Ein Schritt zu weit
Von Roberto Becker
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Foto von © Patrick Berger / artcompress
Von Spanien findet sich in dieser Carmen keine Spur auf der Bühne im Grand Theater du Provence. Und das nicht nur, weil der Don José ohne Mühe den neuen französischen Präsidenten Macron doubeln könnte. Und der russische Regiestar Dmitri Tcherniakov ihn soweit ins Zentrum seiner Lesart gerückt hat, dass die ganze Oper dieses Mal auch nach ihm benannt sein könnte. Aber nicht nur seine Bedeutung wertet Tcherniakov deutlich auf. Auch Micaëla hat hier nichts von einem naiven Dummerchen vom Lande. Sie ist die um ihre Beziehung echt besorgte und beherzt zur Tat schreitende Ehefrau. Offensichtlich hat sie ihren Mann zu der Therapie verdonnert, die, dem Ambiente dieser Kliniklobby nach zu urteilen, nicht billig sein dürfte. Tcherniakov entwirft auch seine Bühnenbilder - dieses ist nicht nur elegant, sondern auch der Rahmen für eine eigene Geschichte. Dass er in dem Falle auch die Dialoge neu geschrieben hat, versteht sich fast von selbst.
Der Neue: Don José (ganz rechts im blauen Anzug)
Wir erleben mit, wie der Behandlungs-Vertrag unterschrieben wird, mit dem er sich verpflichtet, der hier angebotenen (Opern-)Therapie uneingeschränkt zu folgen. Er soll Don José sein und bekommt ein entsprechendes Namensschild an sein Revers. So wie alle anderen auch. Wenn es schließlich losgeht und sich die Ehefrau erst einmal (wenn auch nicht allzu weit) entfernt hat, dann macht er zunächst nur widerwillig und mit spürbarer Distanz mit. Es ist ihm peinlich, als die Ehefrau noch einmal in die Gruppensitzung hereinplatzt und von seiner Mutter erzählt (wahrscheinlich ist das ein Teil ihres Problems?). Wenn sie ihm den Kuss der Mutter "überbringen" will, hält er wie zur französischen Begrüßung die Wange hin, doch sie schnappt sich sein Gesicht und küsst ihn auf den Mund. Man ahnt das Problem, das die beiden miteinander haben.
Erste Begegnung mit Folgen: links José, rechts Carmen
Mit szenischem Witz übernehmen die Mitspieler, die alle ein "Soldier"-Schild am Revers haben, auch den Kinderchor (der im off singt) als playback. Dabei marschieren sie einmal in einer Reihe aus dem Raum heraus und auf der anderen Seite wieder herein. Dann kommen Flaschen auf den Tisch und die Runde wird für eine Frauengruppe geöffnet. In diesem Kontext ist Carmen so etwas wie eine leitende Therapeutin, die auf den letzten Drücker kommt und dann eine herrlich verfremdete, aber doch nicht denunziatorische Habanera hinlegt. Stéphanie d'Oustrac überzeichnet und spielt mit den Carmen-Klischees, hat aber vor allem das stimmliche Format, sie gleichzeitig zu bedienen.
Die Regie- bzw. Therapieanweisungen stehen immer auf rosa Zetteln. Bei dem einmal gesetzten Rahmen eine reibungslos funktionierende Methode, um die Szenenwechsel glaubwürdig zu bewältigen. Es gibt nur eine Ausnahme, vor der vor der Vorstellung sogar ausdrücklich gewarnt wurde. Wenn es den Krawall in der Zigarettenfabrik gibt, stürmt hier ein ziemlich echt ausstaffiertes Einsatzkommando der Polizei die Bühne und sorgt für Ordnung. José, der gerade dabei war - halb flirtend, halb seine Rolle spielend - Carmen mit der Krawatte zu fesseln, rebelliert gegen den martialischen Auftritt so energisch, dass sich die Truppe enttarnt und als Teil des Thearapiespiels zu erkennen gibt. Dass ihm dieses Aufbegehren ausdrücklich als Behandlungsfortschritt angerechnet wird, kommt bei ihm gar nicht so recht an. Er ist nämlich längst auf dem Weg, tatsächlich ein Alter ego des eifersüchtigen Don José zu werden. Aussteigen kann er nicht - der Klinikchef hält ihm seinen Vertrag unter die Nase, in dem er sich verpflichtet hat, mitzumachen. Als es dann aber zu den Schmugglern gehen soll, lehnt er seinerseits das Angebot auszusteigen ab, und besteht darauf weiter mitzumachen.
Escamillo zieht seine Show ab - nur José gefällt sie nicht.
Micaëlas Versuche, ihren Mann durch vertraut wirkende Nähe zu Escamillio eifersüchtig zu machen, Josés Angriff auf den Leutnant und die Ohrfeige für Carmen führen ihn immer tiefer in die Krise. Carmen sieht diese verheerende Identifikation des Patienten mit seiner Rolle mit wachsender Sorge, rät zum Abbruch, wird dann aber von ihrem Chef mit dem Appell an ihre Professionalität zum Weitermachen verdonnert. Eine Unterbrechung der Therapie kann der Chef der Klinik nur mit Micaëlas Hilfe und der Nachricht vom Tod der Mutter Josés durchsetzen.
Die Ballettmusik vor dem Stierkampf schließlich wird hier zu einer Vorlage für eine Wiederholung der Anfangsszene. Ein neuer Klient trifft ein, bekommt das José-Schild, wundert sich über den Kinderchor etc. Der zurückgekehrte echte José bewegt sich wie ein Geist durch diese Szene. Als der Chef die mittlerweile sehr skeptische Carmen zwingt, sich der Auseinandersetzung mit ihrem Patienten zu stellen, reicht sie dem sogar das Messer, mit dem er dann hemmungslos auf sie einsticht. Da es sich um Therapie- Utensilien handelte, war es natürlich ein Theatermesser mit flexibler Klinge. Aber so wie José zusticht, war ihm das in dem Moment nicht bewusst.
Am Ende ist José wirklich behandlungsreif, da können auch Carmen (links) und Michaela (rechts) nichts ändern.
Das Schlussbild ist grandios. Zwar bleibt hier keine ermordete Schönheit vor der Stierkampfarena in ihrem Blute zurück, aber drei Menschen, die bei der Selbsterforschung zu weit gegangen sind. Carmen und Micaëla halten schockiert und entsetzt den am Boden zerstörten, an der Rampe knienden José. Und hinter ihnen läuft der Klinikbetrieb weiter, als wäre das normal. Nach diesem grandiosen Finale dieses Psychothrillers brauchte Michael Fabiano mehr als nur ein paar Atemzüge, um aus der Rolle, in die er sich da im doppelten Sinne hineingesteigert hatte, wieder zurück zu finden. Und das Publikum mit ihm.
Das hatte bei seinen Ovationen viele zu bedenken. Denn mit dieser Carmen ist nicht nur ein szenischer Wurf gelungen, der ein klischeebeladenes Repertoirestück atemberaubend in ein neues Licht rückt. Es war auch musikalisch durchweg im besten Sinne festspielwürdig: Allen voran Stéphanie d'Oustrac als warm timbrierte, kräftig leuchtende Carmen und der virile, mit erstklassigen Darstellerqualitäten ausgestattete Michael Fabiano als Don José. Aber auch Elsa Dreisig trug die Aufwertung der Micaëla in dieser Produktion stimmlich und darstellerisch überzeugend. Da auch die Frasquita von Gabrielle Philoponet und die Mercédès von Virginie Verrez mit enormer vokaler Präsenz mit von der Partie waren, hatte es Michael Todd Simpson fast schon schwer, bei seinem Auftritt als Escamillo gebührend abzuräumen. Auch Pablo Heras-Casado am Pult und das Orchestre de Paris im Graben gaben nur Anlass für helle Begeisterung. Transparent und mit Temperament, ohne dass sich die Hits der Oper verselbständigten - sehr französisch, aber das passte haargenau zu dieser Produktion.
FAZIT
Ausgerechnet Carmen ist der musikalische und szenische Höhepunkt des aktuellen Festspieljahrgangs in Aix-en-Provence! Der Jubel war entsprechend enthusiastisch.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Pablo Heras-Casado
Inszenierung; Bühne
und Kostüme
Dmitri Tcherniakov
Kostüme
Elena Zaitseva
Licht
Gleb Filshtinsky
Chor
Mathieu Romano
Choer Addax
Kinderchor
Maîtrise des Bouches-du-Rhône
Samuel Coquard
Orchestre de Paris
Solisten
Carmen
Stéphanie d'Oustrac
Don José
Michael Fabiano
Micaëla
Elsa Dreisig
Escamillo
Michael Todd Simpson
Frasquita
Gabrielle Philoponet
Mercédès
Virginie Verrez
Zuniga
Christian Helmer
Moralès
Pierre Doyen
Le Dancaïre
Guillaume Andrieux
Le Remendado
Mathias Vidal
L'Administrateur
Pierre Grammont
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