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Lost Generation
Was bewegt eine junge Frau dazu, in der Stadt zu rennen, fragt der irische Schriftsteller Hugo Hamilton in seiner Novelle „Surrogate City“, um dann im folgenden die aberwitzigsten Vermutungen anzustellen, die vielfältigsten Motive zu ergründen. In Heiner Goebbels Komposition „Surrogate Cities“ wecken im ersten Satz „D & C“ scharf schneidende, dissonante Streicherdolche Filmerinnerungen an bedrohliche, geisterhafte Mordszenen, während im zweiten Satz „In the Country of the Last Things“ Celli und Kontrabässe im Walking Bass und die soulig gefärbte Stimme Jocelyn B. Smiths Jazzclub-Atmosphäre aufkommen lassen. Ohne Pause folgen die Sätze aufeinander, inszenieren die Bochumer Sinfoniker meisterhaft unter der Leitung Steven Sloanes. Unter Mitwirkung der Stimmkünstlers David Moss und der Sängerin Jocelyn B.Smith entsteht Satz für Satz eine 90-minütige, kontrastreiche, „urbane Polyphonie“, eine Collage aus gesampelten Klängen, Zitaten und verschiedensten Stimmfarben und Musikgenres, mit denen sich der Künstler, Komponist und Regisseur Heiner Goebbels 2014 als künstlerischer Leiter der Ruhrtriennale verabschiedet. Surrogate Cities ist ein Orchesterzyklus für Mezzosopran, Sprecher, Sampler und großes Orchester. 1993/94 als Auftragskomposition für die Alte Oper Frankfurt und die Junge Deutsche Philharmonie im Rahmen der Frankfurter Feste zur 1200 Jahrfeier der Stadt Frankfurt entstanden, tourt das Werk mittlerweile um die Welt. Zunächst vom Komponisten selbst als lichtdramaturgisch ausgestaltetes „szenisches Konzert“ konzipiert, wird es 2005, anlässlich der Eröffnung der Biennale in Venedig, szenisch und ästhetisch neu bearbeitet. Bilder, Raum, Licht und Orchester treten nun in einen ständig wechselnden dreidimensionalen Austausch. Die Idee, den Zyklus für Stadtmenschen choreographisch zu erschließen wird 2008 in Berlin in die Tat umgesetzt. Damals wie heute, in der Ruhrgebietsfassung 2014, zeichnet die französische Choreographin Mathilde Monnier für das Projekt verantwortlich. Ca. 130 Mitwirkende aus Grundschulen, verschiedenen Sport- und Tanzgruppen zeigen bewegte, unverbundene Bilder. Aufführungsort ist die ca. 170 Meter lange und 35 Meter breite Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg Nord. Das Orchesterrund bildet die Mitte. Vor und hinter dem Orchester wird getanzt und gespielt. Hinter der „Bühne“ erheben sich steil ansteigend die jeweiligen Zuschauerreihen. Nach dem als Orchestereinleitung fungierenden ersten Satz „D & C“, der eine Atmosphäre von Hektik, Gefahr und Bedohung vermittelt, finden die Mitwirkenden auf der Bühne zusammen, um den Boden der Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg Nord in eine bewegte Kreidefläche aus geschwungenen Linien und Spiralformen zu verwandeln. Unverbunden beginnen anschließend in bunte T-Shirts gewandete Kinder die Bewegungen umzusetzen. Mal eckig, mal schwingend. Jedes einsam und individuell auf seine Art. Und doch ergeben sich Gemeinsamkeiten: Die einen strecken die Arme aus oder in die Höhe wie den Verkehr regelnde Polizeibeamte. Andere scheinen zu dirigieren oder gymnastische Tanzbewegungen zu machen. Man kriecht, robbt, tanzt, rennt, hüpft, schlägt Rad, spielt „Eisenbahn“ und versucht - oft ergebnislos – mit Verpackungsmüll zu bauen. So sehen Erinnerungen der Nachkriegsgeneration aus, keine Kindheitsbilder heutiger, medienverwöhnter Generationen. Mehr Bezug zu Text und musikalischer Atmosphäre zeigen die Jugendlichen. Wenn sie sich zu Keith Jarrett ähnlichen Klavierimprovisationen zu zweit zusammenfinden, abwechselnd verschiedene Körperhaltungen einnehmen und Umrisse malen, anschließend die weißen Pappen zusammenrollen und zu großen Gedenksäulen aufstellen, sich voller pubertärer Melancholie und historischem Gewissen aneinanderlehnen, gelingen sinnstiftende, anrührende Transformationen. Stilisierte Selbstverteidigungsszenen und chinesische Bewegungskunst schlagen eine Brücke zur dem anschaulich von Heiner Müller beschriebenen Krieg zwischen Rom und Alba, während die dazu erklingenden Tonzitate eines jüdischen Kantors Erinnerungen an die deutsche Vergangenheit wecken. Fernab von den grausamen Urteilen des letzten Horatier-Song „Dwell where the Dogs dwell“ / „Mit den Hunden wohnen als ein Hund“ finden die Paare als Erwachsene im lateinamerikanischen Tanz und romantisch-melancholischen Gesten der Zuwendung zueinander, bevor im letzten Satz „Surrogate“ Musik und Bewegung die großstädtische Hektik wieder aufgreifen: Sechzehntelläufe beginnen in den Kontrabässen. Pauke und Tamtam treten hinzu, später weitere Instrumente, um die hämmernde Klangballung zu verstärken. Harfenklänge und verklingende, virtuose Stimmakrobatik beenden die Komposition. Das Projekt bietet vor allem die Chance, „Menschen zusammenzuführen, um gemeinsam eine künstlerische Erfahrung zu teilen und zu leben“ wird Mathilde Monnier im Programmheft zitiert. Das Ergebnis sind jedoch unverbunden aneinandergereihte, schmucklose, zeitlose Bilder, die häufig bei dem Lebensgefühl von Einsamkeit und Melancholie stehen bleiben und wenig über die Lebenswirklichkeit und den Lebensraum der Mitwirkenden erzählen. Hinzu kamen - zumindest an diesem Premierenabend – störende Übersteuerungsgeräusche beim Einspielen der Kantorgesänge.
Schillernde
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ProduktionsteamMusikalische Leitung
Choreographie
Bühne Licht Klangregie Gesang Stimme
130 Akteure aus der Metropole Ruhr Bochumer Symphoniker
D&C In the Country of Last Things Die Faust im Wappen Suite für
Sampler und Orchester Drei Horatier-Songs Die Städte und die Toten 4 Surrogate
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