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Beeindruckende Bilder zu einer verworrenen Geschichtevon Thomas Molke / Fotos: JU / Ruhrtriennale (© Julian Roeder)
Wenn der Bundespräsident Joachim Gauck zu einer Uraufführung der Ruhrtriennale anreist, sind nicht nur im Vorfeld erhöhte Sicherheitsvorkehrungen angesagt, sondern der Produktion wird auch eine besondere Bedeutung und Relevanz beigemessen. Dabei hat der künstlerische Leitung Johan Simons aber keineswegs mit diesem Stück sein zweites Jahr eröffnet, sondern es in der Mitte der diesjährigen Ruhrtriennale platziert. Der Aufführungsort ist mit 2015 geschlossenen Zeche Auguste Victoria Marl ebenso neu wie im letzten Jahr die Kohlenmischhalle Zeche Lohberg in Dinslaken, mit der Simons mit Accattone seine dreijährige Intendanz begann (siehe auch unsere Rezension). Und vieles erinnert auch an die Uraufführung im letzten Jahr. Dass Gauck zu diesem Ereignis angereist ist, mag mit der Thematik des Stückes zusammenhängen, das mit Blick auf die anhaltenden Flüchtlingszuströme hochaktuell, aber auch brisant ist. So wiesen die beiden Dramaturgen Vasco Boenisch und Tobias Staab in ihrer Einführung mit einigem Entsetzen darauf hin, dass die in Marl aufgehängten Plakate zum Stück abgenommen werden mussten, da sie mit rechtsnationalistischen Parolen beschmiert worden seien. Das Ensemble Asko/Schönberg mit dem musikalischen Leiter Reinbert de Leeuw in der Kohlenmischhalle der Zeche Auguste Victoria in Marl (im Hintergrund: Katrien Baerts) Ausgangspunkt des Stückes ist Albert Camus' Roman Der Fremde (L'Étranger), in dem der Franzose Mersault in Algerien am Strand einen Mann erschießt, der im Buch nur der "Araber" genannt wird. Seine Motivation bleibt dabei völlig unklar. Die Sonne habe ihn geblendet, als der "Araber" auf ihn zugekommen sei. Mersault wird dann im zweiten Teil des Buches für seine Tat zum Tode verurteilt. 70 Jahre später greift der algerische Autor Kamel Daoud die Geschichte wieder auf. Er gibt dem namenlosen "Araber" einen Namen, Moussa, und eine Familie, einen jüngeren Bruder Haroun und eine Mutter. Zum Zeitpunkt des Mordes ist Haroun sieben Jahre alt. Moussa verdingt sich als Hafenarbeiter, um die vaterlose Familie zu ernähren und kommt eines Tages nicht mehr nach Hause zurück. Dass er gestorben ist, erfahren Haroun und die Mutter erst 20 Jahre später von der französischen Wissenschaftlerin Meriem, die die beiden mit Camus' Roman konfrontiert. Haroun kann nun die Geschichte aufarbeiten. Dabei geht es allerdings weniger um eine Abrechnung mit den kolonialistischen Intellektuellen, die nur dem Mörder einen Namen gegeben, das Opfer allerdings im Dunkeln gelassen haben. Haroun setzt sich nämlich auch mit den Folgen des algerischen Unabhängigkeitskrieges (1954 - 1962) auseinander, der seiner Meinung nach einen sozialen und politischen Rückschritt gebracht hat, und seine Wut richtet sich genauso gegen die religiösen Ideologen wie gegen die Kolonialherren, die sich - so Haroun - nur allzu ähnlich sind. Für diese weltliche Sicht ist Daoud 2014 von dem salafistischen Kleriker Abdelfattah Hamadache Zeraoui mit einem Mordaufruf belegt worden. Meriem (Sandra Hüller, rechts) berichtet M'ma (Elsie de Brauw, links) und der Familie (von links: Risto Kübar, Benny Claessens und Pierre Bokma) von Moussas Tod. Simons überträgt die Geschichte nun unter dem Titel Die Fremden ins Musiktheater, lässt Daouds Romantext von den beiden Dramaturgen Vasco Boenisch und Tobias Staab in einen Theatertext umwandeln und mit Musik von Mauricio Kagel, Claude Vivier und György Ligeti unterlegen, die er gemeinsam mit dem musikalischen Leiter Reinbert de Leeuw für dessen Ensemble für Neue Musik, Asko/Schönberg, ausgewählt hat. Kagels Auszüge aus Die Stücke der Windrose ("Osten" (1988 - 1989) und "Nordwesten" (1991)) und Ligetis Kammerkonzert (1969 - 1970) untermalen dabei den Sprechtext wie Filmmusik. Im Zentrum steht Claude Viviers Bouchara, das dieser 1981 zwei Jahre vor seiner Ermordung für Sopran, Ensemble und Tape komponierte. Der Titel ist der Name einer uralten Stadt in Usbekistan, die schon Marco Polo in seinen Reisetagebüchern erwähnt hat. Eine Sopranstimme singt darin in einer unverständlichen, imaginären Sprache. Für diesen Part ist die Sopranistin Katrien Baerts engagiert worden, die mit klarer Stimme die mystische Atmosphäre des Stückes einfängt. Dabei verändert sich dann auch die Kohlenmischhalle, und die riesige Maschine, die zu Beginn in ihrem gewaltigen Ausmaß über der Bühne hängt, wird langsam nach hinten gefahren und gibt den Blick auf einen endlosen leeren Raum frei, in dem sich die Protagonisten regelrecht verlieren. Wenn sie dann in schmalen weißen Lichtstreifen aus der Weite über den schwarzen Boden gehen, suggeriert das eingespielte Rauschen des Meeres, dass man sich am Strand befindet, vielleicht in der Situation, in der Mersault damals auf Moussa traf und ihn tötete. Pierre Bokma als Imam vor der Videoprojektion von Aernout Mik Während die Geschichte von Camus einem Großteil des Publikums noch bekannt sein dürfte, ist es Daouds Roman sicherlich nicht, was es dann auch sehr schwierig macht, dem Handlungsverlauf des Stückes zu folgen, so es denn überhaupt einen klaren Verlauf gibt. Die fünf Schauspieler schlüpfen in unterschiedliche Rollen und stellen teilweise auch die gleichen Figuren dar, so dass schwer nachzuvollziehen ist, wer hier eigentlich wer ist. Zu Anfang sind alle fünf in blauen Overalls gekleidet, die sie im weiteren Verlauf des Stückes ablegen. Sandra Hüller verlässt die Bühne und tritt erneut hinter der Maschine auf, nun in der Rolle der Meriem, um Elsie de Brauw als Mutter und Pierre Bokma als Haroun mit dem Tod des Bruders zu konfrontieren. Dem gesprochenen Text nach übernimmt Benny Claessens nun die Rolle des Mörders Mersault. Wieso er allerdings mit femininen Bewegungen zur Musik über die Bühne tänzelt, bleibt ebenso unverständlich wie der weitere Verlauf des Textes. Die Schauspieler scheinen, zwischen den einzelnen Romanen hin- und herzuspringen, ohne dass man weiß, in welcher Zeitebene man sich gerade befindet. Irgendwann hat Risto Kübar als Haroun dann eine Auseinandersetzung mit Pierre Bokma als Imam. Zwar findet Simons auch beeindruckende Bilder, wenn beispielsweise Claessens und Kübar versuchen, die Maschine nach hinten zu schieben und damit die begrenzte Macht der Menschen offensichtlich wird. Aber vieles bleibt einfach unverständlich und hinterlässt das Publikum etwas ratlos. von links: Elsie de Brauw, Sandra Hüller, Risto Kübar, Benny Claessens und Pierre Bokma vor der Videoprojektion von Aernout Mik Als weitere Ebene kommen noch Video-Projektionen von Aernout Mik hinzu, die eine weitere Geschichte erzählen. Auf zwei kleinen Leinwänden im vorderen Bereich der Bühne werden dokumentarische Filmausschnitte gezeigt, die einen historischen Zusammenhang zu den Ereignissen der beiden Romane darstellen. Wenn dann die riesige Maschine nach hinten gefahren worden ist, wird eine weitere Leinwand herabgelassen, auf der in einem von Mik in der Kohlenmischhalle mit rund 80 Darstellerinnen und Darstellern gedrehten Film die Flüchtlingsthematik problematisiert wird. Hier wird die Halle mit zahlreichen Betten als Flüchtlingslager dargestellt, in dem nun aber die Europäer als Flüchtlinge untergebracht werden und die Erfahrungen machen müssen, die zahlreiche Menschen aus Syrien und Afrika auf ihrer Flucht erlebt haben dürften. Da wird die Nötigung der Frauen genauso thematisiert wie die Konflikte, die entstehen, wenn zu viele Menschen auf zu engem Raum zusammengepfercht werden. Dieser Perspektivwechsel geht unter die Haut, lässt aber das Geschehen, was sich parallel auf der Bühne abspielt vergessen. Das in der Mitte der Bühne platzierte Ensemble Asko/Schönberg fängt unter der Leitung von Reinbert de Leeuw die modernen Klänge Kagels und Ligetis feinfühlig ein und untermalt die Szene damit beeindruckend. So gibt es am Ende großen Jubel für alle Beteiligten, auch wenn sicherlich einige Fragen offen bleiben.
Johan Simons gelingt ein beeindruckendes Gesamtkunstwerk aus Musik, Bildern und einem überwältigendem Raumkonzept, wobei die erzählte Geschichte aber nur bruchstückhaft klar wird. Weitere Rezensionen zur Ruhrtriennale 2016 Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
ProduktionsteamMusikalische Leitung Regie Bühne Kostüme Licht Video Soundscapes Sounddesign Dramaturgie Musikdramaturgie
Asko/Schönberg
SolistenHaroun
M'ma
Meriem Offizier der
Befreiungsarmee
Der Imam
Sopran
Weitere |
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