Veranstaltungen & Kritiken Musikfestspiele |
|
Vielschichtige Signale aus den Tiefen des Marthaler-Ives-Universumsvon Stefan Schmöe / Fotos © Walter Mair / Ruhrtriennale 2018
Der Tubist hat sich verspätet. Jetzt muss er, im Frack und mit dem großen Instrument unter dem Arm, in komischer Verzweiflung quer durch die Jahrhunderthalle eilen. Und diese Halle ist riesig (zumal Christoph Marthaler tatsächlich fast die komplette Halle bespielt und sich nicht, wie sonst üblich, mit einer der drei ineinander übergehenden Gebäudeteile begnügt). Also schnell hin zum Orchester - aber zu welchem? Erst tönt's von rechts, dann von links, und der arme Mann gerät in zunehmende Verwirrung, eilt bald hier-, bald dorthin. Das ist so eine typische Marthaler-Pointe und mehr als ein, kalauern wir's aus: running gag, sondern ein szenisches Pendant für ein wiederkehrendes Moment in der Musik von Charles Ives, um die es an diesem Abend geht. Dessen Vater George, selbst Musiker, soll einmal zwei Blaskapellen, unterschiedliche Stücke spielend, aneinander vorbeimarschieren haben lassen - ein Klangeindruck, der sich dem jungen Charles offenbar so eingeprägt hat, dass er in eigenen Kompositionen oft disparate Elemente hart neben- und gegeneinander setzte. Die Irritation des armen Tubisten ist gleichzeitig die Irritation unserer Ohren. Vielleicht auch unseres überforderten Bewusstseins in einer ziemlich komplexen Welt.
Für Charles Ives (1875 - 1954) war der Klang seiner Zeit eine Vielstimmigkeit aus oft sehr unterschiedlichen Klangereignissen, und so sind auch viele seiner Kompositionen angelegt: Collagenhaft, voller Zitate bekannter Melodien, polytonal versetzt - eine Musik aus und für die Großstadt New York. Regisseur Christoph Marthaler und Ausstatterin Anna Viebrock lassen eine Musikkapelle in den Kostümen der 1920er-Jahre aufmarschieren, nicht nur für die schräge, jedes Unabhängigkeitspathos unterlaufende Komposition Ouvertüre und Marsch 1776. Eine subtilere Bildmetapher gibt es für den zweiten Satz der Vierten Symphonie. Anna Viebrock und Thilo Albers (Mitarbeit Bühnenbild) haben weit hinten in der Halle einen steil ansteigenden Kinosaal gebaut, die Leinwand nicht einsehbar, aber man erkennt den flackernden Lichtstrahl des Projektors. Ein oder zwei Personen sitzen da verloren, und so wird die Musik zur Filmmusik eines für uns unsichtbaren Films. Die Three quarter-tone pieces for two pianos sind wiederum ganz schlicht visuell umgesetzt: An zwei (um einen Viertelton gegeneinander versetzt gestimmten) Klavieren sitzen sich Bendix Dethleffsen und Michael Wilhelmi etwa 30, 40 Meter voneinander entfernt gegenüber und treten Aug' in Aug' in einen aufregenden musikalischen Dialog.
Ives' größtes Werk wäre die Universe Symphony geworden, ein gigantischer Hymnus an die Schöpfung einschließlich der Utopie eines friedvollen Zusammenlebens darin. In den ersten Entwürfen dachte der Komponist an mehr als 4000 Musiker, auf mehrere Hügel verteilt - später plante er mit realistischeren Formaten, immerhin noch mehreren Orchestergruppen. Über Entwürfe kam das Werk nie hinaus (Ives selbst regte an, ein anderer könne es später vollenden). Es hat verschiedene Vervollständigungen gegeben, die auch auf CD festgehalten sind (z.B. hier). Marthaler geht einen anderen Weg und macht das Unvollendete selbst zum Programm, indem er es bei dem Torso belässt. Dirigent Titus Engel, der die im Raum verteilten Musiker umsichtig leitet, verwendet das von Ives weitgehend vollständige, also spielbare Material. (Ein paar editorische Hinweise hätte man sich bei dieser Produktion schon gewünscht.) Was erklingt, ist im Wesentlichen eine Komposition für Schlagwerk, bei dem diverse Zeiteinheiten übereinander geschichtet werden - als ließe man viele Metronome in unterschiedlichen Tempi ticken, nur das die Musik mehr "atmet", nicht so streng mechanisch klingt: Ein faszinierender Puls der Schöpfung. Und wie geht der reale Mensch damit um? Er gibt sich kleinbürgerlich und diszipliniert. Brav warten die Darsteller vor einer Kontrollstelle erst einmal auf den selbstgefälligen und offenbar willkürlichen Wink eines Beamten, bis sie, einer nach dem anderen die Bühnenfläche betreten dürfen.
Es ist das marthalertypische Panoptikum an schrulligen Durchschnittstypen mit irgendwie unpassender Alltagskleidung (was zeigt, dass es keine Durchschnittstypen gibt, sondern einfach nur sehr unterschiedliche Individuen), das den Saal spärlich bevölkert, ziemlich unbehaust bleibt, obwohl an Sitzplätzen kein Mangel ist. Gewaltige Tischreihen wie aus Kantinen, Kirchenbänke, der schon erwähnte Kinosaal oder auch eine schlichte Sitztribüne bieten sich an. Man rottet sich im schutzbedürftigen Rudel zusammen, verliert sich im Raum der gigantischen Jahrhunderthalle, robbt langsam über die Tische oder verfällt in absonderliche Tänze im Zeitlupentempo. Und dann gibt es Momente, in denen dieses wunderbare Ensemble inne hält, zu singen beginnt und die Zeit anhält: Ein schlichtes Christmas Carol, ein Weihnachtslied, aus der Feder von Ives, naiv und zart, und glasklar und sehr leise intoniert. Es gibt noch weitere Songs von Ives zu hören, derbe und sanfte, sehr volksliedhaft. Marthaler lässt die Liedtexte nicht durch Übertitel einblenden, wohl aber die englischen Übersetzungen der (wenigen) gesprochenen Passagen - Hauptsächlich Texte des 1951 geborenen Lyrikers Gerhard Falkner, die ziemlich kryptisch bleiben und keinen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Am Ende steht programmatisch eine der berühmtesten Kompositionen von Charles Ives: The Unanswered Question. Über einem zart fließenden Streicherteppich, wie er auch von Gustav Mahler sein könnte, erklingt ein Trompetenmotiv - "die ewige Frage der Existenz" - und als Reaktion die (harmonisch und rhythmisch unpassende) "Antwort" eines Holzbläserquartetts, zunehmend dissonant. Unsichtbar und über große Abstände im Raum verteilt, senden diese drei Gruppen Signale wie von unterschiedlichen Enden des Universums. Und wir armen, kleinen Menschlein, die wir so wichtigtuerische Zugangskontrollen durchlaufen müssen, sitzen ohne Antwort auf die großen Fragen mittendrin.
Eine brillante Auseinandersetzung mit der Musik von Charles Ives: In einer aufregend rätselhaften Produktion, die beeindruckend die räumlichen Möglichkeiten der Jahrhunderthalle nutzt, schickt uns Christoph Marthaler mit Witz in ein mal lärmendes, mal poetisches Universum.
|
Produktionsteam
Regie
Musikalische Leitung
Bühne
Kostüme
Co-Regie
Co-Kostüm
Licht-Design
Licht
Sounddesign
Dramaturgie
Arrangements
Darsteller / PerformerJoaquin AbellaTora Augestad Liliana Benini Bérengère Bodin Marc Bodnar Magne Håvard Brekke Bendix Dethleffsen (Klavier) Haizam Fathy Altea Garrido Ueli Jäggi Antonio J. Navarro Jürg Kienberger Michael Wilhelmi (Klavier) Thomas Wodianka verwendete Kompositionen von Charles Ives (ganz oder teilweise): Universe Symphony Symphony No. 4 Decoration Day The Unanswered Question String Quartet No. 2 "Country Band" March for Theatre Orchestra Overture & March "1776" The Gong on the Hook and Ladder or Firemen's Parade on Main Street 3 Quarter-Tone pieces (for two Pianos) Songs: Majority Serenity Charlie Rutlage He is There! Like a sick eagle On the Counter A Christmas Carol Mists The Cage Texte von Gerhard Falkner aus Gegensprechstadt; Kanne Blumma; Ignatien; Bekennerschreiben; so beginnen am körper die tage sowie Texte von Martin Kippenberger, Patrizia Cavalli, T.S. Eliot, Thomas Espedal und Henri Michaux weitere Berichte von der Ruhrtriennale 2018 - 2020 Homepage der Ruhrtriennale Die Ruhrtriennale in unserem Archiv |
- Fine -