Neues aus dem Frauenhaus
Von Roberto Becker
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Foto von Patrick Berger
Dieses Bühnenhaus, das Chloe Lamford da auf die Bühne des Grand Théâtre de Provence gebaut hat, hat es in sich. Wie immer bei Arbeiten für die britische Regisseurin Katie Mitchell. Die mag es zweistöckig, geheimnisvoll und synchron. Das war schon so bei George Benjamins Oper Written on Skin so, die sie vor drei Jahren am selben Ort inszeniert hatte, wobei ihre Inszenierung keinen geringen Anteil am Erfolg dieser Novität hatte.
Die Zauberinsel als Geisterhaus
Eine solche Starthilfe hat Georg Friedrich Händels Zauberinnen-Oper Alcina aus dem Jahre 1735 natürlich nicht mehr nötig. Die hat zu Lebzeiten des Komponisten zwar nur eine Nachinszenierung erlebt und war dann bis 1928 gänzlich von der Bühne verschwunden. Doch spätestens seit den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts ist Alcina in jedem Jahr weltweit mehrfach präsent. Tendenz steigend. Fangemeinde wachsend. Allein in diesem Jahr ist die Neuinszenierung in Aix-en-Provence die laufende Nummer sieben. Doch eine spannende szenische Verpackung schadet ja bekanntlich auch bei Werken nicht, die längst zu Repertoire-Popularität gelangt sind und - wie im vorliegenden Fall - allein schon durch Hits wie "Verdi prati" oder die Bravourarie "Sta nell'ircana", mit denen die Mezzogrößen und Counterstars ihre Programme und CDs schmücken, Lust auf mehr machen.
Musikalisch ist das besondere an dieser Neuproduktion, dass der nicht nur in Frankreich populäre Countertenor Philippe Jaroussky (der in diesem Jahr bei den Händelfestspielen in Halle den Händelpreis bekommen hat) die Rolle von Alcinas Liebhaber Ruggiero ausfüllt, also eine Partie, die sonst inklusive ihrer Arienbonbons, die Domäne der dunkel gestimmten Frauenpower a la Vesselina Kasarova ist. Mit Patricia Petibon als Alcina und Anna Prohaska als Morgana an ihrer Seite, liegt es auf der Hand, besonders auf das Erotische zu setzen, das in dieser Oper mit all ihren Täuschungs- und Befreiungsversuchen und damit verbundenen Enttäuschung hinter jeder Arie lauern.
Alcina und ihr Geliebter Ruggiero- ein trügerisches Glück
Und genau das macht Katie Mitchell. Sie weitet das aber bis hin zur Frage, wie man mit dem Altern fertig werden kann, ob es aufzuhalten ist, durch anhaltende Selbsttäuschung (also den Einsatz aller Zaubermittel zur Erhaltung jugendlicher Attraktivität) oder auch durch das extensive Ausloten aller möglichen Mittel zu Steigerung von Lustgewinn.
Für diesen Zugang zur Geschichte der Frau, die die Männer in Tiere verwandelt, wenn sie ihrer überdrüssig geworden ist, und die daran zerbricht, als ihr der eine, den sie wirklich liebt, wieder abgejagt wird und es dann mit ihren Zauberkräften vorbei ist und die ganze Insel in Schutt und Asche versinkt, hat Mitchell einen hintersinnigen und zugleich opulenten szenischen Zugang gefunden.
Alcina lauscht an der Tür zu Morganas Zimmer
Alcina und Morgana sind bei ihr in Gestalt der Schauspielerinnen Juliet Alderice und Jane Thorne fahl und alt. In ihren deprimierend düsteren Kabinetten basteln sie an den Tierpräparaten herum, die dann in den Vitrinen landen. Oder sie setzten mit einer ganzen Truppe von Dienern, die auf ein Fingerschnipsen hin parieren, die ominöse Maschine im Dachgeschoss in Gang, in die man ausrangierte Liebhaber hineinschickt, die dann als ausgestopfte Tiere wieder herauskommen. Der Apparat sieht aus wie die Gepäckdurchleuchter auf dem Flughafen. Funktioniert aber, wie wir am Beispiel der kurzzeitig in einen Vogel verwandelten Ruggiero-Verlobten Bradamante und von Obertos Vater erleben, zum Glück auch umgekehrt. Gerade wegen dieser Korrekturmöglichkeit der Verwandlungen war es wohl gut, dass die Bedienten unter Führung des smarten Oronte (auch stimmlich attraktiv: Anthony Gregory) die kleinen Sprengladungen wieder entfernt haben, die der uniformierte "Befreier" Melisso (sehr schön dunkel grundiert: Krzysztof Baczyk) und sein Schützling Bradamante angebracht hatten, um Alcina das Zauberhandwerk zu legen. Alcina und Morgana haben aber nicht nur die Männer in Tiere verwandelt, sie vermochten sich vor allem selbst immer wieder von den alten, von den Männern und dem Leben enttäuschten Frauen zurück in die jungen attraktiven Schwestern zu verwandeln, denen kein Mann zu widerstehen vermochte.
Und genau das passiert immer dann, wenn sie den einzigen üppig ausgestatteten und hell erstrahlenden Raum in der Mitte des Untergeschosses durch Seitentüren betreten. Hier ist ein großes Prunkbett der wichtigste Einrichtungsgegenstand. Und der wird denn auch reichlich genutzt. Von Alcina, um sich mit Ruggerio zu vergnügen. Von Morgana, wenn sie sich fesseln und dann kitzeln oder peitschen lässt. Was natürlich zur körperlichen Hilfestellung für die Koloraturen wird, die damit endgültig ihre Unschuld verlieren. Die beiden bewaffneten Eindringlinge Melisso und Bradamante haben da erhebliche Probleme, als sie vom routinierten Hilfspersonal zum Mittun animiert werden.
So nimmt man einer verliebten Zauberin die Schlüssel ab!
Die Geschichte beginnt zu kippen, als man Ruggiero die Verwandlungsmaschine im Obergeschoss gezeigt hat und er sozusagen die Seiten wechselt. Eine zärtliche Umarmung Alcinas zu seiner Arie "Verdi prati" nutzt er dazu, um ihr den Schlüssel zur Vitrine mit ihren Zauberessenzen abzunehmen. Da versagt dann plötzlich auch mal der Wundersaft, der immer wieder die Jugend zurückbringt und plötzlich steht eine alte Morgana im Schlafzimmer und ist selbst schockiert. Es gehört zu der detaillierten Feinzeichnung Katie Mitchells, dass sie dem Chef des Hauspersonals Oronte die Fähigkeit zubilligt, auch etwas für die altgewordene Morgana übrig zu haben. Da flackert immerhin ein kleines Licht der Utopie vom Rand her auf. Andererseits hilft Oronte dabei, die alte Alcina und die alte Morgana in zwei Vitrinen wegzuschließen. Das kann man als Untergang der Zauberei deuten, aber auch als einen Akt der Verdrängung, den sich die Jugend gegenüber den Alten herausnimmt. Wie es weiter gehen soll, ist der plötzlich ans Ruder gekommenen Jugend aber keineswegs klar. Man sieht deutlich, wie der zurückverwandelte Vater des jungen Oberto jede helfende Hand verweigert. Und wie sich Ruggiero und Bradamante im Verwandlungslabor streiten. Man beginnt sich zu fragen, worüber. Und spätestens da fängt die Nachwirkung dieser packenden Inszenierung an.
Andrea Marcon und das Freiburger Barockorchester bringen eigentlich die Voraussetzungen mit, um mit Händel zu glänzen. Allerdings sind die Zugeständnisse an die Dimensionen des Grand Théâtre de Provence nicht zu überhören. Da fehlte etwas vom barocken Furor, an den man durch drei etablierte Händefestspiele und diverse Spezialorchester mittlerweile gewöhnt ist. Die fantastisch auftrumpfende, aber auch ihre Verzweiflung atemberaubend gestaltende Patricia Petibon als Alcina, der geschmeidig und der für ihn typischen lyrischen Emphase auch die Bravourausbrücke sich anverwandelnde Philippe Jaroussky als Ruggiero und die mit ihren sexy Koloraturen verführende Anna Prohaska, die wohltimbriert und eloquente Katarina Bradic als Bradamante, aber auch der Tölzer Sängerknabe Elias Mädler als junger Oberto wurden ganz zu recht gefeiert. Sie vermochten mit ihrem Zusammenspiel den allzu weichgespülten Orchesterklang auszugleichen.
FAZIT
Das ist wohl die Produktion des aktuellen Festspieljahrgangs: Das Festival in Aix-en-Provence hat mit einer spannenden Alcina in der Inszenierung von Katie Mitchell mit etlichen vokalen Glanzlichtern eröffnet.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Andrea Marcon
Inszenierung
Katie Michell
Bühne
Michael Levine
Kostüme, Design
Laura Hopkins
Licht
James Farncombe
Choreographie
Joseph W. Alford
Musca (Chor der Oper Perm)
Freiburger Barockorchester
Solisten
* Besetzung der rezensierten Aufführung
Alcina
Patricia Petibon
Ruggiero
Philippe Jaroussky
Morgana
Anna Prohaska
Bradamante
Katarina Bradic
Oronte
Anthony Gregory
Melisso
Krzysztof Baczyk
Oberto
*Elias Mädler Lionel Wunsch
Schauspieler
ältere Alcina
Juliet Alderdice
ältere Morgana
Jane Thorne
Obertos Vater, Diener
Ian Hallard
Diener
Zoé Aldrich
Joaephine Arden
Sarah Northgraves Martine
Anna Northgraves Martine
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