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Flüchtlingsdiskovon Stefan Schmöe / Fotos © Ursula Kaufmann und Carolin Saage
Auch als Theaternarr zuckt man kurz zusammen, wenn man die Rahmenbedingungen dieser Aufführung realisiert. Aufführungsdauer: 2 Stunden 50 Minuten ohne Pause. Stehplatz. Hört sich anstrengend an. (Ist es auch.) Es ist freilich vieles anders als erwartet. Sasha Waltz, designierte Co-Intendantin beim Staatsballett Berlin, hat keinen konventionellen Ballettabend für die Guckkastenbühne konzipiert, sondern eine Performance, bei der das Publikum zumindest im ersten Teil zwischen den Tänzerinnen und Tänzern herumspaziert und bei der somit die Grenze zwischen Ausführenden und Betrachtern ein Stück weit aufgehoben wird. Man darf auch jederzeit den Saal, oder besser: die Halle, verlassen, wenn man eine Pause benötigt (die Gefahr, dass man Essentielles versäumt, ist gering.) Wobei sich zunächst die Frage stellt, in welchen Teil der Halle, durch eine schwarze Wand mit schmalem Durchgang in zwei Teile geteilt, man überhaupt gehen soll.
In der einen Hälfte wird im dichten Bühnennebel ein Tänzer mit Seilzügen mehrere Meter in die Höhe gezogen, gut gesichert und daher an sich unspektakulär. Aber er greift nach der Hand einer Tänzerin und zieht diese mit sich - da wird einem schon mulmig (dass der Arbeitsschutz das überhaupt zulässt!). Die Szene hat in ihrer geisterhaften Logik etwas Beängstigendes wie auch Faszinierendes. Allerdings wiederholt sich die Szene mehrfach, da kann man wohl den Raum wechseln. Im anderen Teil der Halle sind mehrere Tänzerinnen und Tänzer in enge Plexiglasvitrinen eingeschlossen wie Kunstgegenstände oder seltene Tiere, und da man keinerlei Abstand halten muss, ist diese ungewohnte Nähe bei gleichzeitiger Distanz durch die Scheibe ein erhebliches Irritationsmoment. Andere Tänzer laufen zwischen dem Publikum herum, berühren die Scheiben, öffnen die Vitrinen nach und nach. Im kontrastreichen Lichtwechsel - das harte, scharf begrenzte Licht von oben leuchtet die verdunkelte Halle streifenweise aus - erkennt man nicht immer sofort, ob man Tänzerin oder Tänzer oder doch "nur" einen Besucher vor sich hat, und das verändert die Wahrnehmung: Plötzlich ist jede(r) Teil der Performance.
Leider kann Sasha Waltz das Niveau dieses spektakulären Beginns nicht durchhalten. Mag die Spannung zwischen Individuum und Gruppe, die sich durch die Bewegungen im Raum ganz konkret erfahrbar mitteilt, weil man selbst ja als Teil des Prozesses ausweicht oder eben nicht, noch durchaus fesselnd sein, so ist das folgende Mitmachtheater recht pädagogisch angehaucht. Einzelne Besucher werden an die Hand genommen, durch den Raum geführt, gehen unter von den von Tänzerinnen und Tänzern gebildeten brückenartigen Körperskulpturen hindurch. Mancher Zuschauer mag das offensichtlich (jedenfalls tritt die eine oder andere Person recht regelmäßig in Erscheinung), andere dürften diese Form der Partizipation ablehnen. Und irgendwann so etwa ab der Hälfte sitzt man dann doch auf den Bänken um die Spielfläche herum fast in gewohnter Manier. Dass die Bühnenfläche zwischendurch in einen Dance Floor verwandelt und man zur Disco eingeladen wird, ist geradezu banal.
"Ausgehend von persönlichen Fluchtimpulsen und Sehnsüchten wurde ein Bewegungsprozess entrollt", kann man im Programmheft lesen, und die beiden zentralen Fragen lauten: "Wovor möchtest Du fliehen?" und "Was ist für Dich Utopia?". Die Bedeutungsvielfalt des Wortes "Flucht" erweist sich zunehmend als Last für die Produktion. Der Begriff ist nicht zu denken ohne die Migrationsströme und all das, was sich unter dem Begriff "Flüchtlingskrise" zusammenfallen lässt. Diesem Kontext die Alltagsfluchtwünsche einer saturierten westeuropäischen Wohlstandsgesellschaft entgegenzustellen hat einen obszönen Beigeschmack. Der großspurige Titel EXODUS / ΕΞΟΔΟΣ, der dem Stück auch noch biblische Dimensionen verleiht. Exodus wird im Programmheftartikel als "Ausweg" gedeutet, aber auch als "das Ausgehen ins Nachtleben", womit wir wieder bei der ärgerlichen Disco-Einlage wären. Dem großen gedanklichen Überbau wird das Stück mit fortlaufender Spieldauer zunehmend weniger gerecht.
Die Musik des Soundwalk Collective verarbeitet Aufnahmen "von öffentlichen und spannungsgeladenen Orten" zu elektronischer Musik. Wie da Töne von "Migrant*innen bei der Überquerung des Mittelmeers" hineinkommen, möchte man vielleicht besser nicht wissen. Der Anfang von Mahlers 6. Symphonie klingt kurz an, und eine Performerin singt, unbegleitet, die Senta-Ballade aus dem fliegenden Holländer. Am Ende sieht man, ein altes Thema, ein Paar im Grenzbereich zwischen Liebesakt und Nahkampf, freilich oft schon eindrucksvoller choreographiert als in dieser sehr artifiziellen Variante. Es gibt zweifellos eine Reihe interessanter Szenen - aber ein Tanzabend, der seinem hohen Anspruch nahekommt, ist nicht daraus geworden.
Ziemlich cool, was Sasha Waltz an Bildern vorführt, aber kein Werk, was darüber hinaus besonders berührt.
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Produktionsteam
Regie und Choreographie
Musik
Kostüme
Bühne
Licht
Repetition
Dramaturgie
Musikdramaturgie
Tänzerinnen und TänzerLiza Alpízar AguilarBlenard Azizaj Jirí Bartovanec Davide Camplani Clémentine Deluy Davide Di Pretoro Luc Dunberry Charlotte Engelkes Tian Gao Peggy Grelat-Dupont Hwanhee Hwang Lorena Justribó Manion Annapaola Leso Margaux Marielle-Tréhoüart Nicola Mascia Thusnelda Mercy Michal Mualem Virgis Puodziunas Sasa Queliz Zaratiana Randrianantenaina Aladino Rivera Blanca Yael Schnell Corey Scott-Gilbert Claudia de Serpa Soares Stylianos Tsatsos weitere Berichte von der Ruhrtriennale 2018 - 2020 Homepage der Ruhrtriennale Die Ruhrtriennale in unserem Archiv |
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