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Tiroler Festspiele Erl Sommer

04.07.2024 - 28.07.2024


Mazeppa

Oper in drei Akten und sechs Bildern
Libretto vom Komponisten und Viktor Petrowitsch Burenin
nach dem Poem Poltawa von Alexander Sergejewitsch Puschkin
Musik von Peter Iljitsch Tschaikowski

In russischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 3 h 50' (zwei Pausen)

Premiere im Festspielhaus am 12. Juli 2024

 

 

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Mafiöse Verstrickungen

Von Thomas Molke / Fotos: © Xiomara Bender (TFE Presse)

Im Gegensatz zu Tschaikowskis Ballettmusiken und den beiden Musiktheaterwerken Eugen Onegin und Pique Dame steht seine Oper Mazeppa, die ebenfalls auf einer literarischen Vorlage von Puschkin beruht, trotz einiger Bemühungen in den 2010er Jahren in Westeuropa relativ selten auf den Spielplänen, was zum einen daran liegen mag, dass die Geschichte einen russisch-ukrainischen Stoff aus dem Beginn des 18. Jahrhunderts behandelt, der im Westen relativ unbekannt ist, in Russland hingegen nicht zuletzt durch Puschkins Poem Poltawa zum kulturellen Gut gehört. Zum anderen mag es in der derzeitigen politischen Lage nicht opportun sein, ein Werk auf den Spielplan zu stellen, in dem die Unabhängigkeitsbemühungen der Ukraine - wenn auch von einem zaristischen Russland - zum Scheitern verurteilt sind. Auch in Erl sieht man dieses Problem, doch die Planungen für diese Produktion fanden schon vor dem Ausbruch des russischen Angriffskrieges statt. So beschließt Regisseur Matthew Wild, alle möglichen Parallelen zur Gegenwart zu unterlassen und auch in den Übertiteln keinen Bezug zum historischen Konflikt herzustellen. So entsteht ein packendes, ergreifendes Musikdrama, dass zu jeder Zeit an zahlreichen Orten spielen könnte.

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Maria (Nombulelo Yende) schwärmt für den wesentlich älteren Mazeppa.

Die eigentliche Geschichte geht zurück auf den historisch belegten Kosakenführer Ivan Mazeppa, der Ende des 17. Jahrhunderts zunächst als Protegé von Zar Peter I. zum neuen Hetman der Ukraine ernannt wurde, sich dann allerdings mit dem schwedischen König Karl XII. gegen den Zaren verbündete. Puschkins Poem handelt von seiner Niederlage gegen den Zaren in der Schlacht von Poltawa und fügt eine Legende über eine Liebesbeziehung zu der wesentlich jüngeren Maria hinzu. Diese Liebesgeschichte ist der Aspekt, der Tschaikowski für seine Vertonung ganz besonders interessiert und die eigentliche Katastrophe auslöst. Marias Vater und Mazeppas Freund Kotschubej, ein reicher zarentreuer Gutsherr, ist nicht bereit, Mazeppa als Schwiegersohn zu akzeptieren, als dieser ihn um die Hand seiner Tochter, die zugleich Mazeppas Patenkind ist, bittet. Es kommt zum Zerwürfnis zwischen Mazeppa und Kotschubej, und Mazeppa zwingt Maria, sich für ihn oder für ihre Eltern zu entscheiden. Maria verlässt aus Liebe zu Mazeppa ihr Elternhaus. Kotschubejs Ehefrau Ljubow fordert ihren Mann zur Rache auf, und Kotschubej beschließt, den ehemaligen Freund beim Zaren wegen eines geplanten Umsturzes zu denunzieren. Der Zar schenkt der Anzeige jedoch keinen Glauben und liefert Kotschubej stattdessen an Mazeppa und seine Verbündeten aus. Unter Folter will Mazeppa Kotschubej zwingen, das Versteck seiner geheimen Schätze preiszugeben. Maria, die von der Gefangenschaft ihres Vaters zunächst keine Ahnung hat, erfährt zu spät von der geplanten Hinrichtung und verliert den Verstand, als sie zusehen muss, wie ihr Vater getötet wird. Mazeppa zieht in den Kampf gegen den Zaren und unterliegt in der Schlacht von Poltawa. Auf der Flucht trifft er zunächst auf Marias Jugendfreund Andrej, der ihn aus Rache zum Kampf fordert und dabei tödlich verletzt wird, und anschließend auf die mittlerweile geistig verwirrte Maria, die den ehemaligen Geliebten nicht mehr erkennt. So überlässt er sie ihrem Schicksal und ergreift die Flucht, während Maria dem sterbenden Andrej ein tröstendes Wiegenlied singt.

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Im Ehealltag angekommen: Maria (Nombulelo Yende) und Mazeppa (Petr Sokolov)

Wild gibt seiner Inszenierung den Untertitel Der Aufstieg und Fall des Hauses Kotschubej und zeigt, wie Marias Vater Kotschubej zunächst durch das Bündnis mit Mazeppa und seinen "Gangstern" zu großem Wohlstand gelangt, nach dem Zerwürfnis mit dem ehemaligen Freund aber mit seiner ganzen Familie zugrunde geht. Dafür hat Bühnen- und Kostümbildner Herbert Murauer die Bühne in zwei Ebenen unterteilt. Auf der oberen Ebene sieht man hinter einer Wand, die sich in unterschiedlicher Weite öffnen lässt, mehrere Räume eines Hauses, das dem mafiös organisierten Clan als Schaltzentrale der Macht dient. Die schwarzen Balken, die wahrscheinlich als Stützen eingebaut sind, erinnern an Gitterstäbe und lassen diesen Bereich beinahe wie eine große Gefängniszelle erscheinen. Im unteren Bereich befindet sich das Volk, das von der Macht ausgeschlossen ist und tatenlos dem Treiben der Mächtigen zusehen muss. Auch Maria beobachtet auf dieser Ebene am Ende des zweiten Aktes auf einem Fernsehbildschirm, der im ersten Akt noch im Wohnzimmer der Kotschubejs stand, wie ihr Vater hingerichtet wird, was wohl einen der schockierendsten Momente der Inszenierung darstellt. Man überlegt sich, wenn man nach diesen grausamen Bildern in die Pause geht, ob es überhaupt angemessen ist, am Ende des Aktes Applaus zu spenden. Aber Wild inszeniert hier ja nicht gegen das Libretto, sondern setzt bildlich schonungslos das um, was Tschaikowski in seiner Musik ebenfalls zum Ausdruck bringt.

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Andrej (Mikhail Pirogov) will Rache nehmen.

Während der Ouvertüre, die für Tschaikowski außerordentlich martialisch klingt und Qualitäten zur Untermalung eines großen Blockbusters besitzt, baut Wild eine Vorgeschichte als Prolog ein, die so in der Oper eigentlich nicht vorkommt. Kotschubej sitzt mit seiner Frau beim Abendessen, während Maria als Kind kaum vor dem Fernseher im Wohnzimmer wegzulocken ist. In diese familiäre Idylle bricht Orlik ein und bietet Kotschubej Geld, wenn er dem auf der Flucht verwundeten Mazeppa in seinem Haus Unterschlupf gewährt. Mazeppa wird zunächst im benachbarten Badezimmer von Ljubow und Maria verarztet, bevor er in Marias Kinderzimmer versteckt wird, was als Erklärungsansatz für die besondere Beziehung dienen mag, die sich im Laufe der Jahre zwischen Maria und Mazeppa entwickelt hat. Auch Marias Jugendfreund Andrej taucht  in diesem Prolog auf, dem sich Maria allerdings nur auf kindliche Art verbunden fühlt. Wie sie als herangewachsene junge Frau ihre Kindheit ablegt, indem sie die zahlreichen Stofftiere in ihrem Zimmer in Kisten verstaut, macht sie Andrej im ersten Akt deutlich, dass sie seine Gefühle nicht erwidert. Hinzu kommt ein riesiges Poster von Mazeppa an der Wand, das zeigt, wie sehr sie den viel älteren Mann verehrt.

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Der Fall des Hauses Kobutschej: unten: Ljubow (Helene Feldbauer) und Kobutschej (Alexander Roslavets), oben von links: Andrej (Mikhail Pirogov) und Iskra (Carlos Cárdenas)

Während mit dem Zerwürfnis zwischen Mazeppa und Kobutschej am Ende des ersten Aktes bereits der Fall des Hauses Kotschubej eingeleitet wird, hat sich im zweiten Akt das Haus auf der oberen Ebene ein wenig verändert. Die helle Rückwand im Wohn- und Esszimmer der Kobutschejs ist einer dunkleren Vertäfelung gewichen, vor der Mazeppas Gefolgsleute die Gelder ihrer dunklen Machenschaften abrechnen. Das Badezimmer, in dem Mazeppa im ersten Akt verarztet worden ist, wird zur Folterzentrale. Das Kinderzimmer hat sich in das Schlafzimmer Mazeppas und Marias verwandelt. Besonders makaber ist die Szene, in der Kotschubej und Iskra von Mazeppas Gefolgsleuten gefoltert werden und man Mazeppa und Maria nebenan schlafend im Bett sieht. Es ist kaum vorstellbar, dass Maria dabei nicht mitkriegen soll, was im Nebenraum passiert. Eindrucksvoll gelingt es Wild in der Personenregie allerdings auch, Mazeppa nicht als eindimensionalen Bösewicht zu inszenieren. Wenn ihn Gewissensbisse plagen, da er Maria scheinbar aufrichtig liebt und nicht weiß, wie die grausame Behandlung ihres Vaters damit in Einklang zu bringen ist, wird die Bühne auf der oberen Ebene immer schmaler und steht stellvertretend für Mazeppas Bedrängnis.

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Mazeppa (Petr Sokolov) gibt Maria (Nombulelo Yende) auf.

Während der Bürgerkrieg, der zu Beginn des dritten Aktes ausgebrochen ist, musikalisch bei Tschaikowski eigentlich nur instrumental stattfindet und lautmalerisch genau die Schrecken des Krieges nachzeichnet, will Wild auf eine Bebilderung nicht komplett verzichten und zeigt die mittlerweile verwüstete Kommandozentrale von Mazeppa, in der die mittlerweile blutüberströmte Folterkammer aus einem Horrorfilm stammen könnte. Das Volk bewegt sich nun auf der unteren Ebene als Flüchtlingstreck. Die mittlerweile geistig verwirrte Maria versucht, ihre Unschuld zurückzugewinnen, indem sie ihre Kindheit erneut heraufbeschwört. Aus verschiedenen Taschen der Flüchtenden holt sie Stofftiere hervor, die sie einst im ersten Akt in einer Kiste verstaut hatte. Doch auch die Stofftiere sind versehrt und von den kriegerischen Auseinandersetzungen gezeichnet. Dem sterbenden Andrej, der hier von Mazeppa nur verwundet und von dessen Gefolgsmann Orlik hinterrücks ermordet wird, begegnet Maria nicht wirklich, sondern vernimmt ihn nur in einer Art Vision. Blutüberströmt steht Andrej in der oberen Ebene, während Maria ihre Stofftiere auf der unteren Ebene herzt und das bewegende Wiegenlied singt. Orlik überredet Mazeppa, die Geliebte ihrem Schicksal zu überlassen, und so bleibt Maria schließlich allein auf der Bühne zurück, während sich die Wand zur oberen Ebene schließt.

Die an sich schon ergreifende Geschichte wird von Tschaikowskis Musik in der Dramatik und Vielschichtigkeit noch übertroffen. Karsten Januschke lotet mit dem Orchester der Tiroler Festspiele Erl die zahlreichen Nuancen der Partitur differenziert aus und zaubert einen beeindruckenden und in jedem Moment bewegenden Klang aus dem Orchestergraben, der auch Tschaikowskis Meisterschaft in der Instrumentalmusik unterstreicht. In der musikalischen Zeichnung einzelner Figuren lässt sich eine gewisse Nähe zu Tschaikowskis wenige Jahre zuvor komponiertem Werk  Eugen Onegin nicht leugnen. Andrejs Liebesschwüre für Maria und seine Verzweiflung im dritten Akt, wenn er auf dem Schlachtfeld nach Mazeppa sucht, erinnern im musikalischen Stil an Lenski. Auch die Titelfigur hat zumindest in den Passagen, in denen er seine Gefühle für Maria beschreibt, ein Vorbild in der Musik des Fürsten Gremin. Marias Schwärmerei für Mazeppa kann musikalisch auch mit Tatjanas berühmter Briefszene verglichen werden. Ansonsten zeichnet Tschaikowski die Figuren in der Musik allerdings wesentlich pessimistischer und düsterer. Der von Olga Yanum einstudierte Chor der Tiroler Festspiele begeistert durch fulminanten Klang und bewegendes Spiel und zeigt beeindruckend die Machtlosigkeit des einfachen Volkes.

Auch die Solistinnen und Solisten lassen keine Wünsche offen. Da ist zunächst Nombulelo Yende als Maria zu nennen, die den bruchlosen Wechsel zwischen leisen und innigen Tönen und dramatischen Ausbrüchen meisterhaft zelebriert. Auch darstellerisch gelingt ihr die Entwicklung vom naiven Mädchen zur gebrochenen Frau, die sich in den Status eines unschuldigen Mädchens zurücksehnt, absolut glaubhaft. Petr Sokolov gestaltet die Titelpartie mit kraftvollem Bariton als kompromisslosen Anführer, der zwar durchaus von seinen Gefühlen für Maria überwältigt wird, dessen Überlebensdrang am Ende allerdings dennoch größer ist, so dass er die Geliebte ihrem traurigen Schicksal überlässt. Wenn er seine Gefühle für Maria besingt, entwickelt sein dunkler Bariton eine unglaubliche Wärme, die sich zur Durchsetzung seiner politischen Motive allerdings sofort in eiskalte Härte verwandelt. Ein weiterer Glanzpunkt des Abends ist Alexander Roslavets als Kotschubej. Seine mit profundem Bass gestaltete Hinrichtungsszene im zweiten Akt, in der er sich der Folter nicht beugt, geht unter die Haut. Wenn er sich wehmütig an seine Tochter Maria erinnert, rührt Roslavets' Interpretation zu Tränen. Mikhail Pirogov verfügt als Andrej über einen strahlenden lyrischen Tenor, der in den Höhen brillieren kann, andererseits in den weichen, warmen Tönen aber auch zeigt, dass er in einer derart harten Welt verloren ist. Helene Feldbauer stattet Marias Mutter Ljubow mit kompromisslosem und kraftvollem Mezzosopran aus. Auch die kleineren Partien sind mit Dennis Chmelensky als brutalem Orlik, Carlos Cárdenas als Iskra und Ian Koziara als betrunkenem Kosaken hochkarätig besetzt, so dass es für alle Beteiligten am Ende großen Jubel gibt.

FAZIT

Matthew Wild gelingt es, Tschaikowskis packenden Opernschocker absolut zeitlos und in der Aussage erschreckend allgemeingültig in Szene zu setzen.

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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Karsten Januschke

Regie
Matthew Wild

Bühnenbild und Kostüme
Herbert Murauer

Choreographie
Christiana Stefanou

Licht
Reinhard Traub

Video
Bibi Abel

Chorleitung
Olga Yanum

Kampfchoreographie
Stephen Louis

Dramaturgie
Max Enderle

 

Orchester der Tiroler Festspiele Erl

Chor der Tiroler Festspiele Erl


Solistinnen und Solisten

Mazeppa
Petr Sokolov

Maria
Nombulelo Yende

Kotschubej
Alexander Roslavets

Ljubow
Helene Feldbauer

Andrej
Mikhail Pirogov

Orlik
Dennis Chmelensky

Iskra
Carlos Cárdenas

Betrunkener Kosak
Ian Koziarak

Gangster
Bartlomiej Lossy
Christian Hermanowski
Philipp Fischer
Igor Klimenka
Stephen Louis
Alexander Lust
Sylvain Teston
Christoph Maria Wolf

Tänzer*innen
Anita Manolova /
Julia Köhler
Calogero Failla /
Adrien Fougères

Kinderdouble Maria
Emily do Nascimento-Wlach

Kinderdouble Andrej
Thomas Schröter

Kind
Linus Schröter

 


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