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Außergewöhnliches im FestspielhausVon Christoph Wurzel / Fotos: © Haumann Frietsch, Michael Gregonowitz und Andrea Kremper Ziemlich
verwundert, aber doch auch anerkennend bemerkte im April 1849 der
Rezensent eines Konzertes der Societé des concerts du Conservatoire de
Paris, der damals renommiertesten Institution des musikalischen Lebens
in der französischen Hauptstadt, dass als "Ausnahme von den geheiligten
Gewohnheiten" im Programm des jüngsten Konzerts das Werk einer
Komponistin angekündigt worden sei. Es handelte sich um die 3. Sinfonie
von Louise Farrenc, die an diesem Abend mit großem Erfolg uraufgeführt
worden war. Ein Bruch mit "geheiligten Gewohnheiten" nicht nur im 19.
Jahrhundert! Etwas weniger pathetisch könnte ein derartiger Befund
nämlich auch auf die Programmgestaltung des Festspielhauses in
Baden-Baden zutreffen, das in seiner fast 25jährigen Existenz nun im
Jahre 2022 auch zum ersten Mal komponierenden Frauen einen Platz in
seinen Konzerten einräumte. Und es erklang in den vier Konzerten des
Sommerfestivals auch jetzt dieselbe Sinfonie von Louise Farrenc, dazu
ihre 2. Sinfonie und das Klavierkonzert von Clara Schumann. Somit gab
es in drei von vier Konzerten Komponistinnen-Musik.
Auch an Clara
Schumann hat das Festspielhaus Einiges gutzumachen. An mehreren Orten
in der Kurstadt stößt man auf ihren Namen, vor allem im Ortsteil
Lichtental, wo Clara Schumann von 1862 an mehr als zehn Jahre ein Haus
bewohnte, in dem sie sich von ihren ausgedehnten Konzertreisen erholen
konnte. Clara Schumanns Residenz in Baden-Baden war für Johannes Brahms
der Anlass, über mehrere Sommer hinweg ebenfalls eine kleine Wohnung in
Lichtental zu nehmen, die er als seine "Komponierhöhle" bezeichnete.
Hier vollendete er seine ersten beiden Sinfonien, komponierte
Kammermusik (z.B. das Horntrio) und führte viele seiner Werke im
Konzertsaal des Casinos auf. Musik von Brahms wurde und wird in
Baden-Baden häufig gespielt, jene von Clara Schumann allerdings nur in
kleinem Rahmen. Zwar wurde bei den Osterfestspielen 2019 im Theater
Baden-Baden eine Kammeroper über Clara Schumann uraufgeführt (siehe
auch unsere Rezension)
die Ehre der internationalen Festspielhausbühne wurde ihr in diesem
Sommer aber zum ersten Mal erwiesen.
Ein deutlicher
Bezug zur Geschichte der Festspielstadt Baden-Baden war den
diesjährigen Sommerfestspielen eingeschrieben. Der Untertitel La
Capitale d'Été nimmt auf, was Baden-Baden im 19. Jahrhundert
auszeichnete, denn der seinerzeit winzige Kurort galt damals als
Sommerhauptstadt der Musik. Alles was Rang und Namen in der Musikwelt
hatte, versammelte sich in den Sommermonaten der Jahre des 2. Drittels
des 19. Jahrhunderts gleichermaßen aus musikalischen wie aus
gesellschaftlichen Gründen in der Stadt am Rande des Schwarzwalds - von
Berlioz bis Liszt und von Offenbach bis Johann Strauß. Wenn
Festspielhaus-Intendant Benedict Stampa ankündigt, dass bei den kommenden
Sommerfestivals weiterhin an diese Tradition angeknüpft werden soll,
dann sind noch viele spannende Entdeckungen zu erwarten.
Public Viewing mit Beatrice Rana (Klavier) und dem Chamber
Orchestra of Europe unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin (Foto: ©
Haumann Frietsch)
n diesem Jahr
also zuerst der Schwerpunkt Brahms mit seinen Sinfonien Nr. 1 und 2 und
seinen beiden Klavierkonzerten. Nach der grandiosen Konzertserie des Chamber Orchestra of Europe unter Yannick Nézet-Séguin mit allen neun
Sinfonien von Beethoven im vergangenen Sommer (siehe auch
unsere Rezension) konnte man auf
dieselbe Besetzung auch dieses Festivals besonders gespannt sein. Die
Italienerin Beatrice Rana und der Koreaner Seong-Jin Cho waren die
hochkarätigen Solisten in den Klavierkonzerten von Clara Schumann,
Robert Schumann und Johannes Brahms. Neben vier Sinfoniekonzerten
bestritten die Musikerinnen und Musiker auch zwei Kammerkonzerte. Und
neu in Baden-Baden: Eines der Konzerte war in Lichtental - einen
Steinwurf vom Brahmshaus entfernt - auch als Public Viewing zu erleben.
Ein äußerst
steiniger Weg führte Brahms zu seiner 1. Sinfonie. Ganze 16 Jahre
brauchte er, um sich aus dem Schatten Beethovens zu befreien. Unter
anderem auch die Korrespondenz und die Gespräche mit Clara Schumann
spiegeln diesen schweren, streckenweise verzweifelten Prozess. Von
derartiger Schwerstarbeit war allerdings in der Interpretation durch
Yannick Nézet-Séguin nichts mehr zu spüren. Die Sinfonie erschien wie
aus einem Guss, klang vor allem im 2. Satz nahezu schwerelos. Elegante
Linienführung, subtile Phrasierung, vor allem auch die nahtlosen
Motiv-Übergänge zwischen den einzelnen Instrumenten: ein Brahms ohne
bleierne Schwere und in so selten gehörter Leichtigkeit. Der Choral im
Finalsatz hatte jede Strenge auch jedes Pathos abgelegt, sondern
verband sich mit den Hornrufen zu einer Feier heiterer
Empfindungen angesichts der Natur, die Brahms nach seinen eigenen
Worten immer wieder gerade auch bei seinen Spaziergängen rund um
Baden-Baden suchte und fand. Mehr zu spüren war dies noch in der 2.
Sinfonie, in der Geschmeidigkeit des Adagios, dem federnden Allegretto
grazioso und dem fulminanten Tempo des Finalsatzes. Hier, aber nicht nur hier,
glänzte das Orchester mit seiner enormen Präzision.
Programmatisch blieb
man im ersten Konzertblock im Freundeskreis: Clara und Robert Schumanns
Klavierkonzerte waren den Sinfonien von Johannes Brahms beigesellt.
Clara komponierte ihr Konzert noch lange, bevor sie Roberts Frau wurde
und führte es 16jährig noch als Clara Wieck unter der Leitung von Felix
Mendelssohn im Leipziger Gewandhaus zum ersten Mal auf.
Beatrice Rana und das Chamber Orchestra of Europe bei
Sommerfestival 2022 in Baden-Baden (Foto: © Andrea Kremper)
In ihrem opus
7 verleugnet die von ihrem Vater seit frühen Kindertragen als
Wunderkind am Klavier herangezogene Komponistin keineswegs ihr
Selbstbewusstsein als Virtuosin. Die drei ineinander übergehenden Sätze
zeugen aber auch von beachtlicher melodischer Kreativität und vor allem
von überbordendem romantischen Gefühl. Warum Frédéric Chopin von diesem
Konzert förmlich hingerissen war, klang in der Interpretation von
Beatrice Rana immer wieder durch. Sie rückte es mit subtilem Rubato,
perlenden Läufen, mit federleichtem, klangfarbenreichem Anschlag
deutlich in die Nähe Chopins. Dirigent und Orchester passten sich
diesem Verständnis wie selbstverständlich an. Zwar ist der
Orchesterpart im 1. Satz (wahrscheinlich von Clara selbst
ausgefertigt) noch recht spärlich, umso mehr kam er im Schlusssatz, den
Robert weitgehend ausgearbeitet hat, zum Blühen. Höchst animiert
wechselte die Rolle des Orchesters mit der des Klaviers. In der zuerst
rein solistischen Romanze des 2. Satzes ließ Beatrice Rana das Klavier
wunderbar singen, bis das Solocello von William Conway sich im selben Geiste
romantisch empfunden in die melodische Linie einreihte.
Auch in Robert
Schumanns Klavierkonzert begeisterte Beatrice Rana durch ihre
ausdrucksstarke Gesanglichkeit und ihre subtile Anschlagskunst.
Hier kam ihre kraftvolle Dynamik und pianistische Entschlossenheit noch
stärker zur Geltung. Gerade im rondoartigen Finalsatz zeigte die
Pianistin besondere spielerische Kreativität in immer wieder neuen
Ausdrucksvaleurs und reichem Klangfarbenspiel.
Die beiden
Zugaben bestätigten den hohen Rang ihrer hochsensiblen
Interpretationskunst, vor allem in der Bearbeitung des Schumann-Liedes Widmung ("Du meine Seele, du mein Herz") von
Franz Liszt, das sie deutlich mehr von der Stimmung des Liedes als von
der Lisztschen Virtuosität her auffasste.
Nach einer
einwöchigen und offenkundig intensiven Probenphase stand der zweite
Konzertblock mit den zwei Klavierkonzerten von Brahms und zwei
Sinfonien von Farrenc an. Auch hier zeigte sich dieses Projektorchester
in Hochform, enthusiastisch bei der Sache, technisch auf höchstem
Niveau und in allem Gruppen mit exzellenter Klangkultur. Zwischen
Yannick Nézet-Séguin und diesen Spitzenmusikerinnen und -musikern scheint eine
produktive Symbiose entstanden zu sein, die sie zu beglückenden
musikalischen Höhenflügen animiert.
Seong-Jin Cho und das Chamber Orchestra of Europe unter
der Leitung von Yannick Nézet-Séguin im Festspielhaus Baden-Baden
Der Pianist in
den beiden Klavierkonzerten von Brahms war der 28jährige Seong-Jin Cho,
Preisträger mehrerer renommierter Wettbewerbe, zuletzt Gewinner des
Warschauer Chopin Wettbewerbs (2015). Seine exzellente Technik bewies
er vom ersten Takt an. Zupackend mit jugendlichem Schwung gelang etwa
das Rondo von op.15. Doch in der Kadenz, die spieltechnisch makellos
gelang, wurde deutlich, worin er nicht vollkommen überzeugen konnte.
Cho meisterte die virtuosen Anforderungen ohne Einschränkungen, allein
man vermisste die Seele, die Empfindung hinter den Noten. Auch der
Dialog zwischen dem Solocello (an diesem Tag herrlich cantabel: Richard Lester)
und dem Klavier im Andante des 2. Konzerts blieb daher aufseiten des
Solisten etwas blass und ausdruckslos. Das Orchester war wieder weit
mehr als ein Partner, sondern ein herausragender Gegenspieler.
Der Name
Louise Farrenc dürfte wohl den meisten der Konzertbesucherinnen und
-besucher bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt gewesen sein. Nach den
beiden Aufführungen von Sinfonien der französischen Komponistin
(1804-1875) war die Meinung in Publikum allerdings einhellig: eine
wahre Entdeckung! Louise Farrenc ereilte das Schicksal der meisten
komponierenden Frauen im 19. Jahrhundert: Spielten sie die eigene Musik
selbst, meist Kammermusik oder solistische Klaviermusik, war ihnen
Anerkennung gewiss, ansonsten wurden sie nicht weiter beachtet und
aufgeführt. Louise Farrenc hatte immerhin noch das Glück, dass ihr
Ehemann als Verleger für die Verbreitung ihrer umfangreichen
Kammermusik sorgte. Ihre vier Sinfonien kamen aber über die
Uraufführungen, die sie meist selbst organisieren musste, zu ihren
Lebzeiten nicht hinaus. Erst jüngst halten sie nach der Herausgabe
einer kritischen Gesamtausgabe, wenn auch nur zögerlich, Einzug in die
Konzertsäle. Immerhin wirkte Louise Farranc mehr als 30 Jahre als erste
Klavierprofessorin in ganz Europa am Pariser Konservatorium, wo sich
die couragierte Frau die gleiche Bezahlung wie ihre männlichen Kollegen
erstritten hatte.
Das Chamber Orchestra of Europe unter der Leitung
von Yannick Nézet-Séguin in Baden-Baden
Kraftvoll ist
auch ihr Kompositionsstil. Dass sie besonders an Beethoven geschult
ist, hört man ihrer Musik an. Vor allem folgt sie dem Formmodell der
klassischen Sinfonie. Doch füllt sie die Tradition mit origineller
Eigenständigkeit. Beethovens Stringenz und dramatischem Impuls setzt
sie immer wieder Inseln der Kontemplation entgegen, meist als melodisch
wunderschön ausgearbeitete Holzbläserpartien, die besonders in den
Trios der Scherzi die Solobläserinnen und -bläsern des COE für
herrliche Momente nutzten. Die 3. Sinfonie g-Moll von 1849 beginnt
schon mit einem elegischen Oboensolo, das bald in ein lebendiges
Allegro mündet. Immer wieder sind Farrencs Kompositionen voller
überraschender Wendungen und interessanter Details, die Nézet-Séguin
deutlich herausarbeitete, wie er überhaupt großen Wert auf eine
intensive Klangrede legte. So machten sich Dirigent und Orchester um
die Musik von Louise Farrenc in höchsten Maße verdient und machten Lust, viel
mehr von dieser Komponistin hören zu können.
Fazit:
Mit dem
Sommerfestival La Capitale d'Été war in Baden-Baden bisher Ungekanntes gelungen:
einen expliziten Bezug zur musikalischen Lokalgeschichte zu verbinden
mit einer spannenden Erweiterung des Repertoires und dies noch
präsentiert von exzellenten Musikerinnen und -musikern auf höchstem
Niveau. Chapeau an die Leitung des Festspielhauses für diese
Programmkonzeption.
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Ausführende
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- Fine -