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Leichtes Leben vom Schicksal belehrtVon Christoph Wurzel / Fotos von Oliver Vogel Zu den ABC-Waffen der Opernbühnen, den treffsichersten Hits dieses Genres gehört neben Aida und Carmen nicht zuletzt auch Puccinis Bohème - ein Repertoire, das volle Häuser garantiert, oft auch gleichgültig in welcher Art der Inszenierung. Die Opernfestspiele Heidenheim setzen zwar auch auf das populäre Repertoire, aber mit Petra Luisa Meyer hat man hier bereits zum zweiten Mal (nach Bajazzo und Cavalleria vor zwei Jahren - siehe unsere Rezension) eine Regisseurin verpflichtet, die dem Allzubekannten noch neue Seiten abzugewinnen vermag. So geht auch die diesjährige Bohème in Heidenheim nicht als bloßes Rührstück durch, sondern lässt darin auch tiefere Schichten erkennen. Im Rahmen der eher bescheidenen Bühnenmittel der Heidenheimer Burgruine (und der Bühne des Alternativ-Spielortes Kongresszentrum) zeigt die Regisseurin in klarer Erzählung Ausschnitte aus dem Leben von heutigen Bohèmiens, die sich im Prinzip von denen des 19. Jahrhunderts (der originalen Zeit dieser Opernhandlung) nur durch etwas andere Gewohnheiten unterscheiden. Aber das Lebensgefühl scheint dasselbe zu sein: Sie feiern das Leben eher unbeschwert und vordergründig. Umso tiefer zieht es sie hinunter, wenn das Schicksal einmal schwer zuschlägt. So lässt die Regie nach vier Bildern so etwas wie eine Schocktherapie über die vier Lebenskünstler hereinbrechen. Ein mögliches tragisches Ende wird schon zu Beginn angedeutet, wenn der Fotograf und Videokünstler (im Libretto der Maler) Marcello bereits einen (Schein-) Selbstmord vor seiner Kamera inszeniert. Oder ist dies vielleicht auch nur eine ganz besonders zynische Spielart, das Leben bis an die Grenzen „spüren“ und austesten zu wollen? Jedenfalls wird trotz aller materieller Beschränktheit gefeiert, bis der Vermieter die Schulden einzutreiben versucht, der dann ziemlich kaltschnäuzig wieder heraus expediert wird. Rodolfo (Jesus Garcia) und Mimi (hier als Premierenbesetzung Stefania Dovhan) In zugespitzter Klarheit und mitunter beißender Schärfe lässt Marcus Bosch am Pult die Stuttgarter Philharmoniker das Parlando der Partitur hier realisieren, bevor er mit dem Eintreten Mimis in das Zimmer dieser Vierer-WG die lyrischen Schönheiten in Puccinis Musik schwelgerisch ausbreitet, ohne sie je sentimental klingen zu lassen. Die folgende Liebesszene zwischen Rodolfo und Mimi gestaltet die Regie nicht allein als einen Moment von Liebe auf den ersten Blick, sondern durchaus recht handfest, indem Rodolfo seiner Minutenbekanntschaft schon bald an die Wäsche geht. Im Quartier Latin: Ensemble Das zweite Bild im Quartier Latin leidet ein wenig unter der Enge der Bühne, jedenfalls sollte hier wohl zu viel untergebracht werden. Dass neben den Boulevard-Tischen und allerhand Volksauflauf auch noch in einer Ecke Eishockey gespielt wird, trägt zur visuellen Übersichtlichkeit nichts bei, verstärkt allerdings den Eindruck grenzenloser Vergnügungssucht. Die kommt auch bestens in den üppigen Kostümen dieser konsumverliebten Gesellschaft mit ihren vollen Einkaufstüten und luxuriösen Marken zum Ausdruck. Die Sopranistin Michaela Maria Mayer hat zwischen all diesem Tand als Musetta mit ihrem Walzer den passend exaltierten Auftritt, den sie vokal glänzend präsentiert. Mimi (hier Premierenbesetzung: Stefania Dovhan) stirbt in den Armen Rodolfos (Jesus Garcia). Das dritte Bild führt nicht an die Barrière d'Enfer in Paris, sondern in ein zwielichtiges Etablissement, in dem Alcindoro als Transvestit eine skurrile Gesellschaft aus Narzissten, Trinkern und Lebedamen anführt. Als Preis für einen derart verschwenderisch verausgabenden Lebensgenuss wird der Bruch von Beziehung und Liebe zwischen den Paaren Marcello / Musetta und Rodolfo / Mimi fast unabwendbar. Und auch im vierten Bild wieder in der Absteige der vier Bohèmiens geht es anscheinend so ausgelassen weiter wie bisher, bis die harte Realität in Gestalt der todkranken Mimi hereinbricht und dem oberflächlichen Leben durch bittere Tragik plötzlichen Ernst aufzwingt. Der Schock des Sterbens lässt die jungen Leute ratlos zurück - ein bitteres, offenes Ende einer bisher anscheinend so sorglosen Zeit. Musikalisch könnte Heidenheim mit dieser Produktion auch mit großen Häusern konkurrieren. Das Sängerensemble ist exquisit. Exzellent sind die beiden Hauptrollen besetzt. Die rumänische Sopranistin Renata Vari gibt der Mimi stimmlich Zartheit und Wärme, gestaltet mit Emphase und vokal vollkommen die melodischen Bögen ihrer Auftrittsarie und spielt die Rolle so rein und unschuldig, wie Puccini seine Heldin gedacht haben mag. Als Rodolfo glänzt der Amerikaner Jesus Garcia mit höhensicherem Tenor, im Timbre mit leichter Pavarottinote und eleganter Phrasierungskunst - ein Sängerauftritt in Bestform. An der Seite der höchst präsenten Michaela Maria Mayer als Musetta überzeugt auch der Koreaner Antonio Yang als Marcello voll und ganz. Florian Götz als Schaunard und der Kanadier Randall Jakobsh vervollkommnen das hochklassige internationale Ensemble der Hauptrollen. Als Festspielchor wurde wieder der Philharmonische Chor aus Brünn verpflichtet, der ergänzt vom Kinderchor eines Heidenheimer Gymnasiums den Massenszenen im zweiten Bild kraftvoll Vitalität verleiht. Die Stuttgarter Philharmoniker sind wieder das Festspielorchester und spielen in allen Gruppen nicht nur engagiert, sondern besonders auch in den solistischen Passagen klangschön und differenziert. Marcus Bosch lotet die Partitur intensiv auf Details aus und formt mit dem Orchester einen enorm transparenten und farbenreichen Gesamtklang, der auch in der nicht optimalen Akustik des Saales im Kongresszentrum zum Tragen kommt. Am Abend der besprochenen Aufführung konnte leider die Bühne des Rittersaals in der Burgruine aus Witterungsgründen nicht bespielt werden. Vielleicht wäre es eine Lösung, angesichts des zumeist etwas raueren Klimas auf der schwäbischen Ostalb die Aufführungen zeitlich vorzuziehen, um zu niedrige Temperaturen gegen Aufführungsende zu umgehen.
FAZIT Die Opernfestspiele Heidenheim haben in diesem Jahr mit einem nochmals erweiterten Programm weiter an Qualität gewonnen. Nicht zuletzt mit dieser stark gefeierten Bohème -Produktion haben sie wieder ein Glanzlicht gesetzt, das über die schwäbische Kleinstadt hinaus in die Opernlandschaft hierzulande zu strahlen vermag.
Weitere Rezensionen zu
den
Opernfestspielen Heidenheim 2016 |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Lichtdesign
Choreinstudierung
Einstudierung Chöre
Stuttgarter Philharmoniker
Tschechischer
Eleven Neuer Kammerchor
SolistenRodolfo,
Schriftsteller Marcello, Maler Schaunard, Musiker Colline, Philosoph
Mimi
Musetta Monsieur Benoit, Parpignol |
- Fine -