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An die Megaphone!von Stefan Schmöe / Fotos © Christian Palm / Ruhrtriennale 2018
Pfeifen können sie. Flüstern sowieso. Beim Schreien greifen sie ab und zu zum Megaphon. Die 26 Sängerinnen und Sänger des einmal mehr vorzüglichen CHORWERK RUHR sind in Mauricio Kagels Chorbuch von 1978 vielfältig gefordert. "Nur Leute, die Humor haben, sind unerbittlich ernst", soll Kagel einmal formuliert haben, und die anarchische Freude daran, Bach'sche Choräle zu zerpflücken und daran die unterschiedlichsten Möglichkeiten der menschlichen Stimme zu erproben, ist in diesem Geist komponiert. 53 der 371 nach dem Tod des Thomaskantors als Sammlung herausgegebenen Choräle hat Kagel dergestalt bearbeitet (Kagel erhielt die Zahl, indem er 371 durch die Anzahl der Wochentage, also sieben, dividierte - auch in solcher Zahlenmystik spiegelt sich die Nähe zu Bach). Klavier und Orgel bilden den instrumentalen Untergrund, und sein Verfahren der Verfremdung hat Kagel als "nicht-lineare Transposition" bezeichnet: Einzelne Akkorde werden von den Tasteninstrumenten transponiert (aber eben nicht in dieselbe Tonart). Der Vokalpart darüber besteht aus freien Kompositionen, die mehr oder weniger eng mit dem Choral verknüpft sind.
Chorleiter Florian Helgath hat gemäß den Anweisungen des Komponisten zwölf Choräle aus dem Chorbuch ausgewählt und diesen neun originale Choräle Bachs gegenübergestellt (davon drei als Solo der Orgel). Die Anordnung dieser insgesamt 21 Nummern ist strikt symmetrisch, und damit spielt Helgath auf Bachs Mottette Jesu, meine Freude an, die eine vergleichbare Struktur hat. Die avantgardistischen Spielarten dieser Musik bringt der Chor glänzend zum Ausdruck, souverän in allen Ausdrucksformen und mit enorm starker Präsenz. Der erste Einsatz der Megaphone ruft noch ein Raunen im Publikum hervor, und in der Tat hat diese Konzertsituation ja einigen Witz (die gelb ausgekleideten Schalltrichter geben auch optisch einiges her). Es wird aber die große Kreativität deutlich, die in dieser Musik steckt. Die originalen Choräle gestaltet der Chor schlicht und liedhaft, mit natürlicher Phrasierung und außerordentlicher Sorgfalt in der Textbehandlung - da ist kein Konsonant, der nicht auch im Hinblick auf den Klang ausgestaltet wäre. Der Chorklang ist mit ganz wenig Vibrato ausgesprochen homogen und jugendlich schlank.
Vor der Pause gibt es Johann Sebastian Bach pur: Zwei kurze Choralvariationen für Orgel (Christoph Lehmann spielt am Positiv farbreich), vor allem aber drei der doppelchörigen Motetten für Chor und Continuo (unaufdringlich: Björn Colell, Theorbe, und Günther Holzhausen, Violone). Singet dem Herrn ein neues Lied gestaltet der Chor hochvirtuos und mit frappierender Leichtigkeit, wobei trotz des halsbrecherischem Tempo die Präzision erhalten bleibt. Die Musik erhält in dieser Interpretation eine ätherische Entrücktheit, wie auch in den beiden anderen Werken Der Geist hilft unserer Schwachheit auf und Fürchte Dich nicht, ich bin bei Dir. Allein letztere Motette dürfte stellenweise mehr Erdenschwere besitzen, vor allem im affirmativen Schluss, der Helgath nach der beschwingten Fuge zuvor ein wenig entgleitet. Als Zugabe dann ein Kontrastprogramm: Das Geistliche Lied von Johannes Brahms, mit verinnerlichter Schlichtheit gesungen. Das CHORWERK RUHR kann eben auch nicht nur pfeifen, sondern auch ganz konventionelle Romantik, und zwar betörend schön.
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Ausführende
Musikalische Leitung
Theorbe
Violone
Klavier
Orgel, Harmonium
ProgrammJohann Sebastian Bach:Singet dem Herrn ein neues Lied (BWV 225) Allein Gott in der Höh sei Ehr (F-Dur für Orgel) Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf (BWV 226) Allein Gott in der Höh sei Ehr (A-Dur für Orgel) - Pause - Johann Sebastian Bach: Neun Choräle Maurizio Kagel: aus: Chorbuch Bach: Wer nur den lieben Gott läßt walten Kagel: Wer nur den lieben Gott läßt walten (Nr. 52) Bach: Wer nur den lieben Gott läßt walten (Orgel ) Kagel: In allen meinen Taten (Nr. 32) Kagel: Du Friedefürst, Herr Jesu Christ Bach: Ein feste Burg ist unser Gott Kagel: Eine feste Burg ist unser Gott (Nr. 21) Kagel: Vater unser im Himmelreich (Nr. 48) Bach: Ach Gott und Herr) Kagel: Ach Gott und Herr (Nr. 1) Bach: Ach Gott und Herr (Orgel) Kagel: Ach Gott und Herr (Nr. 1) Bach: Ach Gott und Herr Kagel: Heut triumphieret Gottes Sohn (Nr. 28) Kagel: Die Nacht ist kommen (Nr. 17) Bach: Die Nacht ist kommen Kagel:C hristum wir sollen loben schon (Nr. 8) Kagel: Es ist genug! So nimm Herr meinen Geist (Nr. 24) Bach: Wer nur den lieben Gott läßt walten (Orgel) Kagel: Wer nur den lieben Gott läßt walten (Nr. 53) Bach: Wer nur den lieben Gott läßt walten weitere Berichte von der Ruhrtriennale 2018 - 2020 Homepage der Ruhrtriennale Die Ruhrtriennale in unserem Archiv |
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