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Sänger ohne Schatten

Musiktheater / Performance von Boris Nikitin

in deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 1h 45' (keine Pause)

Premiere am 22. August 2014, Maschinenhalle Gladbeck-Zweckel

Logo: Ruhrtriennale 2014

Wirklichkeit und Illusion

von Ursula Decker-Bönniger

"Was singt mir, der ich höre, in meinem Körper das Lied?" fragt Roland Barthes in einer Rundfunksendung in den 1970er Jahren. Für ihn, den großen französischen Semiotiker ,ist Hören ein individueller Vorgang, ohne subjektiv zu sein. Wahrscheinlich hätte Barthes weniger die Information an sich interessiert, z.B. wer namentlich alles an der Produktion beteiligt ist, wie die Sängersolisten Yosemeh Adjei, Karan Armstrong und Christoph Homberger aufgewachsen sind, wie ihr beruflicher Werdegang aussah, wie sie proben, sich eine Rollenidentität erarbeiten. Umso mehr dagegen an was Stimme und Gesang zu erinnern vermögen, an die poetischen Bilder, die von Ängsten und Begehren erzählen.

Vergrößerung in neuem Fenster Christoph Homberger, Yosemeh Adjei, Karan Armstrong ( © Ruhrtriennale, Foto: Jörg Baumann, 2014)

In den Projekten des Schweizer Regisseurs Boris Nikitin spielt beides eine Rolle. Nikitin, der sich seit langem mit der Vielschichtigkeit und Individualität von Wirklichkeit und Formen des Dokumentarischen Theaters beschäftigt, organisierte und kuratierte im April 2013 It's The Real Thing im Rahmen der Basler Dokumentartheatertage. Auch in der Musiktheater-Performance Sänger ohne Schatten, die hier im Rahmen der Ruhrtriennale 2014 erstmals zu sehen ist, fällt der dokumentarische Theaterblick auf den Menschen und die Künstlerpersönlichkeit gleichermaßen, werden die von den Solisten ausgewählten Rezitative, Choräle, Arien und Terzettini zu kleinen poetischen Kunstwerken individueller Lebenswirklichkeit.

Sänger ohne Schatten setzt sich mit Stimme, Rolle und Identität auseinander. Wie klingt die Stimme mit Mikrophon, wie trainiert Yosemeh Adjei Körper und Stimme. Der Titel bezieht sich auf die Oper Die Frau ohne Schatten von Richard Strauss. Im Sinne von Schuberts und Heines Doppelgänger treten die Protagonisten aus ihrer Wirklichkeit heraus, erwecken eigene und fremde Untote, Geister zum Leben und beobachten sich dabei. Die Protagonisten sind unterschiedlich alt. Die dramatische Sopranistin Karan Armstrong hat ihre Karriere beendet, Countertenor Yosemeh Adjei ist mittendrin und Tenor Christoph Homberger ist mit 32 Jahren Erfahrung im Operngeschäft kurz davor, sich zurückzuziehen. Das Performance-Projekt Sänger ohne Schatten sei unfertig, betonen die Solisten. Und doch gelingt an vielen Stellen ein mutiger, fast psychoanalytischer, ausdrucksstarker und berührender Einblick in die so unterschiedlichen, sensiblen Persönlichkeiten und Biographien.

Vergrößerung in neuem Fenster Yosemeh Adjei bei Selbstaufnahmen der Siroe-Arie (© Ruhrtriennale, Foto: Jörg Baumann, 2014)

Die Bühne stellt mit Notenpult, Klavier, Stühlen, Leinwand und Kamera, einer Rückzugsecke mit Tee, Kaffee und Getränken einen Probenraum dar. Nackte Probenatmosphäre ohne Kostüme und Orchester. Für die Intimität des Raumes sorgt ein eigenes Haus, das David Hohman und Boris Nikitin in die Kraftzentrale gebaut haben. Karan Armstrong erscheint im Rollstuhl. Sie sei durch einen kürzlichen Bandscheibenvorfall körperlich eingeschränkt, erfährt man, während noch Christoph Hombergers Florestan-Aufschrei der Verzweiflung "Gott! Welch Dunkel hier! O grauenvolle Stille!" nachhallt. Homberger ist ein Meister der Performance. Er ist der geniale Exzentriker, der Spaghetti in sich hineinstopft, ohne seine Einsätze und Gesangspassagen zu verpassen, und zugleich der sensible, zu schonungslosen, fast masochistisch anmutenden, öffentlichen Bekenntnissen neigende Künstler. Wie tröstend und beruhigend erscheint da der zart erklingender ersten Choral der Matthäuspassion, gefolgt von einem Potpourri mit der Barcarole aus Hoffmanns Erzählungen und Lippen schweigen aus der Lustigen Witwe.

Vergrößerung in neuem Fenster © Ruhrtriennale, Foto: Jörg Baumann, 2014

Countertenor Yosemeh Adjei zeigt in einer Arie aus Händels Siroe die Kunst der Rollenidentität: Angst, die sich zum Schrei verdichtet. Textverständlichkeit, ausdrucksvoller Gesang, Geste, Blick und Körperhaltung verschmelzen hier zu einer vollkommenen Einheit, die vom Publikum mit spontanem Applaus bedacht wurde. Im zweiten Teil des Abends wird mit Raumklang, Mikrophon und Stimme experimentiert. Stefan Wirth, vorher genialer Begleiter der Sänger am Klavier, bringt sich nun auch als Komponist mit Windgeräuschen und elektronischen Klangspielereien ein. Die Wände des Kunstraumes schweben wie von Geisterhand in den Theaterhimmel, geben den Blick frei auf die historische Wirklichkeit der Kraftzentrale, um anschließend wieder zur Enge der Probenatmosphäre zurückzukehren. Es wird geisterhaft, grotesk. Nachdem Homberger mit gebeugtem Rücken wie ein altes Mütterchen im Schwiitzerdütsch vor sich hinbrabbelt, das Abendlied aus Hänsel und Gretel und Schuberts Doppelgänger erklingen, endet der Abend mit einem melancholisch stimmenden Rollenporträt der Marschallin aus dem ersten Akt des Rosenkavalier - ausdrucksstark begleitet von Stefan Wirth.


FAZIT

Ein gelungener, zeitgenössischer Einblick in die Höhen und Tiefen des Sänger- bzw. Künstlerlebens.




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Produktionsteam

Konzept und Regie
Boris Nikitin

Bühne
David Hohmann
Boris Nikitin

Kostüme
Anna Sophia Röpke

Konzeptionelle Mitarbeit, Klang, Licht
Matthias Meppelink

Dramaturgie
Stephan Buchberger


Yosemeh Adjei, Countertenor

Karan Armstrong, Spran

Christoph Homberger, Tenor

Stefan Wirth, Klavier




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