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Bregenzer Festspiele

17.07.2024 - 18.08.2024


Tancredi

Melodramma eroico in zwei Akten
Libretto von Gaetano Rossi nach der Tragödie Tancrède von Voltaire (1760)
Musik von Gioachino Rossini

In italienischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 3 h (eine Pause)

Premiere im Festspielhaus am 18. Juli 2024
(rezensierte Aufführung: 29.07.2024)

 

 

 

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Kreuzritter im Drogenmilieu

Von Thomas Molke / Fotos: © Bregenzer Festspiele / Karl Forster

Der "eigentliche Rossini" sei der "ernste Rossini". Mit dieser Einstellung folgte Alberto Zedda, der als führende Autorität auf dem Gebiet der Rossini-Philologie zählte und 1980 in Pesaro, der Geburtsstadt des Komponisten, das Rossini Opera Festival gründete, dem Urteil des ersten Rossini-Biographen Stendhal, der Rossinis erste ernste Oper Tancredi auch gleichzeitig für seine beste hielt und sie noch weit über den Barbiere stellte. In der Tat ließ die am 6. Februar 1813 im Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführte Oper den Schwan von Pesaro in die Riege der großen Komponisten aufsteigen und machte ihn auch weit über die Grenzen Italiens bekannt. Die Cabaletta des Titelhelden "Di tanti palpiti" entwickelte sich schnell zu einem Gassenhauer, der überall zu hören war. Allerdings geriet der "ernste Rossini" lange Zeit in Vergessenheit und wird erst seit den 1980er Jahren im Rahmen der Rossini-Renaissance vor allem durch die beiden Festivals in Pesaro und Bad Wildbad wiederentdeckt. Beim Tancredi ist es gar nicht so leicht, da unter Mitwirkung Rossinis mehrere unterschiedliche Fassungen entstanden. Bei der Uraufführung in Venedig hielt sich Rossini noch an die damalige Gepflogenheit eines lieto fine, das ihm selbst aber nicht zusagte, so dass er die Oper eineinhalb Monate später in Ferrara mit einem tragischen Schluss spielen ließ, der beim damaligen Publikum jedoch so schlecht ankam, dass das Ende schon für die weiteren Aufführungen in Ferrara wieder abgeändert wurde. Heutzutage entscheidet man sich meistens für die tragische Ferrara-Fassung, die nun auch bei den Bregenzer Festspielen auf dem Programm steht.

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Heimliche Liebe: Tancredi (Anna Goryachova, unten) und Amenaide (Mélissa Petit, auf dem Balkon)

Die Oper basiert auf Voltaires Tragödie Tancrède und spielt in Syrakus im Jahre 1005. Nach  langem Bürgerkrieg schließen die Familien des Argirio und des Orbazzano Frieden, um sich miteinander gegen den gemeinsamen Feind, den Sarazenenführer Solamir zu verbünden, der Syrakus bedroht. Um die neue Freundschaft zu besiegeln, bietet Argirio Orbazzano die Hand seiner Tochter Amenaide an. Diese liebt jedoch Tancredi, den Sohn einer aus Syrakus verbannten Familie, dem sie heimlich einen Brief geschickt hat, in dem sie ihn um die Rückkehr nach Syrakus bittet. Da es ihm jedoch unter Todesstrafe verboten ist, nach Syrakus zurückzukehren, und Amenaide ihn nicht gefährden möchte, hat sie im Brief keinen Empfängernamen angegeben. Als sie sich weigert, Orbazzano zu heiraten, und dieser den Brief abfängt, beschuldigt er sie des Verrats und fordert ihre Hinrichtung. Auch Tancredi, der mittlerweile inkognito nach Syrakus zurückgekehrt ist, fühlt sich von Amenaide hintergangen, fordert aber trotzdem Orbazzano zum Duell, um die Hinrichtung zu verhindern. Nach dem Sieg über Orbazzano zieht er in die Schlacht gegen die Sarazenen, da er für die Liebe zu Amenaide keine Chance mehr sieht. In der Ferrara-Fassung kehrt er tödlich verwundet aus der Schlacht zurück, um in Amenaides Armen zu sterben, nachdem das Missverständnis aufgeklärt worden ist und er begriffen hat, dass Amenaide die Treue nicht verletzt hat.

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Argirio (Antonino Siragusa, vorne rechts) will seine Tochter Amenaide (Mélissa Petit, hinten links) gegen ihren Willen mit Orbazzano (Andreas Wolf, hinten rechts) verheiraten (in der Mitte: Laura Polverelli als Isaura und Ilia Skvirskii als Roggiero).

Jan Philipp Gloger sieht unter anderem in der schwer nachvollziehbaren Handlung ein Problem, wieso die Oper auch seit der Rossini-Renaissance trotz der großartigen Musik immer noch relativ selten auf den Spielplänen der Opernhäuser steht, und versucht, für seine Inszenierung eine Lesart zu finden, die Geschichte für ein heutiges Publikum verständlicher zu machen. Deshalb holt er die Handlung aus dem 11. Jahrhundert und der Zeit der Kreuzritter in die Gegenwart und macht aus den zwei rivalisierenden Familien zwei Drogen-Clans, deren Feind nicht mehr die ungläubigen Sarazenen sind sondern die Polizei, die deren mafiöse Machenschaften behindert. Anders als im Original bleibt dieser gemeinsame Feind auch nicht unsichtbar, sondern tritt in der Inszenierung auf. Direkt zu Beginn der Oper, wenn die beiden Familien sich verbünden, haben die Clans einen Coup gelandet und einen Polizisten gelyncht, dessen Leichnam auf der Bühne malträtiert wird. Dafür sind extra Herren der Stunt-Factory engagiert worden, die in einer sehr realistischen Kampfchoreographie von Ran Arthur Braun vollen Körpereinsatz zeigen. Wenn sie den toten Polizisten schließlich von der Bühne tragen, hängen sie ihm noch ein Schild mit der Bezeichnung "Gay" um.

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Liebe zwischen zwei Frauen: Tancredi (Anna Goryachova, links) und Amenaide (Mélissa Petit, rechts)

Und damit versucht Gloger auch zu begründen, warum Tancredi in die Verbannung geschickt worden ist und weshalb die Liebe zwischen Amenaide und Tancredi keine Chance hat. Der Titelheld ist keine Hosenrolle, sondern eine Frau, die sich nur als Mann ausgibt, weil eine gleichgeschlechtliche Liebe in dieser von Machogebaren beherrschten Welt nicht akzeptiert wird. Dafür werden nicht nur die deutschen Übertitel sondern auch der gesungene Text geändert und die weiblichen Formen für Tancredi verwendet. Dieser Gedanke wird allerdings nicht konsequent durchgehalten. Wenn die lesbische Beziehung von Amenaide der Grund dafür sein soll, dass Tancredi in die Verbannung geschickt wurde, wird nicht klar, wieso der Männerchor am Ende bei Tancredis Tod um die "gefallene Heldin" trauern soll, wenn sie sich als Frau zu erkennen gibt und mit letzter Kraft ein Banner für die lesbische Liebe schwenkt. Auch ist fraglich, wieso ausgerechnet die Polizei, die Instanz für Recht und Ordnung, diese Frau am Ende auf der Bühne erschießt, selbst wenn diese Szene sehr spektakulär mit viel Kunstblut umgesetzt wird. Soll damit allgemeine Gesellschaftskritik geübt werden, obwohl es doch eigentlich die Clans sind, die mit dieser Lebensform ein Problem haben, und nicht der Staat?

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Duell mit vollem Körpereinsatz: Tancredi (Anna Goryachova, links) und Orbazzano (Andreas Wolf, links über ihr)

Auch andere Regieeinfälle Glogers bleiben unklar. So streicht er inhaltlich die Figur des Roggiero, der Tancredi als treuer Gefährte begleitet, und führt stattdessen unter diesem Namen einen Priester ein, der irgendwie in die dunklen Machenschaften der Drogen-Clans verwickelt ist. Stellenweise erinnert er an Pater Lorenzo aus Shakespeares Romeo and Juliet, wenn er in Amenaides Zelle kommt, in der sie auf ihre Hinrichtung wartet, und er ihr einen Trank reicht. Bietet er ihr an, mit richtigem Gift der Vollstreckung des Urteils zuvor zu kommen, oder handelt es sich wie bei Shakespeare um einen Trank, der Amenaide in einen todesähnlichen Schlaf versetzen soll? Während Amenaide jedenfalls in ihrer großen Arie in der Inszenierung überlegt, ob sie dieses Angebot annimmt, kommt der Priester an einem anderen Ort der Bühne auf unerklärliche Weise zu Tode. Ist er von einem Clan-Mitglied, das ihn aus der Entfernung beobachtet hat, für den "Verrat" gerichtet worden? Jedenfalls weist sein Körper äußere Verletzungen auf. Amenaides Vertraute Isaura tritt als ihre Mutter auf, was sich hingegen als schlüssig erweist, da so auch nachvollziehbar wird, wieso sie sich Argirio gegenüber doch einige herausnehmen kann.

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Tancredi (Anna Goryachova) stirbt allein.

Sieht man von einigen fragwürdigen Entscheidungen in der Personenregie ab, bietet die Inszenierung insgesamt ein opulentes Spektakel, zu dem unter anderem das Bühnenbild von Ben Baur beiträgt. Auf der Drehbühne hat er einen eindrucksvollen südländischen Palazzo errichtet, der in verschiedene Bereiche des Clans um Argirio Einblick gewährt. So stellt man sich vielleicht den Sitz eines Drogenbosses vor, der ein altehrwürdiges Gebäude nutzt, um sein Imperium zu verwalten. Selbst wenn die relativ moderne Küche oder die blutbespritzte Folterkammer hier einen Gegensatz bilden, passt das doch irgendwie zusammen. Was allerdings unklar bleibt, ist der Schluss. Wieder bietet die Stunt-Factory eine eindrucksvolle Show-Einlage, wenn die Herren sich aus dem Schnürboden auf die Bühne herabseilen und den Palast stürmen. Am Ende sind beide Clans als Gefangene unterlegen. Das ganze Bühnenmobiliar liegt in der Mitte eines Raums aufeinander gestapelt, und die Polizei hat den Drogengeschäften ein Ende bereitet. Wieso jetzt Tancredi noch von den Polizisten erschossen werden muss, bleibt unklar. Hier hätte man sich vielleicht doch eher für das glückliche Ende entscheiden sollen. Wenn schon Recht und Ordnung wieder hergestellt sind, hätte es doch auch eine Zukunft für Amenaide und Tancredi geben können. Aber das sehen Gloger und sein Team leider anders.

Der Großteil des Publikums scheint mit dieser Lesart kein Problem zu haben, zumal die musikalische Umsetzung keine Wünsche offen lässt. Yi-Chen Lin arbeitet mit den Wiener Philharmonikern die feinen Nuancen von Rossinis großartiger Musik differenziert heraus und findet wunderbare Zwischentöne, um die einzelnen Emotionen auszuloten. Besonders das leise Finale am Ende des zweiten Aktes geht unter die Haut. Anna Goryachova setzt Glogers Personenregie als weiblicher Tancredi sehr glaubhaft um, glänzt stimmlich mit kämpferischem Mezzosopran in den dramatischen Koloraturen und zeigt in den Läufen enorme Beweglichkeit. Mélissa Petit begeistert als Amenaide mit strahlendem Sopran und glockenklaren Koloraturen mit federleicht klingenden Läufen. Im Zusammenspiel mit Goryachova harmoniert sie sowohl stimmlich als auch darstellerisch als liebendes Frauenpaar. Der Tod in ihren Armen bleibt Goryachova bei Gloger am Ende jedoch verwehrt. Stattdessen sind alle von den Polizisten abgeführt worden und Tancredi stirbt ganz allein. Antonino Siragusa verfügt als Amenaides Vater Argirio über einen kraftvollen, wenn auch in den Höhen etwas schneidenden, Tenor, der wunderbar zu der Härte der Figur passt. Andreas Wolf zeichnet den Orbazzano mit bedrohlichen Tiefen als sehr unsympathischen Charakter, um den man kaum trauert, wenn er im Duell von Tancredi nach einem Kampf mit großem Körpereinsatz besiegt wird. Laura Polverelli rundet als Isaura das Ensemble mit sattem Mezzosopran überzeugend ab, so dass es am Ende großen Jubel für alle Beteiligten gibt.

FAZIT

Glogers Regie-Konzept geht nur bedingt auf. Die Übertragung der Geschichte ins Mafia-Milieu hätte für sich gesehen die Geschichte auf einer aktuelleren Ebene tragen können. Die Idee, Tancredi als Frau zu inszenieren, stößt in der Logik genauso an ihre Grenzen wie die ursprüngliche Handlung der Oper.

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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Yi-Chen Lin

Inszenierung
Jan Philipp Gloger

Bühne
Ben Baur

Kostüme
Justina Klimczyk

Licht
Martin Gebhardt

Kampfchoreographie
Ran Arthur Braun

Chorleitung
Luká
š Vasilek

Dramaturgie
Claus Spahn
Florian Amort

 

Wiener Symphoniker

Continuo-Gruppe
Hammerklavier
Enrico Maria Cacciari

Violoncello
Michael Vogt

Prager Philharmonischer Chor

Stunt-Factory


Solistinnen und Solisten

Argirio
Antonino Siragusa

Tancredi
Anna Goryachova

Orbazzano
Andreas Wolf

Amenaide
Mélissa Petit

Isaura
Laura Polverelli

Roggiero
Ilia Skvirskii


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