Tod durch Liebe
Von Thomas Molke /
Fotos: © Xiomara Bender (TFE Presse)
Nikolai Rimski-Korsakow ist in Westeuropa vor allem durch den
berühmten "Hummelflug" aus der Oper Das Märchen vom Zaren Saltan und die
sinfonische Dichtung Scheherazade populär geworden. Die übrigen
Bühnenwerke des russischen Komponisten, der in seiner Heimat trotz Glinka,
Mussorgski und Tschaikowski als der "eigentliche Opernkomponist des 19.
Jahrhunderts" gilt, stehen außerhalb Osteuropas relativ selten auf dem Programm.
Dazu zählt auch die Oper Snegurotschka (Schneeflöckchen), die
Rimski-Korsakow nach eigenem Bekunden besonders am Herzen lag. In weniger als
drei Monaten schrieb er die Oper nieder, verwendete Volksmelodien in eingängiger
Harmonik für die realen Figuren und verband sie mit komplexeren Strukturen für
die fantastisch-märchenhaften Figuren, die auch Ravel und Strawinsky in ihren
Werken noch beeinflusst haben. So kann Schneeflöckchen mit ihrem Liebestod zur
Versöhnung der Natur als Vorbild für Strawinskys Frühlingsopfer
betrachtet werden. Bei den Tiroler Winterfestspielen in Erl, bei denen
unter der künstlerischen Leitung von Bernd Loebe häufig Werke abseits des
gängigen Repertoires zu erleben sind, gelangt dieses "Frühlingsmärchen" nun zur
österreichischen Erstaufführung.
Schneeflöckchen (Clara Kim) ist vom Gesang des
Hirten Lel (Iurii Iushkevich) fasziniert.
Grundlage des Textes, den Rimski-Korsakow selbst verfasst hat,
ist ein pantheistisch-philosophisches Schauspiel des Dramatikers Alexander
Ostrowski von 1873, das in Russland so bekannt ist wie in Deutschland
beispielsweise die Märchen der Gebrüder Grimm. Erzählt wird die Geschichte des
Mädchens Schneeflöckchen, das als Tochter des Frostes und des Frühlings
einerseits aufgrund der Kälte des Vaters keine körperliche Liebe empfinden kann,
sich andererseits aufgrund der Mutter Frühling danach sehnt. Der Sonnengott Jarilo, der in der Oper nicht als Person auftritt, ist über die
Verbindung zwischen Frost und Frühling so erbost, dass er das Volk der Berendäer
mit kalten, kurzen Sommern bestraft. Zar Barendej, der sich für sein Volk
wünscht, dass die Natur mit den Jahreszeiten wieder in Einklang kommt, sieht in
Schneeflöckchen eine Lösung aller Probleme. Wenn er sie einem Mann zuführt, wird
sie an der Liebe schmelzen und damit den Sonnengott Jarilo versöhnen. Dazu
benutzt er den Hirten Lel, dessen Gesang alle Frauen bewegt, und den reichen
Misgir, der eigentlich ins Dorf gekommen ist, um um die selbstbewusste Kupawa zu
werben, jetzt aber nur noch Augen für Schneeflöckchen hat. Lel fühlt sich von
Schneeflöckchen zurückgewiesen, da sie ihm lediglich eine Blume schenkt und
nicht bereit ist, sich ihm körperlich hinzugeben, und heiratet aus Trotz Kupawa.
Schneeflöckchen ist darüber so gekränkt, dass sie ihre Mutter anfleht, ihr
endlich die Fähigkeit zur körperlichen Liebe zu schenken. Die Mutter kann dem
Drängen der Tochter nicht widerstehen, warnt sie aber vor den Sonnenstrahlen. So
erhört Schneeflöckchen Misgirs Werben. Ihrer Bitte, sie vor den Sonnenstrahlen
zu schützen, kommt er jedoch nicht nach, weil er sie nicht versteht. So schmilzt
Schneeflöckchen dahin, Misgir geht verzweifelt in den Freitod. Der Zar fordert
das Volk auf, nicht zu trauern, sondern stattdessen den Sonnengott Jarilo zu
preisen, da die Welt nun wieder im Einklang mit der Natur sei.
Das Regie-Team um Florentine Klepper wählt einen relativ abstrakt gehaltenen
Ansatz, um die Geschichte nicht auf ein banales, aus heutiger Sicht schwer
nachvollziehbares Märchen zu reduzieren. Wolfgang Menardi hat dafür einen
Bühnenraum des ewigen Winters geschaffen. Weißer Schnee bedeckt die Bühne, die
von einer halbrunden weißen Wand eingerahmt wird, so dass es hier keine
Möglichkeit gibt zu entkommen. Drei kahle Baumreste sind zu sehen, die andeuten,
dass hier nichts mehr blüht. In der Mitte formen mehrere Kreise mit
unterschiedlich großen Durchmessern ein Zentrum, das zu unterschiedlichen
Zwecken genutzt wird. Zu Beginn formt der kleinere Kreis mit hohen Latten, die
nicht ganz geschlossen sind, die ferne Welt der allegorischen Figuren Frühling
und Frost. Auf einem zylinderförmigen Element wird Mutter Frühling aus diesem
Kreis aus dem Bühnenboden emporgefahren und wirkt optisch wie eine Hausfrau, die
auf die Rückkehr ihres Mannes wartet und das Essen vorbereitet. Ihr Kind
Schneeflöckchen "spielt" in einem rosafarbenen Rock mit weißem Oberteil und
Ohrenschützern im Schnee. Wieso sie hier von den Vögeln, die vom Kinderchor der
Schule für Chorkunst München mit roten Schnäbeln in schwarzen Kostümen
dargestellt werden, geärgert und mit Schneebällen beworfen wird, wird nicht
wirklich klar. Vielleicht soll damit die Ausgrenzung Schneeflöckchens direkt am
Anfang deutlich gemacht und sie als geeignetes Opfer gebrandmarkt werden.
Kupawa (Nombulelo Yende, Mitte) klagt Misgir (Danylo
Matviienko, links am Tisch sitzend) und Schneeflöckchen (Clara Kim, links am
Tisch) an.
Zu Beginn ist die Welt der Menschen um dieses Zentrum herum sehr in Unordnung
geraten. Stühle, Bänke und Tische liegen auf dem ganzen
Bühnenboden verstreut herum und müssen erst aufgestellt werden. Das
geschieht, wenn Mutter Frühling und Vater Frost ihr Kind in die Obhut des
Häuslers und der Häuslerin geben. Für die Menschen hat die Kostümbildnerin Anna
Sofie Tuma zunächst sehr dunkle Kostüme gewählt, um die Kälte und Trostlosigkeit
zu betonen. Da verwundert es nicht, dass der Hirte Lel mit seinem warmen Gesang
den Menschen Trost zu spenden vermag. Laut Partitur ist die Rolle für einen
Mezzosopran oder Alt geschrieben. In Erl wird der Hirte von dem Countertenor
Iurii Iushkevich gesungen, der die Partie mit warmem, weichem Counter
ausstattet. Klepper lässt ihn in der Personenregie recht melancholisch agieren.
Es wird klar, dass er von Schneeflöckchen angezogen wird, ihre Zurückweisung
jedoch nicht ertragen kann. So wirft er die Blume, die sie ihm für seinen Gesang
schenkt, gekränkt fort und wählt im weiteren Verlauf Kupawa zur Braut.
Zar Barendej (Aaron Cawley) will Ordnung im Land.
Wenn der Zar auftritt, steht er im Zentrum der Bühne. Der große
helle Kreis wird aus dem Schnürboden schräg herabgelassen und wirkt mit den
Lichtern wie eine Art Heiligenschein oder Krone. Wenn er Schneeflöckchen in
dieses Zentrum hineinzieht, wird klar, dass auch sie zumindest die Männer
fasziniert. Für die Frauen stellt sie eher eine Gefahr dar. So klagt Kupawa sie
an, weil sie ihr ihren Bräutigam gestohlen habe. Im weiteren Verlauf bildet das
Zentrum, das aus dem Boden angestrahlt wird, einen Leuchtkreis, in dem die
Frauen sich nun den Männern für die Ehe präsentieren sollen. Die Frauen haben
nun die schwarzen Kostüme abgelegt und treten in zarten Pastellfarben auf, die
den Sommer zurückbringen sollen. Auch Schneeflöckchen trägt ein pastellfarbenes
Kleid, hebt sich allerdings durch einen Kranz auf dem Kopf von den anderen ab,
was sie für die Männer erneut begehrenswerter macht. Verzweifelt wirft sie
den Kranz weg und schlüpft wieder in ihr Kostüm vom Anfang, wobei der
rosafarbene Rock jetzt schmutzige Ränder hat, weil sie im Prinzip mit dem Gang
in die Menschenwelt ihre Reinheit verloren hat. Recht schonungslos präsentiert
Klepper dann, wie die Frauen sich den Männern im Wald hingeben. Beide Kreise
werden aus dem Schnürboden herabgelassen, so dass von den Frauen nur noch die
Beine sichtbar sind. Nun heben sie ihre Röcke und lassen sich von den Männern,
die nacheinander in den Kreis treten und an den Frauen vorübergehen, begutachten.
Mutter Frühling (Victória Pitts)
Während Mutter Frühling bei ihrem ersten Auftritt im Prolog wie eine Hausfrau
wirkte, erscheint sie im letzten Akt wie eine Königin, mit
Strahlenkranz auf dem Kopf und dunkelrotem Kleid. Wieder wird sie auf dem
zylinderförmigen Bühnenelement aus dem Boden hochgefahren. Der dunkle kleinere
Kreis wird nun geteilt und nur die vordere Hälfte Richtung Schnürboden gezogen,
so dass ein unwirklicher Raum entsteht, in dem Mutter Frühling ihrer Tochter
erscheint und ihrem Flehen nachgibt. Zum Schluss werden dann alle Kreise
Richtung Schnürboden gezogen und geben den Blick auf die weiße Rückwand frei.
Auf diese hat das Volk mittlerweile "Contende in dulce" geschrieben, was wohl
soviel bedeuten soll wie "Strebe nach dem Angenehmen". Diese Botschaft
erschließt sich nicht wirklich. Auch fragt man sich zunächst, was die vier pinkfarbenen
Luftballons im Hintergrund zu bedeuten haben. Wenn Schneeflöckchen am Ende im
grellen Licht des Zentrums zugrunde geht und das Volk auf Weisung des Zaren den
Sonnengott Jarilo preist, formen die Luftballons das Wort "Obey", was dem
scheinbar versöhnlichen Schluss einen zu Recht faden Beigeschmack gibt.
Misgir (Danylo Matviienko) bedrängt
Schneeflöckchen (Clara Kim).
Während die Handlung dieser Oper wirklich harter Tobak ist und man sich der
Aussage des Stückes schwerlich öffnen kann, ist die Musik und die musikalische
Umsetzung großartig. Rimski-Korsakow findet wunderbare Melodien, um die
unterschiedlichen Welten zu zeichnen, und spielt dabei lautmalerisch mit
einzelnen Instrumenten. Dmitry Liss arbeitet mit dem Orchester der Festspiele
Erl die verschiedenen Farben und Stimmungen eindrucksvoll heraus und wird
dafür zu Recht mit tosendem Beifall bedacht. Auch die Solistinnen und Solisten
lassen keine Wünsche offen. Clara Kim ist ein bezauberndes Schneeflöckchen und
begeistert mit mädchenhaftem klaren Sopran, der die Unschuld der Figur
unterstreicht. Ihr musikalischer Leidensweg rührt dabei zu Tränen. Nombulelo
Yende bildet stimmlich als Kupawa einen großartigen Kontrast. Ihr kraftvoller
Sopran ist dunkler gefärbt als der Sopran Kims und macht damit deutlich, dass
Kupawa anders als Schneeflöckchen eine selbstbewusste Frau ist. Danylo
Matviienko punktet mit virilem Bariton und dunkler Färbung, die der Figur etwas
Machohaftes gibt. Dass er am Ende mit Schneeflöckchen in den Tod geht, versöhnt
ein wenig mit der ansonsten eher unsympathischen Figur. Aaron Cawley verleiht
dem Zaren Barendej mit höhensicherem starkem Tenor herrschaftliche Züge.
Victória Pitts lässt als Mutter Frühling mit vollem Mezzosopran und dunkler
Mittellage aufhorchen und begeistert im vierten Akt, wenn sie schließlich dem
Drängen ihrer Tochter nachgibt. Aidan Smith glänzt mit profundem Bass sowohl als
Vater Frost im Prolog, der seine Tochter schützen will, als auch als Barendejs
Berater Bermjata. Der von Olga Yanum einstudierte Chor überzeugt durch große
Homogenität, so dass es für alle Beteiligten großen Beifall gibt.
FAZIT
Man kann verstehen, dass dieses Stück selten auf den Spielplänen steht, da es
inhaltlich wirklich fragwürdig ist. Sieht man von der kruden Geschichte ab,
bietet es musikalischen Hochgenuss.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Dmitry LissRegie
Florentine Klepper
Bühnenbild
Wolfgang Menardi
Kostüme
Anna Sofie Tuma
Licht
Stefan Bolliger
Chor
Olga Yanum
Kinderchor
Maksim Matsiushenkau
Dramaturgie
Mareike Wink
Orchester und Chor
der
Tiroler Festspiele Erl
Kinderchor der
Schule für
Chorkunst München
Solistinnen und Solisten
Schneeflöckchen Clara Kim
Mutter Frühling
Victória Pitts Vater Frost
/ Bermjata
Aidan Smith
Kupawa
Nombulelo Yende Lel
Iurii Iushkevich
Misgir
Danylo Matviienko Zar
Barendej
Aaron Cawley Der Häusler
Carlos Cárdenas Die Häuslerin
Anna Dowsley Der Waldschrat
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