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Ein meisterhaftes Spiel mit der Neugier des Publikumsvon Ursula Decker-Bönniger / Fotos © Ruhrtriennale, Fotograf: Stefan Glagla, 2014
"Ein Knie geht einsam durch die Welt. Es ist ein Knie, sonst nichts. " Es sind skurrile, kurze groteske Situationen, wie Christian Morgenstern sie in der Galgendichtung von 1905 beschreibt, an die man in den faszinierenden Bilderwelten von Romeo Castellucci erinnert wird. Kumpel mit zur Unkenntlichkeit verschmierten, müden Gesichtern und Stirnlampen finden sich zusammen, um einen scheinbar in weiße Tücher gehülltes Geheimnis zu beerdigen. Mit hängenden Schultern und schleppendem Gang setzt sich diese im Trauermarsch vereinte Gruppe aus Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, Männern und Frauen in Bewegung, aber anstelle eines Leichnams entfaltet man langsam und feierlich - "als wär's ein Heiligtum" - ein unversehrtes Bein!
Der Raum ist in weichen, halbdunklen Schimmer getaucht. Dazu rollen Emilio Pomàrico und die Duisburger Philharmoniker einen scheinbar endlosen, dynamisch differenzierten Spannungsbogen aus fantastischen, oft leicht geschärft wirkenden Instrumentalfarben, feinen musikalischen Linien, dissonanten Clusterbildungen und Akkordblöcken aus.
Morton Feldmans 1977 komponierte, ungewöhnliche Oper Neither spiegelt ebenso wie Becketts Libretto die amerikanische Kritik der abendländischen Oper. Der Text ist ein 16-zeiliges Gedicht ohne Bühnenanweisung oder Handlung mit verteilten Rollen. Es ist eine Welt der Schatten, des Introvertierten, Abgeschlossenen und Einsamen, wo sich "impenetrable self" und "impenetrable unself" gegenüberstehen wie zwei Türen, die sich schließen, wenn man sich nähert und öffnen, wenn man sich entfernt.
Vertont als Monolog für Solo-Sopran in extremer Höhe rückt Feldman die Farbe der Stimme in den Vordergrund. Silbenbänder, die von langen Orchesterzwischenspielen unterbrochen werden, erklingen auf nahezu immer dem gleichen Ton.
Diesen starken, für sich sprechenden Klangbildern und abstrakten Räumen stellt Castellucci in seiner Inszenierung ein Illusionstheater gegenüber, in dem Licht und Skulpturen ebenso erzählen wie Baby, Hund, Katze und Pferd und das mit dramatischer Handlung, mit Kulissen und Kostümen das darstellende Spiel der abendländischen Operntradition aufzugreifen scheint. Es sind subjektive Traumwelten zwischen Schein und Sein, Geschichten aus dem kollektiven Gedächtnis.
Bevor die Musik der Oper einsetzt, führt uns eine Szene Schrödingers Katzen-Gedankenexperiment vor Augen, zeugen kleine Szenen von einer ins Wanken geratenen, biedermeierlichen Kleinfamilienidylle, wobei die Motive der Gewaltszenen, der Verhaftung und folgenden Entführung im Dunkeln bleiben. Im Nachspiel - wieder ohne Musik - tritt eine riesige Dampflokomotive unter zischendem Dampf den Rückzug an.
Sind es wiedererwachte Kindheitserinnerungen an den Krieg oder Szenen, die eng mit der Industriegeschichte des Ruhrgebietes verknüpft sind? Castellucci spielt in seiner Neither-Inszenierung meisterhaft mit der Neugier des Publikums, mit paradoxen, sich immer zu neuen Wirklichkeitsausschnitten zusammenfügenden Bildern. Im "to and fro" des Beckettgedichts werden symbolträchtig schwarze Fahnen geschwenkt. Das dynamische Atmen der Feldman-Komposition entpuppt sich nach und nach als musikalisches Stampfen und Fauchen einer grandiosen, sich auf die Bühne und die Zuschauer zu bewegenden Dampflokomotive. Schwingendes Scheinwerferlicht bezieht nicht nur eindrucksvoll die Deckenarchitektur und gewaltigen Dimensionen der in Nebel gehauchten Jahrhunderthallenbühne mit ein, sondern wirft auch von außen ein verschwommenes Vollmondlicht durch das Dach der Halle.
Man wird dieser Inszenierung vorhalten, ihre Bilder verdeckten die Musik. In der Tat sitzen Orchester und Dirigent - getrennt von Publikum und Bühne - rechts auf Höhe der Bühne. Und auch wenn Emilio Pomàrico, der sich mehrfach mit Feldmans Oper auseinandergesetzt hat, es meisterhaft versteht, lang ausgehaltene Töne und Klänge atmen zu lassen, dissonant gefärbte Klangfarben geradezu heraufzubeschwören und die Varianten des Zeitlosen, Leisen vor Augen zu führen, konzentriert sich die Neugier auf das Bild. Die amerikanische Sopranistin Laura Aikin singt und stellt auch eine Bühnenfigur dar. Trotz extremer Höhe präsentiert sie die Silben mit großer, warmer, klangvoller Stimme - ein wohlklingender Schrei, der wie eine Beschwörungsformel das Musik- und Bühnengeschehen überlagert.
Castelluccis Neuinszenierung fasziniert in seiner ästhetischen Vielfalt. Meisterhaft changiert der Regisseur zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Traum und Wirklichkeit und bezieht zugleich Geschichte und Aufführungsort in seine Inszenierung ein. Nach einem längeren Vorspiel setzt die Oper wie ein grandioses Illusionstheater-Intermezzo aus der Stille ein und kehrt im Nachspiel wieder zur Stille zurück. Die Bilder bezaubern und eröffnen der abstrakten Klangsprache neue Interpretationsmöglichkeiten.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Regie und Bühne
Skulpturen und Masken
Sounddesign
Tiertrainer
Dramaturgie
Solisten
Sopran
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- Fine -