"Konkurrenz"-Iphigenie
Von Thomas Molke
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Foto: © Ludwig OlahObwohl
Niccolò Piccinni über 80 Opern komponiert hat und zu Lebzeiten große Erfolge
verbuchen konnte, ist er heutzutage eigentlich nur noch über seine Anhänger, die
sogenannten Piccinnisten bekannt, die in Paris einen erbitterten Streit gegen
Glucks Anhänger um die Vormachtstellung in der Oper führten. Dass Gluck nämlich
nach dem Tod des französischen Königs Ludwig XV. nach Paris geholt wurde,
betrachtete Ludwigs Mätresse Marie-Jeanne Bécu du Barry als Affront und
beschloss, einen Rivalen nach Paris kommen zu lassen, um einen regelrechten
Opernstreit zu entfachen. Dabei waren aber weder Gluck noch Piccinni bereit,
sich an diesem Machtspiel zu beteiligen, da sie sich als Komponisten gegenseitig
sehr schätzten. Als sie beauftragt wurden, beide eine Oper zum gleichen Stoff zu
komponieren, wählt Gluck kurzerhand ein anderes Thema, was den beiden Parteien
natürlich nicht gefiel. Folglich wurde eine Intrige gesponnen. Nachdem Gluck
nach Wien abgereist war, erhielten beide erneut den Auftrag, auf ein
unterschiedliches Libretto Iphigénie en Tauride zu vertonen, ohne dieses
Mal allerdings voneinander zu wissen. Doch auch diese List ging nicht auf. Als
Piccinni erfuhr, dass Gluck mit der fertigen Partitur in Paris angekommen war,
wurde die Uraufführung seiner Oper zunächst verschoben, da er von Glucks
Vertonung so begeistert war, dass er dieser Version nichts entgegenstellen
wollte. Erst zwei Jahre später kam dann seine Iphigénie an der Pariser
Oper heraus, konnte allerdings nicht an Glucks Erfolg anknüpfen und verschwand
sehr schnell vom Spielplan. Piccinni schlug im Anschluss eine neue musikalische
Richtung ein, die er dann zwei Jahre später mit seiner Oper Didon
manifestierte. Da man das diesjährige Festival unter das Motto "Streitkultur"
gestellt hat, hat man sich entschieden, Piccinnis Iphigénie zur deutschen
Erstaufführung zu bringen, um einen heutigen Vergleich mit Gluck zu wagen.
Bevor man sich dem musikalischen Genuss jedoch hingeben konnte, wurde vom
Bürgermeister der Stadt Nürnberg und dem Honorarkonsul ein sehr trauriges Thema
angesprochen. Als Partnerstadt von Nizza sei man in Nürnberg natürlich doppelt
betroffen von den Ereignissen der letzten Woche und habe beschlossen, diese
konzertante Aufführung einer Oper, die das Thema Freiheit behandele, den Opfern
des Anschlags von Nizza zu widmen. Dazu hatte man sogar in einer Pressemeldung
alle Nürnberger und Opernfreunde, die noch keine Karte für den Abend hatten,
eingeladen, kostenfrei die Aufführung zu besuchen, solange es die Platzkapazität
zuließe. Leider wurde dieses Angebot nicht stark ausgenutzt. Im Kleinen Saal der
Meistersingerhalle blieben an diesem Montagabend trotzdem zahlreiche Plätze
frei.Die Handlung geht zurück auf eine mythologische Episode der
Atriden, zu der Euripides eine auch heute noch bekannte Tragödie verfasste
und die durch ein 1757 in Paris uraufgeführtes Schauspiel von Guimond de la
Touche in den folgenden Jahren einen regelrechten Iphigenie-Hype im Musik-
und Sprechtheater auslöste. Agamemnon, der König von Mykene, hatte einst seine
Tochter Iphigenie in Aulis geopfert, um mit den Griechen nach Troja segeln zu
können. Die Göttin Artemis (Diana) rettete Iphigenie jedoch vor dem Opfertod und brachte
sie nach Tauris zu dem König der Skythen, Thoas, wo sie als Priesterin jeden Fremden der
Göttin opfern musste. Klytämnestra, Iphigenies Mutter, war über den
vermeintlichen Tod der Tochter so verletzt, dass sie gemeinsam mit ihrem
Liebhaber Ägisth ihren Gatten Agamemnon ermordete, als dieser siegreich aus
Troja zurückkehrte. Daraufhin rächte Iphigenies Bruder Orest den Mord am Vater
und tötete die eigene Mutter, woraufhin er von den Furien verfolgt wurde. Ein
Orakelspruch in Delphi verhieß ihm, dass er nur Frieden finden werde, wenn er
die Schwester - Orest glaubte, dass damit die Statue der Göttin
gemeint sei - aus dem Tempel in Tauris zurück nach Argos bringe. Die Oper beginnt mit Iphigenie (Iphigénie), die von
düsteren Vorahnungen gequält wird, und in der Tat bewahrheitet sich ihre
Sorge, als kurz darauf zwei griechische Gefangene zu ihr gebracht werden, die
sie opfern soll, da Thoas um sein Leben fürchtet, sollte ein Ankömmling auf
Tauris nicht den Opfertod sterben. Doch Iphigénie zögert, und da
Thoas sie liebt, gestattet er ihr, zumindest einen der beiden Gefangenen ziehen
zu lassen. Iphigénies Wahl fällt auf Oreste, doch dieser weigert sich, seinen Freund Pylades (Pilade) sterben zu lassen.
Nach einer langen Auseinandersetzung erklärt sich Pilade widerwillig bereit,
nach Mykene zurückzukehren und Oreste dem Opfertod zu überlassen.
Kurz vor der Opferung gesteht Iphigénie Oreste, wer sie ist, woraufhin sich
Oreste als ihr Bruder zu erkennen gibt. Daraufhin weigert sich Iphigénie Thoas'
Befehl auszuführen. Bevor Thoas die
beiden bestrafen kann, erscheint Pilade mit den Griechen und tötet Thoas.
Der folgenden kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Taurern und Griechen
gebietet Diana (Diane) Einhalt, die Oreste von seiner Schuld freispricht und den
Griechen den Auftrag gibt, ihr Standbild zurück nach Griechenland zu
bringen.
Iphigénie (Claudia Sorokina) mit Oreste (Frédéric Cornille,
Mitte) und Pilade (Benedikt Kristjánsson, rechts) (im Hintergrund:
Wolfgang Katschner mit der Camerata Salzburg) Musikalisch hat auch Piccinnis
Fassung einiges zu bieten. Für die Titelpartie ist Claudia Sorokina verpflichtet
worden, die bereits bei der Eröffnung der Festspiele vor zwei Jahren die Partie
der Iphigenie in Glucks Iphigenie in Aulis interpretierte (siehe
auch unsere Rezension),
und diese Rolle nun gewissermaßen inhaltlich fortführt. Dabei überzeugt sie
direkt zu Beginn des Abends mit dramatischem Sopran, wenn sie in "O jour fatal"
ihr grausames Schicksal in Tauris beklagt. Da kann auch der Damenchor des
Berliner Vocalconsort trotz inniger Interpretation keinen Trost spenden. Mit
ergreifender Stimmmodulation beschreibt Sorokina den Traum, der ihr ein neues
grausames Opfer prophezeit und wendet sich voller Flehen an die Göttin. Doch
diese erhört ihre Bitten (noch) nicht. Jean-Vincent Blots Auftritt als Thoas
gleicht einem regelrechten Sturm, der von der Camerata Salzburg unter der
Leitung von Wolfgang Katschner mit temporeichem Spiel und großer Dramatik
entfacht wird. Blot punktet dabei mit profunden Tiefen und macht die Ängste, die
der Tyrann hat, durchaus nachvollziehbar. Gut besetzt ist auch das Freundespaar
Oreste und Pilade mit Frédéric Cornille und Benedikt Kristjánsson. Cornille
überzeugt als Oreste bei seinem "O sort funeste" im zweiten Akt mit
durchschlagkräftigem Bariton, der Orestes Entschlossenheit unterstreicht.
Kristjánnson hält als Pilade mit einem weichen, flexiblen Tenor dagegen.
Als musikalischer Höhepunkt dürfte der dritte Akt betrachtet werden. In einem
erneuten "O jour fatal" beschreibt Sorokina eindrucksvoll
Iphigénies innere Zerrissenheit, wenn sie sich nicht entscheiden kann, welchen
von den beiden Gefangenen sie ziehen lassen soll. Erneut kann ihr der Chor der
Priesterinnen keinen Trost spenden, sorgt aber musikalisch für berührende
Momente. Wenn Pilade sich dann weigert, den Freund zurückzulassen, begeistert
Cornille in der fulminanten Arie "Cruel! Et tu dis que tu m'amais", in der
Oreste Pilade mit expressiven Läufen schwere Vorwürfe macht, so dass Pilade gar
nichts anderes übrig bleibt, als einzulenken. Das Terzett, in dem Pilade dann
von Iphigénie und Oreste Abschied nimmt, begeistert dann durch bewegende
Innigkeit. Auch der zu Beginn des vierten Aktes fortgesetzte innere Kampf
Iphigénies und die Wiedererkennung der beiden Geschwister gestalten Sorokina und
Cornille mit großer Dramatik. Die Rettung erfolgt dann etwas abrupt. Thoas' "Je
meurs" klingt nicht sehr überzeugend. Auch der Chor, der anschließend zur
kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Taurern und Griechen ansetzen soll,
verstummt relativ schnell und unvermittelt durch den Auftritt Dianes. Pauline
Courtin stattet die Göttin mit weichem Sopran und klaren Spitzentönen aus. Die
Oper endet mit großem Jubel, der genauso wie die Ouvertüre schon ein wenig auf
Beethoven hinweist. Das Publikum belohnt die Solisten, den Chor und die Musiker
mit großem Beifall.
FAZIT
Piccinnis Musik hat es durchaus verdient, wiederentdeckt zu werden. Ob man nun
seiner oder Glucks Iphigénie den Vorzug gibt, bleibt jedem selbst
überlassen.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Wolfgang Katschner
Dramaturgie
Christian Baier Berliner Vocalconsort Camerata Salzburg
Solisten
Iphigénie
Claudia Sorokina
Oreste
Frédéric Cornille
Pilade
Benedikt Kristjánsson
Thoas
Jean-Vincent Blot
Diane
Pauline Courtin La Pretresse
Anne Bretschneider
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Informationen
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