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Das Unfassbare lauertvon Stefan Schmöe / Fotos © Heinrich Brinkmöller-Becker
Er sei nicht katholisch, jüdischer Herkunft, gehöre aber keiner Religion an, hat György Ligeti einmal gesagt. Das zwischen 1963 und 1965 komponierte Requiem (das teilweise auf frühere Skizzen zurückgeht), ein Auftragswerk des schwedischen Rundfunks, ist in diesem Sinn kein religiöses Bekenntniswerk. Vermutlich aber hat Kornél Mundruczo, der für die Ruhrtriennale diesen Abend mit dem Titel Evolution konzipiert und inszeniert hat, nicht unrecht, wenn er in dieser Komposition biographische Bezüge sieht. Liegtis Vater wurde im KZ Bergen-Belsen umgebracht, der jüngere Bruder Gábor in Mauthausen; Ligetis Mutter überlebte Auschwitz. Ob er diese Erfahrungen wie auch den Stalinismus "in seinem Werk beschrieben" hat, wie Mundruczo im Programmheft über das Requiem mutmaßt, oder ob sie als Erfahrungshintergrund in die Musik hineinwirken, sei dahingestellt; die Komposition auf die Opfer von Faschismus zu beziehen, ist in diesem Kontext ganz sicher legitim. Mundruczo gestaltet daraus einen dreiteiligen Abend, einen szenischen Triptychon, der szenisch wie musikalisch sehr berührt.
Kornél Mundruczó erzählt drei stilistisch sehr unterschiedliche Geschichten, die einen Zusammenhang erhalten über ihre Hauptfiguren, die den Episoden auch ihre Titel geben: Èva, Léna und Jonas, das sind Großmutter, Mutter und Sohn, gleichzeitig Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In der ersten Geschichte, "Éva", säubern drei Männer einen Kellerraum mit Duschköpfen an den Wänden, und man ahnt sofort, dass es sich wohl um eine Gaskammer handelt. Mundruczó erzeugt eine surreale, beklemmende Atmosphäre, lässt etwa die Arbeiter Stränge von Haaren aus Schächten und Wasserleitungen ziehen. Es fällt kein einziges Wort, im Grunde ist dies eine halbstündige Pantomime, zu der Ligetis Requiem erklingt. Szenische Aktion und Musik sind sehr genau aufeinander abgestimmt, einem neuen Impuls in Ligetis Komposition entspricht praktisch immer ein Ereignis auf der Bühne und umgekehrt. So kommentieren sich Musik und Szene wechselseitig, ohne dass die Musik zum Soundtrack oder die Szene zur bloßen Bebilderung würde. Am Ende dieses Abschnitts finden die Arbeiter, drei polnische Bauern (wie man später erfährt) einen Säugling, den sie mitnehmen. Es ist Èva, im KZ geboren, die auf diese Weise überlebt.
Die in einer Budapester Mietswohnung angesiedelte zweite Episode Léna, ist ein Zwei-Personen-Schauspiel, bei der Ligetis Musik nur in Bruchstücken eingeworfen wird - zunächst als Aufnahme, die aus dem Radio ertönt, bis Léna dieses genervt ausschaltet, dann vereinzelt wie ein Einbruch des mit Worten nicht Sagbaren in den hitzigen Diskurs. Wurde im ersten Teil gar nicht gesprochen, so handelt es sich hier um einen wortreichen Dialog zwischen Éva, zur alten Frau geworden, und ihrer Tochter Léna, geschieden, ein Kind, zu wenig Geld für die erwünschte Eliteschule für ihren Sohn Jonas in Berlin, wohin sie aus der ungarischen Tristesse gerne fliehen würde. Das Geld könnte aus einem Fonds für Opfer des Holocaust und deren Familien kommen, wenn Léna ihre Herkunft nachweisen kann. Der (ungarische, deutsch und englisch übertitelte) Text von Kata Wéber spielt in verknappter Form viele Aspekte durch von der Situation der Überlebenden des Holocaust, vom mehr oder weniger offenen Antisemitismus der Nachkriegszeit und des Stalinismus bis hin in die Gegenwart: Éva will nicht auf ewig in der Rolle des Opfers bleiben, die pragmatische Léna benötigt das Geld. Die Frage nach dem Weiterleben, nach ihrer Rolle ist für Éva ein evolutionärer Prozess, sie muss sich flexibel den Zeiten anpassen - darauf spielt der Titel Evolution des Abends an. Raffiniert variiert Kata Wéber dabei die Standpunkte, und nicht weniger grandios spielen sich Lili Monori und Annamária Láng, Schauspielerinnen des von Mundruczo mitbegründeten Proton Theaters, die Bälle zu. Inszeniert ist das zunächst hyperrealistisch in einer modernen Küche (Ausstattung: Monika Pormale), gefilmt von zwei Live-Cams, deren Bilder großflächig projiziert werden, sodass man gefährlich nahe an die Figuren heranrückt. Am Ende bricht mit einem faszinierenden Theatercoup auch hier das Surreale in die banale Gegenwart hinein - Mundruczo verlässt das Diskurstheater und schafft auch hier frappierende Bildwelten. Ligetis Requiem liegt, auch wenn gerade kein Bruchstück erklingt, lastend wie ein Schatten über der Szene und überhöht diese.
Der dritte Teil "Jonas" beginnt mit der Einblendung eines Smartphone-Chats zwischen Jonas und seiner jugendlichen Peer-Group. Ein latenter Antisemitismus schimmert auf und bleibt so unklar, wie solche Gespräche unter Jugendlichen oft sind - "Dann bring Dich um" ist so eine vordergründig kumpelhafte Floskel, bei der ein Restrisiko besteht, dass sie ernst gemeint sein könnte. Man sieht Jonas in der Bühnenmitte sitzen, 12 weitere Jugendliche in lockeren Dreiergruppen rechts und links von ihm - das entspricht dem Aufbau von da Vincis Abendmahl. Die Szene dauert nur wenige Minuten, dann öffnet Mundruczo den Raum und erzeugt mit Laserstrahlen einen abstrakten Raum von schier unendlicher Tiefe, aus dem Sängerinnen und Sänger hervorkommen und erneut Teile des Requiems singen. Die Bilder sind nicht mehr real fassbar, Mundruczo wechselt auf eine transzendente Ebene. Aber es bleibt im Raum stehen, dass die Geschichte des Holocaust keineswegs abgeschlossen ist. "Does the beast come back? fragt Mundruczo im Programmheft, und unausgesprochen unterwandert diese Frage den gesamten Abend.
Mit dem guten, um Sängerinnen und Sänger des ungarischen Nationalchors vergrößerten Lettischen Staatschors (Einstudierung: Maris Sirmais) und den zuverlässigen Bochumer Symphonikern unter der Leitung von Steven Sloane gelingt eine sehr expressive musikalische Interpretation, die die stärker die sinnliche Wirkung als die kompositorische Struktur hervorhebt und im zerklüfteten Dies irae den wilden Intervallsprüngen zum Trotz nach der gesanglichen Linie sucht. Die Sopranistinnen Yeree Suh und Virpi Räisanen bewältigen die Solopartien überzeugend.
Ein musikalisch wie szenisch fesselnder, berührender, auch furchterregender Abend. Die mit Abstand beste und wichtigste Produktion der laufenden Triennalesaison.
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Produktionsteam
Konzept und Regie
Musikalische Leitung
Bühne
Kostüme
Licht
Sound Design
Videodesign
Dramaturgie
Solistinnen
Sopran
Mezzosopran
Schauspieler*innen
Éva
Léna
Drei polnische Bauern
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- Fine -