Die Kellnerin hat bemerkt, wo sie da arbeitet - der Schrecken ist ihn ins Gesicht geschrieben
Das Musikfestival in Aix-en-Provence sieht sich selbst in der Liga, in der auch Salzburg, Bayreuth oder Glyndebourne spielen. Daneben hat es den Charme Südfrankreichs auf seiner Seite. Im vorigen Sommer im Online-Exil, jetzt wieder live. Für die Zuschauer nur mit Gesundheitspass, aber ohne freie Plätze zwischen ihnen. Fußballfeeling in der Hochkultur, nur mit Maske und ohne Gebrüll von den Rängen. Bravi-Rufe aber gab es. Besonders für eine Uraufführung.
Es braut sich was zusammen - noch weiß die Braut (oben) von nichts
An deren Erfolg haben finnische Frauen einen besonderen Anteil. Innocence (Unschuld) ist die fünfte Oper der seit ihrem Salzburger Opernerstlingserfolg L'amour de loin 2012 weltweit geschätzten, 1952 in Helsinki geborenen Komponistin Kaija Saariaho. Die Roman-Vorlage und das Libretto zu dieser Geschichte über ein Schulmassaker stammt von deren Landsfrau Sofi Oksanen. Und am Pult des hochpräzisen London Symphony Orchestra stand die ebenfalls aus Finnland stammende Dirigentin Susanna Mälkki. Da auch Vilma Jää in der Rolle einer der ermordeten Schulmädchen, mit ihren markant trompetenden Folktönen einen besonderen Akzent setzt, könnte man fast von einem Festspieltriumph der Frauen (aus dem Norden) sprechen. Allerdings stünde einer solchen zeitgeistigen Überschrift entgegen, dass Regisseurin Lotte de Beer mit ihrem Figaro für einen Flop und Alleskönner Barrie Kosky mit Falstaff für einen Coup des Festspieljahrgangs sorgten. Da sich auch Simon Stone als Uraufführungsregisseur in Hochform präsentierte, läuft letztlich doch alles auf Qualität als alleiniges Bewertungskriterium hinaus.
Der Schwiegervater der Braut (rechts) erinnert sich
In dem modernen, wandelbaren Drehbühnenhaus von Cloe Lamford erleben wir sowohl ein zehn Jahre zurückliegendes Schulmassaker als auch den gründlich scheiternden Versuch der Familie des Mörders, mit einer Hochzeit die Rückkehr in die Normalität zu installieren. Dass die Braut von dieser Vorgeschichte nichts weiß und der Bräutigam bei der Wahnsinnstat seines Bruders eigentlich mitmachen wollte, kommt nach und nach ans Licht. Ein auf die Schnelle als Ersatz engagierte Kellnerin (grandios: Magdalena Kožená) ist nämlich zufällig die Mutter eines der Opfer.
Die Überlebenden kommen nicht von der Erinnerung los.
Geschickt vermischen sich dabei die beiden Zeitebenen: Die Hochzeit von heute und das Attentat von damals. Mit atmosphärischem Dräuen bleibt das Rumoren der Traumata ebenso präsent wie sich die 13 in neun (!) Sprachen agierenden Charaktere profilieren. In meist gesprochenen Passagen erinnern sich die überlebenden Schüler und eine Lehrerin an jenen schlimmen Tag und berichten von den Folgen für ihr weiteres Leben. Natürlich ist auch für die Eltern nichts wirklich vergangen. Der Kellnerin ist ihre getötete Tochter wie ein Geist sogar physisch gegenwärtig. Erst am Ende ermutigt die ihre Mutter, sie gehen zu lassen.
Saariahos packende Musik ist der adäquate Sound für diesen 105-minütigen Opernthriller. Sie schielt nicht auf die Extravaganz des Neuen um jeden Preis, sondern setzt (mit Recht) auf ein Nachleben des Werkes auf den Opernbühnen der Welt.
FAZIT
Nach diesem Bilderbuchstart mit einer rundum gelungenen Uraufführung hat Innocence Chancen, an anderen Bühnen nachgespielt zu werden.
Ihre Meinung ?
Schreiben Sie uns einen Leserbrief