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Genialität und Stillstand
Von Stefan Schmöe / Fotos: Sven Lorenz
Bei Ivo Pogorelich können die Meinungen schon mal auseinander gehen - das ist so etwas wie der Gründungsmythos dieser ungewöhnlichen Pianistenkarriere: Beim Chopin-Wettbewerb 1980 verließ die große Martha Argerich empört die Jury, nachdem Pogorelich der Einzug in die Finalrunde verwehrt wurde. Ein verkanntes Genie - oder doch nicht? 40 Jahre später, beim zehnten Auftritt des inzwischen fast 62-jährigen Pianisten beim Klavier-Festival Ruhr, stellt sich die Frage durchaus wieder.
Foto: Sven Lorenz / Klavier-Festival Ruhr
Bachs Chromatische Fantasie spielt er mit weichem Anschlag und wenig Dämpfer, lässt die Töne miteinander verschmelzen. Barocke Strenge wird damit ein Stück weit aufgegeben zugunsten eines radikalen Klangausbruchs; gleichwohl bleibt pogorelich im Metrum unbestechlich. Der musikalische Gedanke, den pogorelich hier ausformuliert, korrespondiert direkt mit dem arpeggierenden Beginn von Beethovens Sturm-Sonate, in dem sich die lineare Struktur in einer Art Klangwolke auflöst. Querbeziehungen stellen sich später auch ein in den Trillerketten in der Es-Dur-Sonate Les Adieux. pogorelich bewältigt die technischen Anforderungen mit einer Leichtigkeit und Schwerelosigkeit, durch die alle "schnellen Noten" und Triller zu klangbildenden strukturellen Elementen werden. Konnte man an den Tagen zuvor bei Kit Armstrong erleben, wie Virtuosität und technische Brillanz als pianistische Mittel zum Spiel mit dem Publikum eingesetzt werden (was vor allem in der frühen C-Dur-Sonate aufging), so behandelt sie pogorelich hier als strukturelle Elemente, die neue Räume erschaffen.
Pogorelich sucht den ganz großen Ton, und bereits bei Bachs dritter Englischer Suite g-Moll donnern so manche Akkorde wie bei Tschaikowskij oder Rachmaninow. Im einleitenden Prélude spielt er die die verschiedenen Stimmen keineswegs gleichberechtigt, sondern hebt bestimmte Verläufe überdeutlich hervor, und ob man die hierarchische Abstufung (die ja Bachs kontrapunktische Struktur erst einmal unterläuft), deren Sinn sich nicht unbedingt erschließt, konstruktives Interpretationsprinzip oder Manierismus ist, das ist schon die erste Streit- oder Geschmacksfrage an diesem Abend. Wenn im Laufe der Suite - und bei fast allen anderen Werken des Abend bis hin zum großen verpatzten Finale, dazu später - die Satzschlüsse überhastet und wenig durchdacht klingen, als sei der Interpret selbst überrascht vom (meist gar nicht so plötzlichen) Ende, dann wirkt das oft geradezu dilettantisch in den abrupten und unvorbereiteten Tempowechseln. Den Schluss der (mehr routiniert als inspiriert gespielten) Courante nimmt Pogorelich mit großem Pathos - nur kommt danach noch die Wiederholung, die diese affirmative Geste prompt ins Lächerliche dreht. Die Sarabande wird zur Endzeitmusik, die Bach als einen der Zeit entrückten Komponisten hörbar macht, was so falsch nicht ist, denn diese Musik sprengt in der Tat alle Rahmen. Nur entwerten auch hier die Wiederholungen den Effekt. Im Grunde weiß Pogorelich mit diesen Wiederholungen nichts anzufangen, sie wiederholen halt; aber weil Pogorelich im schönen, tragischen, metaphysischen Moment verweilt, bräuchte er sie nicht (und eigentlich zwingt ihn niemand, alle Wiederholungen zu spielen). So stehen erschütternde existentielle Grunderfahrung und Langeweile ziemlich nahe beieinander. Und dann kommen die Gavotten, und man möchte auf die Knie sinken vor Glück. Das sind diese genialischen Momente, die sich in Worten nicht beschreiben lassen. Schade, dass die schludrig gespielte Gigue dieses Niveau nicht halten kann.
Foto: Sven Lorenz / Klavier-Festival Ruhr
In Chopins Barcarole Fis-Dur Oper. 60 beginnt Pogorelich derart frei im Tempo, dass er letztendlich in den einleitenden Takten gar kein Metrum mehr findet - die Musik torkelt vor sich hin, reichlich unklar. Aber immer wieder gibt es ein paar Takte, da wechselt die Interpretation von einem Moment auf den anderen in schlafwandlerisch souveräne Stilsicherheit, Chopin auf höchstem Niveau, um dann wieder in Oberflächlichkeit abzugleiten. Und auch hier - wie in allen Werken dieses Abends - fehlt der Musik der Impuls nach vorne, der große Plan, das Ziel. Pogorelich verweilt im schönen Augenblick, und der kann ganz schön lange dauern. Die zweite Hälfte der Barcarole zerfiel weitgehend in Belanglosigkeit und hohles Pathos. Wobei danach das Prélude cis-Moll op.45 in zarten Tönen dann doch wieder wundervolle Momente hatte.
Ravels Gaspard de la Nuit ist ein virtuoses Feuerwerk. Pogorelich deutet das hin und wieder an, bleibt aber reichlich unscharf, da werden, nun ja, die meisten Töne gespielt, wobei die Virtuosität in ein diffuses Rauschen verwandelt wird (was für ein Kontrast zum glasklaren Spiel von Víkingur Ólafsson ein paar Tage zuvor, bei dem nicht eine einzige Note verloren gehen durfte). So recht zieht auch nicht das Argument, die Virtuosität sei zweitrangig gegenüber der kompositorischen Struktur - Ravel wollte sicher (und zwar deutlicher als bei Pogorelich) hörbar machen, welche Anforderungen dem Pianisten hier abverlangt werden. Die drei Sätze der Komposition beziehen sich auf Gedichte von Aloysius Bertrand, einem französischen Vertreter der Schauerromantik. Das Wasser im ersten Satz Ondine Undine dürfte ruhig prächtiger aufrauschen, und der klanglich delikat gespielte zweite Satz Le Gibet (Der Galgen) kommt, betörend schöne Klangmalereien Pogorelichs können das nicht retten, nicht von der Stelle. Im Finale wütet der Kobold Scarbo durchaus abgründig fesselnd, aber dann kommt der Schluss völlig überraschend und unvorbereitet, offenbar auch für Pogorelich. Im heimischen Salon mag das angehen, im großen Saal einer für Corona-Bedingungen ziemlich gut gefüllten Philharmonie müsste da deutlich mehr Bewusstsein für Proportionen und Architektur der Musik hörbar sein. Die Reaktionen des Publikums reichten von begeisterten Bravo-Schreien bis zu respektvoll verhaltenem Applaus. Keine Zugabe.
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Klavier-Festival Ruhr 2020 Essen, Philharmonie, 1. Oktober 2020 AusführendeIvo Pogorelich, KlavierProgrammJohann Sebastian BachEnglische Suite Nr. 3 g-Moll BWV 808 Frédéric Chopin Barcarole Fis-Dur op. 60 Prélude cis-Moll op. 45 Maurice Ravel Gaspard de la Nuit Klavierfestival Ruhr 2020 - unsere Rezensionen im Überblick
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