Elena erinnert sich
Von Thomas Molke
/ Fotos vom Rossini Opera Festival
Rossinis Melodramma La donna del lago kann als die erste
Oper bezeichnet werden, die ein Werk des schottischen Dichters Sir Walter Scott
für das Musiktheater entdeckte, und löste in den folgenden Jahren eine regelrechte
Opernmode aus, in der bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts mehr als 25 weitere
Opern entstanden, von denen das heute noch bekannteste wohl Donizettis Lucia
di Lammermoor sein dürfte. Ob Rossini selbst auf den Stoff aufmerksam
geworden ist oder ob die Komposition ursprünglich für Gaspare Spontini gedacht
war, der 1819 vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. zum ersten
Kapellmeister und Generalmusikdirektor ernannt worden war und deshalb sein
Engagement in Neapel am Teatro San Carlo absagen musste, ist nicht ganz geklärt.
Jedenfalls nutzte Rossini die Möglichkeit, mit der neuen Oper die Gunst des
Publikums in Neapel nach dem Fiasko mit Ermione zurückzugewinnen, und
auch wenn die Premiere recht kühl aufgenommen wurde, entwickelte sich das Stück
nach kleineren musikalischen Umarbeitungen zu den erfolgreichsten Werken des
Schwans von Pesaro. Ab 1860 verschwand die Oper jedoch von den Spielplänen, und
auch die seit mehreren Jahren unternommenen Versuche, dem Werk erneut einen
festen Platz im Repertoire einzuräumen, sind bis jetzt nicht von großem Erfolg
gekrönt, was zum einen an der Handlung liegen könnte, die für heutige
Inszenierungen einige Tücken beinhaltet. Zum anderen enthält das Stück mit
Giacomo V und Rodrigo zwei extrem anspruchsvolle Tenorpartien, die von den
meisten Häusern nicht leicht zu besetzen sein dürften. In Pesaro hat man mit Juan Diego Flórez und Michael Spyres zwei Startenöre engagiert, so dass
zumindest die musikalische Besetzung kein Problem darstellt.
König Giacomo V (Juan Diego Flórez) hat sich als
Uberto getarnt, um die geheimnisvolle "Frau vom See" kennen zu lernen.
Das Libretto ist eine Bearbeitung des lyrischen Epos The Lady of the Lake
von Sir Walter Scott, das sich zu Rossinis Zeiten in Italien und Frankreich sehr
großer Beliebtheit erfreute, auch wenn Stendhal dieses Gedicht als schlecht
beurteilte. Elena (Ellen) lebt mit ihrem Vater Duglas (Douglas) zurückgezogen in den
schottischen Highlands, nachdem der damalige König Giacomo V (James V.) ihren
Vater vom Königshof vertrieben hat. Aus Zorn darüber plant Duglas, mit dem
Clan um den mächtigen Rodrigo (Roderick) den König zu stürzen, und verspricht
Rodrigo als Gegenleistung die Hand seiner Tochter. Elena sind die Umsturzpläne
ihres Vaters und die Enge des Dorfes zuwider, so dass sie sich häufig in die
Natur auf einen See flüchtet. Dort begegnet sie am Ufer einem Unbekannten, der
sich als Uberto ausgibt, in Wirklichkeit jedoch der König ist. Elena empfindet
eine tiefe Sympathie für den Fremden, will aber ihrem heimlichen Geliebten
Malcolm die Treue bewahren. Uberto respektiert ihre Gefühle und schenkt ihr
einen Ring, mit dem sie sich, wenn sie in Not geraten sollte, vertrauensvoll an
den König wenden solle. Nach einem Duell zwischen Uberto und dem eifersüchtigen
Rodrigo, in dem Rodrigo fällt, überwältigen die königlichen Truppen die
aufständischen Clans und nehmen Duglas und Malcolm gefangen. Als Elena mit dem
Ring den König aufsucht, um Gnade für ihren Vater und Malcolm zu erbitten,
erkennt sie in dem König den geheimnisvollen Fremden, der ihre Bitte großzügig
erfüllt.
Duglas (Marko Mimica) will seine Tochter Elena
(Salome Jicia) zwingen, den Clanchef Rodrigo zu heiraten.
Damiano Michieletto erzählt in seiner Inszenierung die Geschichte
in der Retrospektive und wählt dabei einen melancholischen und recht traurigen
Ansatz. Noch bevor die Musik beginnt, sieht man Elena und Malcolm als altes
Ehepaar, die sich eigentlich nichts mehr zu sagen haben. Elena verehrt ein
Portrait des Königs wie einen Schrein, und Malcolm leidet unter dem Gefühl, dass
Elena scheinbar bereut, ihn damals dem König vorgezogen zu haben. So nimmt er
das Bild des Königs in die Hand und will es am Tisch zerschmettern. Doch Elena,
die neue Blumen für den Tisch mit dem Portrait geholt hat, hindert ihn daran. Im
Folgenden schüttet er das Blumenwasser über den Tisch und lässt Elena allein im
Raum zurück, die verzweifelt versucht, das Wasser mit den Händen aufzufangen.
Soll das eine erste Anspielung auf den See sein? Wenn Elena dann zum Beginn der
Musik in die Vergangenheit eintaucht, gibt der Raum zunächst durch geschickte
Lichtregie den Blick auf den Chor der Hirten und Jäger frei, die im Hintergrund
wie Geister der Vergangenheit erscheinen. Anschließend verschwindet der Raum im
Schnürboden, und man sieht ein riesiges verfallenes Haus, in dem wohl Elena ihre
Jugend verbracht hat. Die Ruine ist von hohem Schilf überwuchert, und in der
Mitte befindet sich ein winziger Teich, der wohl den See darstellen soll. Hier
taucht nun die junge Elena auf und begegnet am "See" erstmals dem König. Die
alte Elena hält den Ring in den Händen, den der König ihr einst gegeben hat, und
steckt ihn wie ein Geist an seinen Finger. Dabei wird deutlich, wie tief ihre
Gefühle für den König sind und dass Malcolm eigentlich gar keinen Platz in ihrem
Leben hat.
Elena (Salome Jicia) zwischen Liebe und
Pflichtgefühl: auf der linken Seite: Serano (Francisco Brito) und Rodrigo
(Michael Spyres), auf der rechten Seite: Duglas (Marko Mimica) und Malcolm (Varduhi
Abrahamyan)
Man mag diesen Ansatz mögen oder nicht, jedenfalls wird er im
weiteren Verlauf des Stückes ein wenig überstrapaziert, da die alte Elena und
der alte Malcolm ständige Begleiter der Szene bleiben. So wird zwar das
Wiedersehen zwischen Elena und Malcolm im ersten Akt innig gestaltet und
versöhnt mit dem traurigen Leben der beiden im Alter, hat aber dennoch einen
bitteren Beigeschmack. Elena tauscht nämlich eigentlich nur Zärtlichkeiten mit dem
alten Malcolm aus, und Malcolm herzt die alte Elena. Als die beiden alten
Menschen während des Duetts zueinander finden, verweilt das Glück nur einen
kleinen Augenblick. Unklar bleibt, wieso die alte Elena mit schwarzen Blumen im
Unterrock aus dem Wasser steigt, wenn Duglas seine Tochter zwingen will, Rodrigo
zu heiraten. Auch die Tatsache, dass Elena am Ende ihr Alter Ego in den See
schubst und sich während ihres Schluss-Rondos selbst in die alte Frau
verwandelt, wirft Fragen auf. Paolo Fantin hat mit der riesigen von hohem Schilf
überwucherten Ruine ein beeindruckendes Bühnenbild entworfen, das in eine
surreale Welt eintauchen lässt, wie sie in einer Traumsequenz erlebbar ist. Wenn die Ruine im zweiten Akt auch noch angehoben wird, gibt die Bühne
einen Blick auf ein Schilfmeer frei, das zwar am Schluss nicht mehr zum Schloss
des Königs passt, aber dennoch mit den Lüstern, die dann aus dem Schnürboden
herabgelassen werden, schön anzusehen ist.
Rivalen unter sich: Giacomo V (Juan Diego Flórez,
links) und Rodrigo (Michael Spyres, rechts)
Musikalisch lässt der Abend keine Wünsche offen und bewegt sich
auf Festspielniveau. Juan Diego Flórez, der in Pesaro bereits in der letzten
Produktion die Partie des Königs interpretiert hat, begeistert erneut mit
strahlenden Höhen und sauber angesetzten Spitzentönen. Wie er in der Kavatine im
zweiten Akt, "Oh soave fiamma" mit flexibler Stimmführung als Hirte verkleidet
auf der Suche nach seiner Geliebten Elena ist, löst beim Publikum genauso
frenetischen Beifall aus wie die Duette mit Elena im ersten Akt. Salome Jicia,
die im letzten Jahr als Contessa di Folleville in der Accademia del Belcanto
Produktion von Il viaggio a Reims aufgetreten ist, bewegt sich in der
Titelpartie absolut auf Augenhöhe. In den beiden Duetten mit Flórez findet Jicia
zu einer betörenden Innigkeit, die die Frage aufwerfen lassen, ob die alte Elena
nicht zurecht ihre Entscheidung für Malcolm bereut. Das berühmte Schlussrondo "Tanti
affetti in tal momento" gestaltet Jicia mit beweglicher Stimmführung und sauber
ausgesungenen Koloraturen, wobei lediglich ihre Verwandlung in die alte Elena in
dieser Szene verwirrt. Mit Michael Spyres als Rodrigo hat Flórez stimmlich und
darstellerisch einen kongenialen Gegenspieler. Wie sich die beiden vor dem
großen Duell im zweiten Akt die hohen Töne regelrecht um die Ohren hauen, ist
großartig. Auch in seiner Auftrittskavatine punktet Spyres mit sauber
angesetzten Spitzentönen und atemberaubenden Oktavsprüngen.
Ein weiterer Glanzpunkt der Inszenierung ist Varduhi Abrahamyan,
die schon vor vier Jahren in der Partie des Malcolm am Theater an der Wien für
Begeisterungsstürme sorgte. Ihr warmer und beweglicher Alt geht unter die Haut,
wenn sie in ihrer Auftrittskavatine "Elena! oh tu, che chiamo!" ihre Gefühle für
die Geliebte offenbart, die Malcolm letztendlich dazu veranlasst haben, sich den
Rebellen anzuschließen. Im Duett mit Jicia verschmelzen die beiden Stimmen zu
einer Einheit, die erwarten lässt, dass Elenas Entscheidung für Malcolm doch die
richtige ist. Marko Mimica punktet als unerbittlicher Vater Duglas mit dunklem
Bass, und Ruth Iniesta lässt als Elenas Vertraute Albina mit leuchtendem Sopran
aufhorchen, auch wenn Michielettos Personenregie bei dieser Figur nicht ganz
klar wird. So ist es Albina, die Rodrigo zu Elena und Giacomo führt und damit
indirekt Auslöser des folgenden Duells wird. Der von Andrea Faidutti
einstudierte Chor und das
Orchester des Teatro di Comunale di Bologna unter der Leitung von Michele
Mariotti runden den musikalischen Abend hervorragend ab, so dass es für alle Beteiligten
am Ende frenetischen Beifall gibt.
FAZIT
Musikalisch ist der Abend ein Fest der Stimmen. Über die Inszenierung kann man
geteilter Meinung sein.
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