Es ist ein Traum. Theatralisch noch besser: ein Alptraum. Eine junge Frau im weißen Brautkleid liegt erschöpft auf dem Bett, schläft ein….am Ende liegt sie immer noch da und wacht wieder auf. Dieser Rahmen für Claude Debussys Pelléas et Mélisande ist der kleine optimistische Schlenker in Katie Mitchells stürmisch gefeierter Inszenierung, die im Grand Théâtre de Provence den fulminanten Premierenreigen der diesjährigen Festspiele am Eröffnungswochenende abrundete. Dort erzählt sie die Geschichte konsequent aus der Perspektive von Mélisande. Und dafür ist sie ebenso genau die Richtige, wie auch ihre Mélisande Barbara Hannigan. Die bewegt sich durch das Stück wie durch einen Traum und vermag sich dabei selbst (sprich ihr Darsteller-Double) zu beobachten, als stünde sie neben sich. So ist sie auch in jenen Szenen anwesend, in denen sie eigentlich gar nicht auf der Bühne ist. Oder sie wechselt die Postionen. Mit einer choreografischen Präzision, die ebenso fasziniert wie ihre stimmliche Sicherheit.
Mit dieser Traumebene schließt Mitchell gleichsam direkt an die symbolistischen Zugang des Dichters der Vorlage, Maurice Maeterlinck, an und übersetzt das in eine Art eigenen Theater-Surrealismus, dessen Rezeption am besten gelingt, wenn man die Bereitschaft mitbringt, etwas zu erfühlen oder zu erahnen. Hier dominiert die Logik des Traums allemal über die einer rational begründeten Wirklichkeit.
Zum Faszinierenden an dieser Inszenierung gehört der lautlose Wechsel der Räume durch schnelle Blenden wie im Film. Wenn ein Raum verschwindet, öffnet sich zugleich der nächste. Der Turm mit der Wendeltreppe, der links von ganz oben, nach ganz unten führt. Der schmale Korridor. Das Speisezimmer mit der Tafel für die gespenstisch steifen Mahlzeiten der Familie um das Oberhaupt Arkel. Oder das Schlafzimmer, in das auf geheimnisvolle Weise die Natur hinein wuchert. Ein surrealer Ort der Begegnung von Mélisande und Golaud. Während ihr dessen linkisch wirkender Halbbruder eher zufällig im Hause über den Weg läuft und ihr verfällt. Großen Eindruck macht dann noch einmal das verwahrloste Schwimmbad im Untergeschoss, in dessen Riesenbecken nur noch eine Pfütze Wasser steht.
Bei Katie Mitchell verselbständigen sich die Gedanken, Möglichkeiten, Obsessionen. Als personifiziertes alter ego von Mélisande, mit dem sie den Platz tauscht, durch dessen Augen sie sich selbst zusieht und beobachtet. Ob Mélisande überlebt, bleibt durch die identischen Eingangs- und Schlussbilder in der Schwebe. Was wir aber erleben, ist ein permanentes gedankliches Grenzüberschreiten, Ausleben, Zerbrechen.
Im Detail des (Alp-)Traumes dazwischen wird jedoch alles sehr konkret und handgreiflich. So ähnelt es mehr einer statischen Pantomime, wenn Pélleas und Mélisande nackt unter der Bettdecke verschwinden. Doch bei der Begegnung im Schwimmbad springt der Funke zwischen den beiden sehr handgreiflich über.
Auch Szenisch atmet dieser Debussy jenes Wagnerformat, das der Finne Esa-Pekka Salonen mit dem Philharmonia Orchester aus London im Graben beisteuert. Vielleicht ist es auch der Nachhall seiner Chéreau-Elektra aus dem Jahre 2013. Zur Faszination der Szene und des Orchesters kommt ein Protagonistenensemble, bei dem nicht nur die überragende Barbara Hannigan eine personifizierte Einheit von Klang und Bewegung ist. Ebenso präzise im Spiel und überzeugend im vokalen Porträt sind Laurent Naouri als ihr bedrohlich wirkender Mann Golaud und Stéphane Degout als dem gegenüber viel unsicherer wirkender Pelléas. Franz-Josef Selig als Arkel, Sylvie Brunet-Grupposo als Geneviève und Chloé Briot als Yniold komplettieren das fabelhafte Ensemble, in dem selbst Thomas Dear seinen kleinen Auftritt als Arzt profiliert.
FAZIT
Katie Mitchell hat (nach Written on Skin und Alcina) zum dritten Mal eine traumwandlerisch stilsichere De-luxe Inszenierung in Aix-en-Provence abgeliefert. Das Festival hat ihr eine in jeder Hinsicht passende Crew garantiert.
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