Kampf um Plastikflaschen
Von Thomas Molke
/ Fotos: © Studio Amati Bacciardi (Rossini Opera Festival)
Auch wenn sich die beiden Rossini-Festivals in Bad Wildbad und Pesaro in ihrer
Programmgestaltung nicht miteinander absprechen, kommt es bisweilen vor, dass
die Stückauswahl zu einem direkten Vergleich einlädt wie zuletzt 2013, als bei
beiden Festivals Rossinis letzte Oper Guillaume Tell auf dem Programm
stand, oder die Weiterentwicklung eines Werkes zeigt. So stand in diesem Jahr in
Bad Wildbad Rossinis ernste Oper Maometto II auf dem Spielplan, die
Rossini 1826 zu seiner ersten französischsprachigen Oper Le Siège de Corinthe
umarbeitete. Dabei änderte er nicht nur den Titel und erweiterte die Oper auf
drei Akte inklusive einer für die französische Oper obligatorischen
Balletteinlage, sondern behielt von den ursprünglichen Figuren nur den
historisch belegten osmanischen Sultan und Eroberer Konstantinopels Mehmed II.
bei. Handelt Maometto II von dessen Belagerung der venezianischen Kolonie
Negroponte auf Euböa im Jahr 1470, fällt die Wahl in Le Siège de Corinthe
auf eine griechische Stadt, die für das damalige französische Opernpublikum
wesentlich interessanter gewesen sein dürfte. Die Eroberung der griechischen
Stadt Mesolongi im April 1826 durch die Türken und der daraus resultierende
Mythos über den Freiheitskampf der Griechen bewegte die Franzosen damals so
sehr, dass es Rossini opportun erschien, die Handlung der Oper nach Korinth zu
verlegen. Und Rossini sollte mit dieser Entscheidung Recht behalten. Le Siège
de Corinthe wurde nicht nur in Paris ein riesengroßer Erfolg und stand in
den folgenden Jahren dort über 100 Mal auf dem Spielplan. Auch die italienische
Übersetzung L'assedio di Corinto verzeichnete in Italien einen wesentlich
größeren Erfolg als Maometto II und konnte sich noch einige Jahre im
Repertoire halten.
Cléomène (John Irvin, Mitte) will seine Tochter
Pamyra (Nino Machaidze) mit Néoclès (Sergey Romanovsky, links) vermählen.
Die Handlung basiert auf der historisch belegten Eroberung der griechischen
Stadt Korinth durch die Osmanen im Jahr 1458, die in der Realität weit weniger
blutig vonstatten ging als in der Oper. Hier entscheiden sich die Griechen unter
ihrem Anführer Cléomène, die Stadt bis zum letzten Blutstropfen vor dem Ansturm
der Osmanen zu verteidigen. Cléomène verspricht seinem Offizier Néoclès die Hand
seiner Tochter Pamyra. Doch Pamyra gesteht ihrem Vater, dass sie bereits einem
gewissen Almanzor ewige Treue geschworen habe, dem sie vor einiger Zeit in Athen
begegnet sei. Cléomène überreicht ihr daraufhin einen Dolch und fordert sie auf,
sich selbst zu töten, bevor sie in die Hand der Osmanen fällt. Kurz darauf wird
Cléomène gefangen genommen. Als Pamyra den Eroberer Mahomet um Gnade für ihren
Vater bittet, erkennt sie in ihm ihren Geliebten Almanzor. Cléomène fühlt sich
von seiner Tochter verraten und verflucht sie. Schweren Herzens folgt sie
Mahomet in sein Lager. Néoclès versucht, sie zu befreien, gerät dabei allerdings
in Gefangenschaft. Pamyra rettet ihn vor der Hinrichtung, indem sie ihn als
ihren Bruder ausgibt. Während Mahomet seine Hochzeit mit Pamyra vorbereitet,
gelingt den Griechen ein Teilsieg, und die Osmanen müssen erneut zum Kampf
ausrücken. Dabei können Pamyra und Néoclès fliehen. Sie ziehen sich in das
Grabgewölbe zurück, wo sie sich nach einem weiteren Sieg der Osmanen auf den
Märtyrertod vorbereiten. Pamyra versöhnt sich mit ihrem Vater und lässt sich vor
dem Grab ihrer Mutter mit Néoclès vermählen. Die siegreichen Osmanen dringen in
die Katakomben ein. Pamyra tritt Mahomet entgegen und erdolcht sich. In diesem
Moment bricht das Gewölbe zusammen und gibt den Blick auf die brennende Stadt
frei.
Mahomet (Luca Pisaroni, Mitte), Cléomène (John
Irvin, rechts), Pamyra (Nino Machaidze) und das Volk (im Hintergrund: Chor) mit
dem "Auge der Ethik"
Die katalanische Theatergruppe La Fura dels Baus verzichtet in
ihrer Inszenierung auf eine politische Inszenierung und wählt einen sehr
abstrakten Ansatz, der mit seinen verwirrenden Bildern jedoch relativ abstrus
bleibt. Dazu hat Carlus Padrissa die Bühne mit riesigen Plastikwasserflaschen
ausgestattet, die wohl die Stadtmauern Korinths symbolisieren sollen. Betrachtet
man den Boden mit seiner sandfarbenen rissigen Musterung, bekommt man das Gefühl,
dass hier Wassermangel herrschen könnte, was bei einer Belagerung an
sich ja nicht ganz ungewöhnlich ist. Im Verlauf des Stückes werden immer wieder
mit wenig Wasser gefüllte Plastikflaschen auf die Bühne getragen, die in ein
Loch im Boden geschüttet werden und
anschließend in die Mauer aus Plastikflaschen integriert werden. Während der
Ouvertüre wird diese Aktion von Pamyra und Ismène ausgeführt, wobei im
Hintergrund ein Gedicht von Lord Byron auf die Rückwand projiziert wird. Aus dem
Programmheft entnimmt man zwar, dass Lord Byron ein feuriger Verfechter der
griechischen Unabhängigkeit gewesen ist, die die Pariser während der
Uraufführung der Oper bewegt hat, aber da dieser Aspekt in der Inszenierung
nicht weiter verfolgt wird, fragt man sich dabei: Was soll das? Und die Fragen
hören nicht auf. An den Seiten werden zwei Tafeln mit den Wörtern "Mort" und
"Vie" heruntergelassen. Vielleicht ist das die Entscheidung, die Pamyra treffen
soll. Aber was sollen die abstrakten Portraits von Lita Cabellut, die darunter
sichtbar werden? Noch verwirrender wird das Ganze, wenn es dann um das "ethische
Auge" geht, und diese Bilder anschließend durch den Saal getragen
werden und den Zuschauern auf den Seiten für einen Moment sicherlich die Sicht
rauben dürften.
Pamyra (Nino Machaidze) bittet Mahomet (Luca
Pisaroni, links) um Gnade für ihren Vater Cléomène (John Irvin, Mitte) (rechts:
Omar (Iurii Samoilov)).
Der zweite Akt wird nicht besser. Die Plastikflaschen sind nun neu
sortiert und bieten neben den scheinbaren Mauern im Hintergrund auch noch eine Art
Höhle, in die sich Mahomet mit Pamyra zu einer Art Schäferstündchen während des
Balletts zurückziehen. Man spielt in Pesaro die Oper mit den Balletteinlagen,
allerdings ohne Ballett. Stattdessen flimmert erneut ein Gedicht von Lord Byron
über die Rückwand - wieso eigentlich neben Englisch und Italienisch auch in
Russisch und Spanisch? Dann gibt es einen Kampf auf der Bühne um eine
Plastikflasche, was wieder Bezug zur Wasserknappheit vom Anfang nimmt, mit der
Musik allerdings leider überhaupt nicht korreliert. Noch alberner sind die Füße,
die zu Beginn des zweiten Aktes während Pamyras Arie "Ô patrie infortunée" wie
eine Art Wasserballett aus Luken aus dem Boden herausragen und Pamyras
Gewissensbisse, die die Arie eigentlich transportieren soll, der Lächerlichkeit
preisgeben. Genauso wenig ernst nehmen kann man die Schunkelbewegungen des
Chors, wenn sie sich auf den Kampf bis zum letzten Blutstropfen einschwören.
Pamyra (Nino Machaidze) muss sich zwischen ihrer
Heimat und Mahomet (Luca Pisaroni) entscheiden.
Sorge bereiten können die Zuschauerreaktionen im dritten Akt, wenn
Hiéros in einer großen Szene die 500 Jahre andauernde Sklaverei prophezeit und
das Volk zu einem kollektiven Selbstmord aufruft. Es lässt sich nicht leugnen,
dass Rossini an dieser Stelle absolut mitreißende Musik komponiert hat, die den
aus heutiger Sicht erschreckenden Text verherrlicht. Aber hier geht die
Inszenierung noch einen Schritt weiter. Hiéros geht während dieser Szene durch
die Reihen des Saals und bezieht die Zuschauer in das Spiel mit ein. Statisten
versuchen, das Publikum zu bewegen sich zu erheben und quasi Teil des
bevorstehenden Märtyrertodes zu werden. Das sollte dem Publikum eigentlich zu
weit gehen. Stattdessen macht ein Großteil des Publikums mit und verfällt
anschließend sogar noch in frenetischen Jubel. Hat das Publikum hier nicht
verstanden, worum es inhaltlich geht, oder entschuldigt die Tatsache, dass man
sich im Theater befindet, alles?
Am Ende müssen natürlich die Mauern aus Plastikflaschen fallen,
darauf hat man ja wahrscheinlich von Anfang an gewartet, doch dass sie Mahomet
unter sich begraben, macht keinen Sinn. Aber das stört bei den zahlreichen
szenischen Ungereimtheiten dann auch nicht mehr.
Musikalisch entschädigt der Abend für die Schwächen der
Inszenierung, auch wenn das
Orchestra Sinfonica Nazionale della Rai unter der Leitung von Roberto Abbado
zumindest in der Ouvertüre noch nicht mit perfektem Rossini-Klang
aufwarten kann. Die Tempi sind zu Beginn noch ein bisschen ungenau. Erst im
weiteren Verlauf des Abends findet Abbado mit den Musikern einen guten Zugang
zu Rossinis dramatischer Musik. Luca Pisaroni ist darstellerisch und stimmlich
ein großartiger Mahomet. Mit profundem Bass-Bariton verleiht er dem osmanischen
Sultan die erforderliche Autorität und begeistert vor allem in seiner
Auftrittskavatine, in der er sich als sicherer Sieger über das belagerte Korinth
präsentiert. Nino Machaidze punktet als Pamyra mit dramatischem Sopran und
enormer Beweglichkeit in den Läufen, auch wenn ihr die französische Sprache
überhaupt nicht liegt. Ohne Übertitel könnte man den von ihr
gesungenen Text auch bei guten Französischkenntnissen stellenweise gar nicht
verstehen. Ihre große Arie zu Beginn des zweiten Aktes "Ô patrie infortunée", in
der sie das Schicksal der Stadt beklagt, und ihr anschließendes Duett mit
Pisaroni, in der Mahomet Pamyras Sorgen mit einer glücklichen Zukunft für sie
beide zerstreuen möchte, zählen zu den zahlreichen musikalischen Höhepunkten des
Abends.
Sergey Romanovsky meistert die anspruchsvolle Partie des Néoclès
mit strahlendem Tenor und muss nur in den extremen Spitzentönen in seiner großen
Arie im dritten Akt leicht forcieren. Ansonsten strömt sein Tenor
höhensicher und weich und findet mit Machaidzes Sopran in ihrem Gebet vor seiner
großen Arie zu einer bewegenden Innigkeit. John Irvin stattet die Partie des
unbeugsamen Vaters Cléomène mit kräftigem Tenor aus. Die beiden Terzette mit
Romanovsky und Machaidze im ersten und dritten Akt stellen weitere musikalische
Glanzpunkte des Abends dar. Carlo Cigni gestaltet die Partie des Hiéros mit
dunklem Bass und bewegt vor allem in seiner großen Prophezeiung im dritten Akt.
Die kleineren Partien sind mit Cecilia Molinari als Pamyras Vertrauter Ismène,
Iurii Samoilov als Mahomets Diener Omar und Xabier Anduaga als Adraste ebenfalls
hochkarätig besetzt. Der
Coro del Teatro Ventidio Basso unter der Leitung von Giovanni
Farina rundet den Abend stimmgewaltig ab, so dass es am Ende großen Beifall für alle
Beteiligten gibt.
FAZIT
Musikalisch ist der Abend ein Hochgenuss. Die Inszenierung kann leider nicht
überzeugen.
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