
Drei thematisch verwandte, musikalisch jedoch recht unterschiedliche Werke werden gegenübergestellt. Zunächst erklingt das 5-sätzige Orchesterwerk Et exspecto ressurectionem mortuorum von Olivier Messiaen. 1965 in der Kathedrale von Chartres uraufgeführt, ist das Werk eine Auftragskomposition des damaligen französischen Kultusministers zur Erinnerung an die Toten der beiden Weltkriege. Das Orchester besteht aus 3 Ensembles: Holz-, Blechbläser und Schlagwerk. Die Streicher fehlen. Als Satzbezeichnung zitiert Messiaen apokalyptische Stellen aus der Bibel z.B. den Psalm "aus den Tiefen der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir" oder die freudige Auferstehung aus der Offenbarung des Apostel Johannes. Dirigent Sylvain Cambreling zelebriert die Musik Messiaens ohne übertriebenes Pathos. Ob klanggewaltig und erschütternd das tiefe Blech oder schrill, metallen gefärbtes Schlagwerk, die Musiker gestalten jeden Ton, jeden Akkord, jeden Klang meisterhaft homogen in Klang und Ausdruck, und Cambreling lässt dem Hörer Zeit, dem Verklingen im Raum nachzuspüren. Die Zeit scheint still zu stehen. Erst im letzten Satz erklingt ein Metrum in verschiedenen Farben, beginnt eine immer wieder in Tremoli, Einzelklangfarben, melodische Auf- und Abstiege oder starre Cluster zurückfallende riesige Orchesterwelle zu wachsen, um dann am Ende wie abrupt eingefroren abzubrechen.
Mit dem anschließenden Orchesterwerk Luc Ferraris folgt die eigentliche Entdeckung des Abends. Ferrari, 1929 in Paris geboren, ist den meisten bekannt als Musique Concrète-Künstler und elektro-akustischer Experimentator. Sein Werk Histoire du plaisir et de la désolation entstand 1979/81 und ist für großes Orchester komponiert. Warum dieses faszinierende Werk so gut wie nie auf deutschen Konzertbühnen zu hören ist, erstaunt und überrascht, denn eigentlich arbeitete Ferrari schon in den 1960er- und 1970er-Jahren mehrfach in Deutschland und dürfte - zumindest in Köln - kein Unbekannter sein. Ca. 100 Musiker zaubern unterschiedlichste Stimmungsbilder, die unvorhergesehen beginnen und eben so plötzlich wieder aufhören, sich überschneiden oder aufeinanderfolgen. Während im ersten Satz Harmonie du diable der sogenannte "Teufel in der Musik", ein in der klassischen Harmonielehre jahrhundertelang verbotenes Intervall der übermäßigen Quart bzw. verminderten Quinte geradezu plastisch in Szene gesetzt wird, verdichtet sich der Dialog von "Plaisir" und "Désir" im zweiten Satz. Man wird an Collage, Film und unterschiedlichste Schnitttechniken erinnert. Und während Cambreling unerbittlich das schnelle Ausgangsmetrum beibehält, scheinen die verschiedenen Klanggesten zu plastischen Szenen mit Vorder- und Hintergrund zusammenzuwachsen. Suspense blitzt auf. Im letzten Satz Ronde de la désolation stoßen leichte, tänzerische Passagen auf düstere, mitunter karikierend wirkende Störenfriede. Auch hier lassen Cambreling und das hr-Sinfonieorchester keinerlei resignative Schwerfälligkeit aufkommen. Ferraris Klangsprache wirkt eher wie eine theatrale, filmische Illustration oder Inszenierung, in dem die Orchesterinstrumente die Protagonisten sind.
Nach der Pause folgte Bernd Alois Zimmermanns "ekklesiastische Aktion" Ich wandte mich und sah alles Unrecht, das geschah unter der Sonne, die Zimmermann Anfang August 1970 vollendete, kurz bevor er mit 52 Jahren den Freitod wählte. Beißend wird hier mit theologischen Heilsversprechungen abgerechnet. Das Werk ist für 2 Sprecher, Bass-Solo und Orchester komponiert. Während Schauspieler André Jung Passagen aus dem Buch Kohelet des Alten Testaments vortrug, zerlegte Bassbariton Dietrich Henschel die Textsilben in expressive, differenzierte Lautkonstellationen - ähnlich einem langgezogenen, künstlichen Aufschrei. Thomas Thieme stellte den markanten, greisen Großinquisitor aus Dostojewskis Roman "Die Brüder Karamasow" dar, der in seinem Monolog den auf die Erde zurückgekehrten Gottessohn ketzerisch zur Rede stellt. Später fällt man sich ins Wort, treten groteske Aktionen wie wütendes Aufstampfen, kämpferische Boxposen hinzu. Selbst der Dirigent hält inne, kniet leicht gebeugt am Pult nieder, flüstert unverständlich, scheint leise vor sich hin zu beten. Unmittelbar im Anschluss intonieren die Bläser den Bach-Choral "Es ist genug, Herr, wenn es dir gefällt, so spann mich doch aus". Ein Paukenschlag setzt der Beklommenheit auslösenden Aktion ein Ende.
Nach kurzem Innehalten bedankte sich die vollbesetzte Jahrhunderthalle stampfend und applaudierend bei den Solisten, Dirigent Sylvain Cambreling und dem hr-Sinfonieorchester für dieses einmalige Konzert.
Ein fantastisches Konzertprogramm, das mit Luc Ferraris Orchesterkomposition französische Leichtigkeit und Instrumentationskunst vor Augen führt. Mehr davon!
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Produktionsteamhr-Sinfonieorchester
Dirigent
Sprecher
Bassbariton
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- Fine -