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40. Tage der Alten Musik in Herne

12.11.2015 - 15.11.2015

Überschattetes Jubiläum


Von Ingo Negwer

Im Jahr 1976 fanden in Herne, mitten im Ruhrgebiet, erstmals „Tage Alter Musik“ statt, initiiert vom damaligen Kulturdezernenten der Stadt, Joachim Hengelhaupt. Ob er damals ahnte, dass er eines der weltweit bedeutendsten Festivals für die historische Aufführungspraxis aus der Taufe gehoben hatte? Vier Jahre später kam der WDR hinzu und konzipiert seitdem die Programme. So entstand eine für die Alte Musik einzigartige Kooperation zwischen einem öffentlich-rechtlichen Radiosender und einer Kommune, die gemeinsam als Veranstalter auftreten und Verantwortung zeigen.

Vom 12. bis 15. November fanden die Tage Alter Musik in Herne zum vierzigsten Mal statt. Man darf ihnen also zweifelsohne einen Kult-Status zusprechen. So ist es naheliegend, dass der künstlerische Leiter Dr. Richard Lorber und sein WDR 3-Team in diesem Jahr das zentrale Thema „Kult“ wählten. – Nicht immer war die Festlegung auf ein bindendes Motto glücklich. So erinnere ich mich an ein Konzert von Musica Antiqua Köln, in dem am Beispiel verschiedener Versionen des Liedes „Innsbruck, ich muss dich lassen“ eine als unendlich empfundene Zeitspanne zum Thema „Variatio“ durchmessen wurde... Für das diesjährige Jubiläum gelang hingegen eine äußerst stimmige Konzeption. In zehn Konzerten sollte der Fokus auf Mode, Starkult und Riten in der Musik vom Mittelalter bis zur Romantik gerichtet werden.

Die Tage Alter Musik wurden also mit Spannung erwartet. Doch dann kam es anders. So hütete der Rezensent noch krankheitsbedingt das Bett, als am Donnerstagabend La Grande Chapelle in der Kreuzkirche die Marienverehrung in Werken von Tomás Luis de Victoria, Francisco Guerrero u. a. spanischen Meistern der Zeit um 1600 erklingen ließ. Auch von den mittelalterlichen geistlichen Gesängen rund um Ludgerus, dem „Heiligen des Ruhrgebiets“ und Gründer des Klosters in Essen-Werden, interpretiert von Vox Werdensis, kann ich leider nicht berichten. Und während am Freitagabend im Kulturzentrum die Kölner Akademie Freimaurermusiken von Wolfgang Amadeus Mozart, Joseph Haydn und Luigi Cherubini aufführte, veränderten die blutigen Attentate von Paris schlagartig alles. Die Morde der fanatisierten Anhänger des sogenannten „Islamischen Staates“ warfen ihren schwarzen Schatten auch über das Festival in Herne.

Das erste Konzert, bei dem ich endlich zugegen sein konnte, hatte am Samstagnachmittag ausgerechnet die kulturelle Begegnung von Okzident und Orient zum Thema. Turkomanie als Modeerscheinung in der französischen Barockmusik und ihre originalen Vorlagen in der türkischen Musik des 17. und 18. Jahrhunderts standen auf dem Programm. Das international besetzte Alla Turca Kollektif aus Istanbul widmete sein Konzert in der Kreuzkirche den Opfern des Anschlags von Paris und rief zu Beginn zu einer Schweigeminute auf. Französische und osmanische Werke, akribisch recherchiert und sensibel aufeinander abgestimmt, brachten anschließend einen tröstlichen Moment in die nahezu unwirklich erscheinende Atmosphäre. Zum musikalischen Auftakt erklang Marin Marais’ „Sonnerie de Saint-Geneviève du Mont de Paris“. Es folgte der muslimische Gebetsruf „Ezan“, von der Kanzel herab gesungen von Ali Ugur Altinok, der auch im Weiteren mit angenehm weich modulierendem Tenor beeindruckte. So gelang von Anfang an eine berührend meditative Begegnung zweier Musikkulturen jenseits eines plakativ dargebotenen Crossover. Kompetent und spielfreudig ließ das Alla Turca Kollektif mit einem vielfältigen Instrumentarium die Wechselwirkungen zwischen den auf den ersten Blick so fremde Musikwelten lebendig werden. Wie es geklungen haben mag, wenn am französischen Hof Ludwigs XIV. osmanische Musikinstrumente verwendet wurden, konnte man beim „Marche pour la Cérémonie des Turcs“ von Jean-Baptiste Lully nachempfinden. Auf der anderen Seite fand der „Genfer Psalter“ durch den von Tataren in das osmanische Reich verschleppten polnischen Kantor Ali Ufki Eingang in die türkische Musik.

Starkult ist bekanntlich nicht erst eine Erscheinung unserer Zeit. Lange vor den Beatles oder Michael Jackson wurden Musiker verehrt, ja quasi vergöttert. In erster Linie denkt man da sicherlich an den „Teufelsgeiger“ Niccolò Paganini, dessen erstes Violinkonzert im Kulturzentrum vom Orchester L’arte del mondo unter der Leitung von Werner Eberhardt wiedergegeben wurde. Solistin war die französisch-armenische Geigerin Chouchane Siranossian. Paganini gestaltete den Kult um seine Person in seinem Opus 6 von der ersten Note an; die ausladende Orchestereinleitung bereitet dem Solisten – hier der Solistin – gleich einer Ouvertüre das Podium. Mit dem Einsatz der Solovioline wird das Konzert zu einer One-Man-Show. In virtuosen Eskapaden, betörenden Kantilenen, mal wild zupackend, dann wieder schmeichelnd, zuweilen auch klagend durchmaß Chouchane Siranossian mit großer Souveränität die drei Sätze. Das hatte Tiefe und Klasse! – Für den begeisterten Applaus des Publikums bedankte sich die Geigerin mit einer meditativen Zugabe, mit der sie ebenfalls der Terroropfer von Paris gedachte.

Während der Orchesterpart bei Paganini eher begleitend im Hintergrund stand, konnte sich L’arte del mondo nach der Pause mit Mozarts Sinfonie Nr. 41 KV 551 in das rechte Licht rücken. Mit frischen Tempi, kontrastreichen, farbigen Registern und hörbarer Spielfreude machte sich das ausgezeichnete Ensemble ans Werk. Die heitere, durchweg optimistische Stimmung der „Jupiter“-Sinfonie, die in der differenziert wiedergegebenen Polyphonie des vierten Satzes ihren abschließenden Höhepunkt erreichte, mochte nicht so recht zu diesem Tag nach den schrecklichen Ereignissen passen. Oder gerade trotzdem? Vielleicht liegt darin die große, tröstende Kraft dieser Musik.

Seit vielen Jahren gehört die etwas abgelegene Künstlerzeche Unser Fritz 2/3 zu den Veranstaltungsorten der Tage Alter Musik. Wer sich nicht so gut in Herne auskennt und dennoch – seinem Navigationsgerät vertrauend – mit dem PKW angereist ist, fand sich am späten nasskalten Samstagabend im strömenden Regen auf einem dunklen Parkplatz wieder. Man musste seinem Instinkt vertrauen, wollte man den Eingang der ehemaligen Werkhalle finden. Einige Hinweisschilder wären sicherlich angebracht! Nichtsdestotrotz hat sich der Besuch des Nachtkonzerts mit Catríona O’Leary gelohnt. Begleitet von ihrem Ensemble Dúlra sang die irische Sängerin mit berührender Stimme Totenklagen aus ihrer Heimat. Die Verehrung der Verstorbenen, der Totenkult, hat hier etwas im wörtlichen Sinne Urtümliches, wurzelt in heidnischem Brauchtum wie in der irischen Volksmusik. An diesem Ort vergangener Industriekultur entwickelt die Musik in Verbindung mit der gälischen Sprache ganz eigene, gleichsam magische Momente und geht in besonderer Weise zu Herzen. Adrian Hart (Violine), Éamonn Galldubh (Flöte, Uileann Pipes), Kate Ellis (Violoncello) und Mel Mercier (Percussion) leisteten mit instrumentalen Intermezzi ihren Beitrag zu einem beeindruckenden Ausklang des Festivaltages.

Gut 25 Jahre ist es her, als die „jungen Wilden“ der italienischen Alte-Musik-Szene, allen voran Il Giardino Armonico, die historische Aufführungspraxis gewaltig aufmischten. Die Tempi konnten nicht virtuos, die Töne nicht rau und die Kontraste nicht groß genug sein. Die Musik Vivaldis und seiner Zeitgenossen erschien plötzlich in einem völlig anderen Licht – spannend und aktuell. Mittlerweile haben neue junge Ensembles die Podien erobert und bringen ihre eigene Philosophie mit, zum Beispiel Il Sogno Barocco. Paolo Perrone, Gabriele Politi (Violine), Rebeca Ferri (Violoncello), Roberto Stile (Violone), Andrea Buccarella (Orgel, Cembalo) und Francesco Tomasi (Theorbe) spürten am Sonntagmorgen im Herner Kulturzentrum den Einflüssen Arcangelo Corellis in der Kammermusik des Barock nach. Corelli setzte mit seinen Kompositionen gattungsspezifische Maßstäbe. So bildeten seine Triosonaten das von anderen Komponisten in ganz Europa nachgeahmte Ideal. Il Sogno Barocco widmete sich Corellis Sonaten F-Dur op.1/1, G-Dur op.2/12 und D-Dur op.3/2 mit durchaus virtuosem und vitalen Zugriff, aber auch mit einem gehörigen Maß quasi höfischer Eleganz. Diese wohlklingende Transparenz kam nicht nur der Musik Corellis sehr zu gute, sondern auch der „Sonate Corellisante“ h-Moll von Georg Philipp Telemann und der programmatischen Sonate Le Parnasse, ou l’Apothéose de Corelli von François Couperin. Besonders im Werk des Franzosen kam der feine Bogenstrich von Paolo Perrone und Gabriele Politi angenehm zur Geltung. Während Telemann und Couperin einen deutlichen Personal- und Nationalstil erkennen lassen, zeigt Paolo Benedetto Bellinzanis eher schlichte Sonate d-Moll das Bemühen, Corellis Ideal zu kopieren. Mit Carlo Mannelli (Sonata La Foggia) präsentierte Il Sogno Barocco auch einen Vertreter des kleingliedrigen Stils, wie er seit dem Frühbarock gepflegt wurde.

Nach dem Kult um ein stilistisches Ideal, die Triosonate Corellis, sollte am Nachmittag der Herrscherkult um Louis XIV. auf dem Festivalprogramm stehen. Doch verständlicherweise musste das Konzert des in Paris ansässigen Ensembles Le Concert Spirituel unter der Leitung von Hervé Niquet ausfallen. So gingen die 40. Tage Alter Musik in Herne am Sonntagabend mit der konzertanten Aufführung der Oper Camilla von Giovanni Bononcini zu Ende, einem Werk, das zu Beginn des 18. Jahrhunderts in englischer Übersetzung und in der Fassung von Nicola Haym das goldene Zeitalter der italienischen Oper in London begründet hat. – Mit Gedanken, die leider nicht nur bei der gehörten Musik sind, blickt man zurück auf dieses Festival. Doch zum Glück geht es im kommenden Jahr weiter, vom 10. bis 13. November unter dem Motto „Hommage“.

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Programm:

 

Donnerstag, 12. November 2015
Maria
Das Fest der unbefleckten Empfängnis Mariens in der Kathedrale von Toledo um 1600
Musik von Tomás Luis de Victoria, Francisco Guerrero u. a.

La Grande Chapelle
Leitung: Albert Recasens

Freitag, 13. November 2015
Heiliger des Ruhrgebiets
Ein liturgischer Tag im Kloster des Ludgerus in Werden
Mittelalterliche liturgische Gesänge

Vox Werdensis
Leitung: Stefan Klöckner

Freimaurer
Freimaurermusiken aus Wien und Paris
Musik von Wolfgang Amadeus Mozart, Joseph Haydn und Luigi Cherubini

Andreas Karasiak, Tenor
Thilo Dahlmann, Bass
Kölner Akademie
Leitung: Michael Alexander Willens

Samstag, 14. November 2015
La Paix du Parnasse
Werkstattkonzert der Stadt Herne zur Musikinstrumenten-Messe
Werke von Jean-Baptiste Lully, Arbancelo Corelli und François Couperin

Studierende des Instituts für Alte Musik der Hochschule für Musik und Tanz Köln
Leitung: Richard Gwilt

Turkomanie
Französische Turquéries und Musik osmanischer Gesandtschaften des 17. und frühen 18. Jahrhunderts
Musik von Charles-Henri de Blainville, Michel Corrette, Jean-Baptiste Lully, Jean-Philippe Rameau, Dimitri Kantemiroblu, Ali Ufki u. a.

Alla Turca Kollektif

Paganini
Musik von Niccolò Paganini und Wolfgang Amadeus Mozart

Chouchane Siranossian, Violine
L'arte del mondo
Leitung: Werner Ehrhardt

Totenkult
Irische Totenklagen

Caaitríona O'Leary & Dúlra

Sonntag, 15. November 2015
Corelli
Triosonaten nach einem römischen Ideal
Musik von Arcangelo Corelli, Georg Philipp Telemann, Paolo Benedetto Bellinzani, François Couperin und Carlo Mannelli

Il Sogno Barocco
Leitung: Paolo Perrone, Violine

Sonnenkönig (abgesagt)
Herrscherkult um König Ludwig XIV. im Spiegel geistlicher Musik
Musik von Marc-Antoine Charpentier, Louis Le Prince, Jean-Baptiste Lully u. a.

Le Concert Spirituel
Leitung: Hervé Niquet

Camilla
Konzertante Oper
Musik von Giovanni Bononcini
(siehe gesonderte Rezension)



Da capo al Fine

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