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Endstation GrenzeVon Roberto Becker / Fotos ©StoflethDiese Uraufführung ist eine Lektion in europäischer Geschichte der Flucht und Vertreibung, der Solidarität und unterlassenen Hilfe. Am Ende eine der Verzweiflung. Der Lyoner Opernintendant Serge Dorny hat sein traditionelles, jedes Mal um ein Motto gruppiertes kleines Opernfestival im März diesmal mit einer Uraufführung geadelt. Zum aktuellen Motto "pour l'humanité" passt eine Oper über die letzte Nacht von Walter Benjamin (1892-1940) ganz gut. Und genauso heißt sie auch: Benjamin, dernière nuit, also Benjamin, die letzte Nacht. Walter Benjamin gibt's gleich doppel
Der Librettist Régis Debray (76) ist in Frankreich eine Berühmtheit. Seine Biographie ist selbst romantauglich. Man findet ihn an der Seite von Che Guevara und im bolivianischen Gefängnis. Er war aber auch Berater des chilenischen Präsidenten Allende und von Francois Mitterand. Eine solche "Vorbereitung" auf ein Opernlibretto über Walter Benjamins letzte Nacht ist wahrscheinlich nur in Frankreich denkbar.
Mit der von Januar bis September 2012 komponierten Benjamin-Partitur schmiegt er sich mit einem effektvollen Konversationsstil eng an den Text an. Er hat dabei aber auch keine Probleme tonale Zitate einzubauen. Oder auch verschiedene Klangebenen so zu schichten und zu überlagern, dass es wirklich nach dem sprichwörtlichen Tanz auf dem Vulkan klingt. In der Szene, in der Bert Brecht und Benjamin 1933 in einem Berliner Cabaret Schach spielen und sich hinten eine Marlene-Dietrich -Wiedergängerin auf dem Pianola räkelt, mischen sich immer wieder Fetzen von "Lili Marleen" in den Sound. Die Musik ist kraftvoll farbig, hat einen immer vorwärtsdrängenden Drive. Vorwärts heißt hier freilich: auf die Katastrophe zu. Debray hat seinen Text ursprünglich als Schauspiel konzipiert. In der Oper gibt es Walter Benjamin als Sprechrolle und als Sänger. Der Schauspieler agiert auf der Zeitebene jener Nacht vom 25. zum 26. September 1940, die mit Benjamins Selbstmord im katalanischen Port-Bou endet. Der Sänger übernimmt immer dann, wenn Benjamin in den kurzen Szenen der Erinnerung (die 90 Minuten sind in 14 Szenen unterteilt) wichtigen Personen seines Lebens begegnet. Und da lässt Debray nicht nur aufmarschieren, was Rang und Namen hat, um die Zeit zu illustrieren, sondern auch, wer exemplarisch für die innere Zerrissenheit des Marxisten und Juden Benjamin steht. Dieses Tableau reicht von Asja Lacis (1891-1979) über Hannah Arendt (1906-1975), Arthur Koestler (1905-1983), Gershom Scholem (1897-1982), Bertolt Brecht (1898-1956), André Gide (1869-1951) bis Max Horkheimer (1875-1973). Hannah Arendt ist eine enge Freundin Benjamins
Die Inszenierung von John Fulljames spielt leitmotivisch mit Paul Klees berühmten "Angelus Novus". Dieses Blatt ist durch Walter Benjamins Interpretation zu einiger Berühmtheit gelangt. Bei ihm ist es der Engel der Geschichte. Benjamin hatte das Blatt auch auf der Flucht bei sich. Am Ende sieht man, wie sich auf den drei Projektionswänden der oberen Bühnenhälfte ein Bildschirm fürs Googeln nach diesem Angelus Novus aufbaut. Unter die Vielzahl der Bildern ist immer wieder ein Porträt von Walter Benjamin zu finden. Das Gedächtnis des Internets hat beide miteinander verbunden. Michael Levine (Bühne) umgibt das Bett in Benjamins Hotelzimmer ansonsten mit dominierenden Regalen, die mit Erinnerungsstücken vollgestopft sind. Sogar einige der Menschen aus Benjamins Vergangenheit sind hier deponiert. Darüber gibt es immer wieder Videoeinspielungen: Wir schauen in das Buch des Hoteliers mit dem Eintrag von Benjamins Daten. Oder in die Partitur, genau an jener Stelle, an der wir in diesem Moment sind. Wir sehen aber auch die beiden großen Diktatoren des Jahrhunderts in Großaufnahme. Der eine mit dem anmaßenden Blick auf den Eifelturm, den andren in der freundlichen Maske des gütigen Vaters der Völker. Das Bett - der Ort der Erinnerung
Musikalisch beherrscht Bernhard Kontarsky am Pult den raumfüllenden Klang. Den singenden Teil von Benjamins Persönlichkeit ist bei Jean-Noel Briend ebenso gut aufgehoben wie der sprechende bei Sava Lollos. Alle Rollen um diese Zentralfigur herum werden als Ensembleleitung überzeugend bewältigt, wobei Michaela Selinger ihre Hannah Arendt besonders profiliert. Es ist eine Geschichtslektion, die musikalisch packt und von der man inhaltlich umso mehr hat, je mehr man über die auftretenden Personen weiß. Kann gut sein, dass die vielen jungen Zuschauer, deren Anteil in Lyon wie immer auffällig hoch ist, angeregt werden, da weiter zu denken, wo die Oper aufhört. Eine ausführliche Internetrecherche zum Personal dieser Oper wäre nicht die schlechteste Folgewirkung. FAZIT Der Oper Lyon ist eine überzeugende Uraufführung gelungen, die ein historisches Thema mit packender Musik kombiniert. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Licht
Choreographie
Video
Chor
Solisten
Walter Benjamin (Sänger)
Walter Benjamin (Schauspieler)
Asja Lacis
Hannah Arendt
Arthur Koestler
Gershom Sholem
Bertolt Brecht
André Gide
Max Horkheimer
Sängerin im Cabaret
Madame Henny Gurland (Schauspielerin)
Joaseph Gurland
Patron der Herberge (Schauspieler)
Arzt (Schauspieler)
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