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Im Echoraum der kulturellen Erinnerungvon Stefan Schmöe / Fotos © Paul Leclaire/Ruhrtriennale 2019
Was bleibt von uns? Es ist schon ganz lustig, was im als Foyer abgetrennten Teil der gigantischen ehemaligen Industriehalle als "Museum der Gegenwart" zu sehen ist. Scherben einer CD zum Beispiel, zum Knäuel verworrene Kabel oder eine modische Jeans. Allesamt in Vitrinen präsentiert, als wären sie von Archäologen aus dem Sand ausgegraben worden. Bruchstücke unserer Gegenwartskultur aus zukünftiger Retrospektive. Genau an diesem Punkt setzt David Martons Inszenierung von Henry Purcells Oper Dido and Aeneas an, uraufgeführt etwa 1688. Zwei Archäologen graben ein Smartphone aus (die Bilder der Live-Cam werden auf die Bühnenrückwand projiziert, sodass man beste Sicht hat), auch ein Skelett, dessen Hand eine Computer-Maus umklammert. Die Zerstörung des ruhmreichen Karthago, die sich in der Oper abzeichnet (Königin Dido tötet sich, nachdem ihr Liebhaber Aeneas sie verlassen hat und seinem göttlichen Auftrag folgt, das römische Reich zu gründen), wird zum Sinnbild unserer eigenen Vergänglichkeit.
Martons Konzept, für die Oper Lyon entwickelt (in Koproduktion mit der flämischen Oper Antwerpen und Gent), geht weit über diesen symbolischen Verweis hinaus. Ein Ansatzpunkt ist der Gedanke, dass wir uns barocken Kompositionen wie dieser mit ihren uneindeutigen Spielanweisungen quasi musikarchäologisch - Stichwort "historische Aufführungspraxis" - nähern; dass sich diese Oper über Vergils zwischen 29 und 19 v.Chr. entstandener Aeneis als Textvorlage thematisch dem Gründungsmythos Roms zuwendet. Wir dringen also Schicht für Schicht in die Vergangenheit ein. Marton legt aber nicht nur frei, sondern fügt noch eine weitere Schicht hinzu, indem er den finnischen Jazz-Gitarristen Kalle Kalima zusätzliche Musik hat komponieren lassen. Das sind teilweise hypernervöse, geräuschhaft scharfe und von der jaulenden E-Gitarre dominierte Klangteppiche, überwiegend aber Variationen über Didos zentrale Lamento-Arie When I am laid in earth, die sich über einer ostinato wiederholten markanten Basslinie mit hohem Wiedererkennungswert entwickelt. Zum Barockorchester gesellt sich die E-Gitarre (die Kalima selbst spielt) mit unverkennbar "modernem" Klang - musikalische Chiffre für unser Elektronik-Zeitalter.
Da Purcells Partitur nur knapp eine Stunde lang ist, wäre der Abend immer noch ziemlich kurz. Marton lässt Passagen aus der Aeneis sprechen und spielen, allerdings in (nicht versgebundener) englischer, teilweise französischer Übersetzung spielen und nicht im originalen Latein - ganz leuchtet das nicht ein bei einer französisch-flämischen Koproduktion, die auch bei englischer Sprache auf Übertitelung angewiesen ist. Die beiden Archäologen des Beginns erweisen sich als Jupiter und Juno, die Aeneas' Geschicke lenken (bei Purcell allerdings im wahrsten Wortsinn keine Rolle spielen). Aus dem etwas rätselhaften Libretto der Oper wird auf diese Weise eine große Geschichte und die tragische Liebesbeziehung wieder zum Weltendrama aufgewertet. Das führt Dido and Aeneas aus der Nische der hübschen, aber kleinen Oper heraus und verleiht dem Werk Gewicht. Selbst das reicht Marton noch nicht. Er lässt die Sängerin und Performerin Erika Stucky zwischen den Akten auftreten, wo die Stimmkünstlerin virtuos jodelt, grunzt, falsettiert und sogar ein wenig singt (in der Partie der Zaubererin), aber richtig einfügen will sich diese Ebene in das Konzept nicht, auch wenn sie ein neues interessantes Moment einbringt.
Dido und Aeneas sind moderne Menschen, Jupiter und Juno dagegen beinahe schon parodistisch typisierte antike Götter und gleichzeitig Archäologen der Zukunft - Marton kreiert damit einen ganz eigenen Zeitbegriff, in dem sich die Geschichte möglicherweise doch wiederholt oder, die abstrahiertere Sichtweise, bestimmte Modelle sich prototypisch durch die Zeiten ziehen. Damit ist dieses Gastspiel ein interessantes Pendant zu Marthalers Kreation Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend., bei dem er ebenfalls aus der Zukunft auf unsere Zeit schaut. Bei aller Raffinesse hat Martons Konzept aber auch unüberspielbare Längen (was nicht nur an den tropischen Temperaturen liegt, die am Premierentag in der Duisburger Halle herrschten). Es gibt viele Redundanzen, Formen wiederholen sich, die Idee trägt nicht ermüdungsfrei über die (hier ohne Pause gespielten) mehr als zwei Stunden. Auch musikalisch erschöpft sich bei aller klanglichen Finesse Kalle Kalimas und den interessanten Farben der E-Gitarre irgendwann die Idee, Didos Lamento permanent zu variieren. Man ahnt nach der Aufführung, wie das Stück geklungen hätte, wäre es von Ligeti oder von Schnittke vertont worden. Aber es sind dann eben Variationen und keine Entwicklungen.
Das Orchester der Oper Lyon spielt unter der Leitung von Pierre Bleuse farbig, in der Gestaltung "historisch informiert", ein wenig breit und rhythmisch nicht allzu scharf, stilsicher auch in den von Kalima komponierten Passagen. Ausgezeichnet singt der Chor der Oper Lyon. Alix Le Saux ist eine Dido mit schönem, leicht eingedunkeltem Timbre und voller Stimme, Guilleaume Andrieux ein wandelbarer und facettenreicher Aeneas, Claron McFaddon eine eindrucksvolle Freundin Belinda. Die Schauspieler Thorbjörn Björnsson und Marie Goyette treffen mit feiner Ironie ausgezeichnet den scharfen Grad zwischen antiker Gottheit und modernem Menschen und transportieren Vergils Pathos geschickt in unsere Gegenwart. Da geht Martons Konzept gut auf, und Didos eindringlicher musikalischer Ruf "Remember me" findet szenisch und visuell ein beeindruckendes Echo.
David Martons Dido-Projekt ist zwar ein wenig ausschweifend geraten und kommt um einige Längen nicht herum, weitet Purcells Oper aber auch eindrucksvoll auf. Musikalisch recht ordentlich.
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Produktionsteam
Regie und Konzept
Musikalische Leitung
weitere Kompositionen und Gitarre
Bühne
Kostüme
Licht
Video
Chor
Dramaturgie
Darsteller / Performer
Dido
Aeneas
Belinda
Esprit / Venus / Zwischenspiele
Jupiter
Juno
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- Fine -