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Das Floß der Medusa

Oratorio vulgare e militare
Text von Ernst Schnabel
Musik von Hans Werner Henze
Szenische Einrichtung von Kornél Mundruczó

In deutscher und italienischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

Eine Produktion der Ruhrtriennale
in Koproduktion mit dem Proton Theater Budapest

Aufführungsdauer: ca. 1h 15' (keine Pause)

Premiere am 31. August 2018 in der Jahrhunderthalle Bochum

Logo: Ruhrtriennale 2018

Kein Grund zur Empörung

von Stefan Schmöe / Fotos © Ursula Kaufmann / Ruhrtriennale 2018

Das Motiv des Floßes ist gegenwärtig kaum anders zu denken als eine Metapher für die unbewältigte Flüchtlingskrise im Mittelmeer und damit auch für den moralischen Verfall der europäischen Zivilisation, die angesichts von Verteilungsfragen im Begriff ist, elementare Grundprinzipien unserer Kultur aufzugeben. Da steht es einem sich eminent politisch gebenden Festival wie der aktuellen Ruhrtriennale gut an, sich an Hans Werner Henzes Oratorium Das Floß der Medusa zu erinnern. Dieses Floß hat es tatsächlich gegeben: Als vor der afrikanischen Küste 1816 die Fregatte "Medusa" havarierte und es nicht genügend Rettungsboote gab, wurde eilends ein Floß für rund 150 Menschen gebaut - für die einfachen Matrosen und die weniger wohlhabenden Mitreisenden, wogegen die Offiziere und die begüterten Passagiere in den Booten unterkamen. Mit viel zu wenig Proviant ausgestattet, kam es unter der sengenden Sonne zu Gewalt bis hin zum Kannibalismus. Mit nur noch 15 Überlebenden (von denen fünf unmittelbar an den Folgen starben) wurde das Floß 13 Tage später aufgegriffen. Zwei der Geretteten haben die Ereignisse ausführlich beschrieben, und Théodore Géricault hat den Moment kurz vor der Rettung mit allerlei Freiheiten 1819 in einem monumentalen Gemälde festgehalten, das heute im Louvre hängt. Das "Floß der Medusa" wurde umgehend zum Symbol der Unterdrückung schlechthin, bis hin zur Pariser Juli-Revolution von 1830.

Vergrößerung in neuem Fenster Der Erzähler (Tilo Werner) ist gleichzeitig der Fährmann Charon, der die Sterbenden über den Hades schifft - hier im postmodernen Wasserbecken

Henze sah in den Sterbenden auf dem Floß die "Menschen der dritten Welt", als er das Oratorium 1967/68 im Auftrag des Norddeutschen Rundfunks komponierte. Der Text stammt von Ernst Schnabel, in verschiedenen ranghohen Positionen des Senders tätig. Gewidmet ist das Werk Ernesto "Che" Guevara. Die Uraufführung im Protestjahr 1968 musste noch vor ihrem Beginn abgebrochen werden, weil es zu Tumulten kam und weil der RIAS Kammerchor sich weigerte, unter der an Henzes Dirigentenpult angebrachten roten Fahne zu singen. Mit öffentlichen Mitteln finanzierte Kunst, die gegen den herrschenden Konsens verstößt - das war ein Skandal, und in gewisser Hinsicht schließt sich da ein Kreis zu dieser Triennale. Wird doch Intendantin Stefanie Carp vorgeworfen, bei diesem (mit öffentlichen Mitteln finanzierten) Festival eine Band wie die "Young Fathers" eingeladen zu haben, die für ihre extrem israelkritische Haltung berüchtigt sind. Und das türkische Hezarfen Ensemble sagte ein Konzert ab, weil sich die Formation plötzlich unter dem Vorwurf sah, den Genozid an den Armeniern als "Umsiedlung" zu verharmlosen. Welche Freiheiten - besser: Zumutungen - sich Kunst, zumindest wenn sie subventioniert wird, herausnehmen darf, das scheint ein zunehmend vermintes Feld zu sein.

Vergrößerung in neuem Fenster Unterwasserwelten mit dem Schiffbrüchigen Jean-Charles (Holger Falk)

Diesen Aspekt hat Stefanie Carp wohl nicht im Sinn gehabt, als sie das einstige Skandalstück aufs Programm gesetzt hat. Das im Übrigen gleichzeitig von anderer Seite als "konterrevolutionär" verhöhnt wurde, dem instrumental skandierten "Ho-Ho-Ho Chi Minh" wie dem kaum verhohlenen Aufruf zum politischen Protest zum Trotz ("Die Überlebenden aber kehrten in die Welt zurück, belehrt von Wirklichkeit, fiebernd, sie umzustürzen"). Tatsächlich ist das Floß der Medusa vom heutigen Standpunkt aus in erster Linie ein in vielen Momenten betörend klangsinnliches Requiem, zwar vom drastischen Bericht des Sprechers überlagert, aber eben doch in erster Linie ein (ungeheuer komplex gearbeitetes) Musikstück, das sich der schnellen politischen Vereinnahmung entzieht. Steven Sloane und die guten Bochumer Symphoniker halten sich in den Forte-Passagen eher zurück, vermeiden auch den gelegentlichen martialischen Gestus der Musik, sondern hören den leisen Tönen nach. Die Bochumer Jahrhunderthalle mit ziemlich unscharfer Akustik verwischt leider so manche Kontur.

Vergrößerung in neuem Fenster Zwischendurch gibt's mahnende Blicke ins Publikum

Ein dramaturgischer Aspekt Henzes besteht darin, den Chor zu unterteilen in den Chor der Lebenden und den Chor der Sterbenden, getrennt aufgestellt und mit den entsprechenden Wanderbewegungen während der Aufführung. Die Toten singen in italienischer Sprache Passagen aus dem Inferno aus Dantes Göttlicher Komödie, sind also der realen (bundesdeutschen) Welt auch sprachlich abhandengekommen. In dieser Aufführung betören die Knaben der Chorakademie Dortmund mit strahlenden Stimmen und fantastischer Präsenz, als sei Henzes Musik die leichteste der Welt. Das ChorWerk Ruhr und die Zürcher Singakademie stehen dem nicht nach, und neben dem sachlich agierenden Sprecher singen Marisol Montalvo mit schönem lyrischen Sopran und Holger Falk mit leichtem, ungemein beweglichen Bariton.

Vergrößerung in neuem Fenster Auf den Gebeinen der Gestorbenen stehend schwenkt Jean-Charles das rote Tuch

Er wolle keine szenische Interpretation, sondern die Konzertsituation um eine Installation erweitern - in etwa so hat sich der ungarische Theatermacher und Filmregisseur Kornél Mundruczó zu seiner Einrichtung des Oratoriums für die Ruhrtriennale geäußert. Das Ergebnis sieht leider ziemlich nach einer familientauglichen Seeräuberpistole a la Disney Studios aus. An der Rampe ist Sand aufgeschüttet, aus dem Pflanzen ziemlich gerade nach oben wachsen - eine Unterwasserlandschaft, wie man bald durch die Videoprojektionen merkt, und als Ersatz für Luftblasen (der Ertrinkenden?) steigen doch tatsächlich Seifenblasen auf, ein niedlicher Effekt. Irgendwann tauchen sogar Haie auf. Im zweiten Teil ist die Szene trockengelegt, der Sand rieselt nach unten und gibt etliche menschliche Skelette frei. Der Bariton, der einen der Schiffbrüchigen verkörpert (es ist derjenige, der auf Gericaults Bild das rote Tuch schwenkt), läuft in Jeans und Kapuzenjacke über die Bühne, immerhin ein Bild jenseits von Südsee- und Karibikklischees, aber es ist viel mehr Holker Falks sehr genauer Gesang, der hier fesselt, als das Bild. Sprecher-Erzähler Tilo Werner (souverän sachlich) stapft im Anzug, aber ohne Schuhe und Socken zunächst durch ein apartes gläsernes Wasserbassin (er symbolisiert, neben seiner Rolle als Berichterstatter, bei Schnabel und Henze auch noch den mythologischen Fährmann Charon, der die Toten in den Hades übersetzt). Die Sopranistin, die für den Tod steht, singt im schwarzen Kleid. Das alles ist geradezu erschreckend unpolitisch geraten, sogar ziemlich behäbig, wenn die Choristen beim Wechsel von den Lebenden zu den Toten einen togaartigen Umhang ablegen, als sei der Weg von einem Chorpodium zum anderen nicht schon deutlich genug. Ganz am Ende blendet Mundruczó per Videoprojektion einige Gesichter gegenwärtiger Menschen ein, es könnten Flüchtlinge sein (klar wird das nicht), und das Wort WIR in großen Buchstaben. Das ist doch ziemlich wenig (und auf die spezielle Raumsituation der Jahrhunderthalle geht das Konzept überhaupt nicht ein). Romeo Castellucci etwa hatte zuletzt in Amsterdam eine zwingendere Bildsprache gefunden. Hier hätte eine konzertante Aufführung womöglich stärkere Bilder im Kopf freisetzen können.


FAZIT

Unfreiwillig entschärft Kornél Mundruczós Bildsprache das Floß der Medusa, das musikalisch längst im bürgerlichen Kulturbetrieb angelandet ist und in der Jahrhunderthalle, manchen Tücken der Akustik zum Trotz, in einer vor allem Dank der Chöre eindrucksvollen Aufführung seine kompositorischen Qualitäten beweist.




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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Steven Sloane

Regie
Kornél Mundruczó

Bühne
Márton Ágh

Kostüme
Márton Ágh
Melinda Domán

Licht
Felice Ross

Einstudierung Chor
Sebastian Breuing

Dramaturgie
Kata Wéber

Herstellung Installation und Bühne
Proton Theater



ChorWerk Ruhr

Zürcher Sing-Akademie

Knabenchor der Chorakademie Dortmund

Bochumer Symphoniker



Solisten

Sopran (La mort)
Marisol Montalvo

Bariton (Jean-Charles)
Holger Falk

Sprecher (Charon)
Tilo Werner



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