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Allerhand Aufbrüchevon Stefan Schmöe / Fotos © Ursula Kaufmann / Ruhrtriennale 2018
Ein Gedankenspiel: Wer wäre Maria, die Gottesmutter, wohl heute? Eine einfache Frau - sagen wir: Kassiererin im Supermarkt. Jan Müller-Wieland spielt das Modell in seinem etwa einstündigen Oratorium MARIA durch, und der Erzengel Gabriel könnte ein Kunde in diesem Supermarkt sein. Statt nach Ägypten flieht Maria auf das Meer, obwohl sie nicht schwimmen kann. So in etwa ist das Szenario des Stückes, das der Komponist als "eine Vertreibung" bezeichnet. Assoziationen an Flüchtlinge auf dem Mittelmeer sind unvermeidbar, bleiben aber unaufdringlich. Müller-Wieland orientiert sich an den Film Je vous salue, Marie von Jean-Luc Godard, an José Saramangos Roman Das Evangelium nach Jesus Christus und plündert bei Goethe, Nietzsche, Jean Paul, Ringelnatz, Rilke und in der Sammlung Des Knaben Wunderhorn. Maria und Gabriel sind Sprechrollen, Johanna Wokalek und Peter Simonischek auf den Leib geschrieben, die daraus Kabinettstückchen machen (ein wenig bessere Textverständlichkeit wäre trotzdem hilfreich, denn man muss gleichzeitig ja noch ziemlich viel Musik verarbeiten). Maria tritt übrigens im blauen Kittel auf, eine hübsche Anspielung auf die mittelalterliche Ikonographie, die Maria im blauen Mantel zeigt. Der Text hat Witz und bricht geschickt das Pathos, das dahinter lauert, zumal der Konzerttitel "Aufbruch" dieses Abschlusskonzerts des ersten Triennale-Jahrs hohe Ansprüche zu formulieren scheint. Es ist ein in viele Richtungen deutbarer Aufbruch, den Maria hier stellvertretend unternimmt.
Musikalisch herrscht fröhlicher Eklektizismus: Ein bisschen modern dissonant, aber oft orientiert an der Mahler-Ära - zerfallende Tonalitäten mit spätromantischer Aureole. Schönbergs frühe Motette Friede auf Erden etwa klingt an. Bachs Thema regium aus dem Musikalischen Opfer wird zitiert und bekommt eine wichtige Rolle. Wie schön man mit hohen Streichern unisono komponieren kann, hat Wagner bei Brünnhildes Erweckung im Siegfried vorgemacht. Dazu hat Müller-Wieland dem exzellenten, unglaublich homogenen und tonreinen Balthasar-Neumann-Chor eine effektvolle Partie geschrieben, in der mal mit kirchentonal geheimnisvollen Floskeln psalmodiert wird, dann aus Pianissimo-Passagen nadelstichartig Sforzato-Töne herausstechen. Auch wenn das Verfahren kompositorisch wie textlich mitunter recht bildungsbürgerlich und ein bisschen wichtigtuerisch und gleichzeitig banal klingt (die oft wiederholte Rilke-Zeile Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr etwa, die mehr über die lyrischen Vorlieben des Librettisten sagt als das Werk voranbringt) - langweilig ist diese ziemlich farbige "Vertreibung" jedenfalls nicht.
Dass es nach der Pause stilistisch völlig anders weiter geht, hat mit dem Orchester zu tun: Dirigent Thomas Hengelbrock Hat die Cuban-European Youth Academy 2014 gegründet, und dort spielen junge kubanische und europäische Musiker gemeinsam im Orchester. Daher soll auch die eine Programmhälfte europäisch, die andere kubanisch sein, beide mit neuen Werken. Eingeleitet wird der europäische Part mit Beethovens Coriolan-Overtüre, vom Orchester achtbar gespielt, wobei die scharfen Tutti-Akkorde besser gelingen als die "kleinen" Noten, denen es an Prägnanz fehlt. Müller-Wielands Musik kommt unter der umsichtigen Leitung Thomas Hengelbrocks absolut angemessen zum Klingen, wie auch die kubanische Musik nach der Pause. Da folgt dann auf die vergeistigte europäische Moderne eine Musik, die sich keinen Deut um musiktheoretische Diskurse schert und ganz unmittelbar mit Tanzrhythmen unterhalten will.
Die Cuban Dance Suite von Jenny Peña Campo - die Komponistin spielt gleichzeitig Violine im Orchester - trägt das schon im Namen, und wie zuvor Perle von José Victor Gavilondo Peón und Camerata en Guaguancó von Guido López Gavilán sind das mitreißende Kompositionen, effektvoll instrumentiert. Einen Geburtsfehler haben diese Kompositionen aber von vornherein: Die klassische Konzertanordnung mit großem Orchester auf der Bühne und konzentriert zuhörendem Publikum davor passt nicht zum Charakter, der nach Bewegung verlangt. Als das Orchester als Zugabe die Bühne verlässt und durch den Saal zieht, fangen viele Besucher auch prompt an zu tanzen. So endet das erste Triennale-Jahr als fröhliche europäisch-kubanische Party. Ein gut gelaunter Aufbruch zur Völkerverständigung durch Musik.
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ProduktionsteamMusikalische LeitungThomas Hengelbrock
Einstudierung Chor
Einstudierung Orchester und
Klangregie
Licht
Solisten
Sprecherin
Sprecher
Herodes
Heilige drei Könige
ProgrammLudwig van Beethoven (1770 - 1827):Overtüre zu Coriolan op.62 Jan Müller-Wieland (*1966): MARIA Eine Vertreibung für Sprecherin, Sprecher, vier Herrensoli, Chor und Orchester Auftragswerk des Büros für Internationale Kultuprojekte in Kooperation mit der Ruhrtriennale - Uraufführung - - Pause - José Victor Gavilondo Peón (*1989): Perle Guido López Gavilán (*1944): Camerata en Guaguanco Jenny Peña Campo (*1983): Cuban Dance Suite weitere Berichte von der Ruhrtriennale 2018 - 2020 Homepage der Ruhrtriennale Die Ruhrtriennale in unserem Archiv |
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