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Unbekanntes Werk in abstrakter OptikVon Thomas Molke / Fotos: © Studio Amati Bacciardi (Rossini Opera Festival) Sieht man von Ivanhoé und Robert Bruce ab, die zwar Musik von Gioachino Rossini enthalten, aber nicht von ihm selbst zusammengestellt worden sind, ist das am 24. April 1819 in Venedig uraufgeführte Dramma per musica Eduardo e Cristina die letzte Oper des Schwans von Pesaro, die beim Rossini Opera Festival bis jetzt noch nicht auf dem Spielplan stand. Als Grund mag gegolten haben, dass es sich bei diesem Werk um ein Pasticcio handelt, das mehr oder weniger aus Rossinis Opern Ermione, Adelaide di Borgogna, Ricciardo e Zoraide und Stefano Pavesis 1810 uraufgeführter Oper Odoardo e Cristina besteht. Auch wenn das in heutiger Zeit als Makel betrachtet werden mag und einer Verbreitung des Werkes nicht dienlich ist, verhielt es sich nach der Uraufführung durchaus anders. Rossini hatte mit dem Impresario des Teatro San Benedetto in Venedig, Giuseppe Cortesi, sogar vertraglich festgelegt, dass ein Großteil der neuen Oper aus bereits komponierter Musik bestehe, die lediglich in Venedig noch nicht zur Aufführung gekommen war. Nach der umjubelten Uraufführung feierte das Werk in ganz Europa große Erfolge, bis es nach 1840 vollkommen in Vergessenheit geriet. Nun hat die Fondazione Rossini in Zusammenarbeit mit Casa Ricordi endlich eine kritische Ausgabe der Oper erstellt, um das Stück auch in Pesaro zur modernen italienischen Erstaufführung zu bringen. Beim Belcanto Opera Festival Rossini in Wildbad war man da ein bisschen schneller. Hier war das Werk bereits 1997 szenisch und 2017 konzertant zu erleben. Die konzertante Aufführung wurde auch auf CD eingespielt. Cristina (Anastasia Bartoli) schützt ihren Sohn Gustavo (Diego Conti) vor dem Zorn ihres Vaters Carlo (Enea Scala). Die Geschichte spielt am Hof des schwedischen Königs Carlo zur Zeit einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Russland. Der schwedische General Eduardo hat gerade die Russen erfolgreich geschlagen, und Carlo will zur Feier des Sieges seine Tochter Cristina mit dem schottischen Prinzen Giacomo vermählen. Doch Cristina ist bereits heimlich mit Eduardo verheiratet und hat mit ihm sogar einen gemeinsamen Sohn, Gustavo, von dem ihr Vater jedoch nichts weiß. Also versucht sie, die Hochzeit mit Giacomo hinauszuzögern. Als Carlo sie gewaltsam zum Altar führen will, fliegt Cristinas Geheimnis auf. Carlo fordert seine Tochter auf, sofort den Namen des Vaters zu nennen, doch Cristina verweigert die Antwort. Als Carlo sie zur Strafe hinrichten will, tritt Eduardo hervor und gibt sich als Kindesvater und heimlicher Gatte Cristinas zu erkennen. Daraufhin verurteilt Carlo alle drei zum Tode. Ein erneuter Angriff der Russen verhindert allerdings zunächst die Vollstreckung. Eduardo wird von seinem Freund Atlei aus dem Kerker befreit und kann die Stadt ein weiteres Mal retten. Als er um Gnade für Cristina und den gemeinsamen Sohn bittet und sein eigenes Leben dafür opfern will, ist Carlo von Eduardos Tugend derart gerührt, dass er ihn als Schwiegersohn akzeptiert, während Giacomo altruistisch auf Cristina verzichtet. Cristina (Anastasia Bartoli) mit den Tänzerinnen und Tänzern
S
Eduardo (Daniela Barcellona, links) und Cristina
(Anastasia Bartoli, rechts)
Eduardo (Daniela Barcellona, Mitte vorne) führt
das schwedische Heer (Chor) und Atlei (Matteo Roma, hinten rechts) gegen die
Russen.
Giacomo (Grigory Shkarupa) will Cristina
(Anastasia Bartoli) gegen ihren Willen heiraten.
Enea Scala gestaltet den strengen Vater Cristinas, Carlo, mit kraftvoll
ausgesungenen Höhen und einer profunden Mittellage, die die Unerbittlichkeit des
schwedischen Königs unterstreicht. Mit sauberen Spitzentönen glänzt er in der
großen Arie des ersten Aktes, wenn er seine Tochter zwingen will, den Namen des
Kindsvaters zu nennen. Der Publikumsapplaus scheint an dieser Stelle gar nicht
enden zu wollen und zwingt die Solist*innen, relativ lange in ihrer Position zu
verharren, bevor es endlich weitergehen kann. Auch im großen Duett mit Bartoli
im zweiten Akt, wenn er seiner Tochter noch einmal die Option eröffnet, Giacomo
zu heiraten, macht Scala mit großer Härte stimmlich deutlich, dass zwischen
Vater und Tochter keine Verständigung mehr möglich ist. Umso unglaubwürdiger
wirkt dann der Schluss, wenn er nach Eduardos erneutem Sieg gegen die Russen
einlenkt und sich Cristina dafür sogar noch dankbar zeigt. Grigory Shkarupa
verleiht dem schottischen Prinzen Giacomo mit profundem und gefühlvollem Bass
enorme Güte. Man kann schon etwas Mitleid mit ihm haben, wenn er zu großen
Zugeständnissen bereit ist, um Cristinas Liebe zu gewinnen und sie vor der
Hinrichtung zu bewahren.
Die relativ kleine Partie des Atlei wird in Pesaro sogar noch aufgewertet.
Erstmals wird eine Arie eingefügt, die zwar in keiner vorhandenen Textvorlage
enthalten ist, aber wahrscheinlich von Rossini im ersten Akt nach dem Chor
vorgesehen war und in der sich Atlei auf die siegreiche Rückkehr seines Freundes
Eduardo aus der Schlacht freut. Es steht zwar nicht fest, ob diese Arie bereits
bei der Uraufführung in Venedig gestrichen war, aber schließlich will man in
Pesaro ja auch den Besucherinnen und Besuchern, die das Stück aus Bad Wildbad
oder von der veröffentlichten CD kennen, etwas Neues bieten. Matteo Roma
gestaltet als Atlei diese Arie mit kraftvollem Tenor, der in den Höhen
allerdings ein bisschen forcieren muss. So gibt es am Ende einhelligen Applaus
für die musikalische Leistung des Abends. Auch der Ausdruckstanz wird honoriert, selbst wenn nicht klar wird, welche Funktion
die Tänzerinnen und Tänzer im
Stück verfolgen.
FAZIT
Musikalisch ist diese "Wiederentdeckung" ein Hochgenuss. Ob man allerdings bei
einem Stück, das kaum jemand kennt, eine derart irritierende Inszenierung bieten
sollte, ist fraglich.
Weitere Rezensionen zu dem
Rossini Opera Festival 2023 |
ProduktionsteamMusikalische LeitungJader Bignamini Regie, Bühnenbild, Kostüme, Mitarbeit Chorleitung
Orchestra Sinfonica Nazionale della Rai
Solistinnen und Solisten
Carlo
Cristina
Eduardo
Giacomo
Atlei
Tänzerinnen und Tänzer
Gustavo (stumme Rolle)
|
- Fine -