Mafiöse Verstrickungen
Von Thomas Molke /
Fotos: © Xiomara Bender (TFE Presse)
Im Gegensatz zu Tschaikowskis Ballettmusiken und den beiden
Musiktheaterwerken Eugen Onegin und Pique Dame steht seine Oper Mazeppa,
die ebenfalls auf einer literarischen Vorlage von Puschkin beruht, trotz einiger
Bemühungen in den 2010er Jahren in Westeuropa relativ selten auf den
Spielplänen, was zum einen daran liegen mag, dass die Geschichte einen
russisch-ukrainischen Stoff aus dem Beginn des 18. Jahrhunderts behandelt, der
im Westen relativ unbekannt ist, in Russland hingegen nicht zuletzt durch
Puschkins Poem Poltawa zum kulturellen Gut gehört. Zum anderen mag es in
der derzeitigen politischen Lage nicht opportun sein, ein Werk auf den Spielplan
zu stellen, in dem die Unabhängigkeitsbemühungen der Ukraine - wenn auch von
einem zaristischen Russland - zum Scheitern verurteilt sind. Auch in Erl sieht
man dieses Problem, doch die Planungen für diese Produktion fanden schon vor dem
Ausbruch des russischen Angriffskrieges statt. So beschließt Regisseur Matthew
Wild, alle möglichen Parallelen zur Gegenwart zu unterlassen und auch in den
Übertiteln keinen Bezug zum historischen Konflikt herzustellen. So entsteht ein
packendes, ergreifendes Musikdrama, dass zu jeder Zeit an zahlreichen Orten
spielen könnte.
Maria (Nombulelo Yende) schwärmt für den
wesentlich älteren Mazeppa.
Die eigentliche Geschichte geht zurück auf den historisch belegten Kosakenführer
Ivan Mazeppa, der Ende des 17. Jahrhunderts zunächst als Protegé von Zar Peter
I. zum neuen Hetman der Ukraine ernannt wurde, sich dann allerdings mit dem
schwedischen König Karl XII. gegen den Zaren verbündete. Puschkins Poem handelt
von seiner Niederlage gegen den Zaren in der Schlacht von Poltawa und fügt eine
Legende über eine Liebesbeziehung zu der wesentlich jüngeren Maria hinzu. Diese
Liebesgeschichte ist der Aspekt, der Tschaikowski für seine Vertonung ganz
besonders interessiert und die eigentliche Katastrophe auslöst. Marias Vater und Mazeppas Freund Kotschubej, ein reicher zarentreuer Gutsherr, ist nicht bereit,
Mazeppa als Schwiegersohn zu akzeptieren, als dieser ihn um die Hand seiner
Tochter, die zugleich Mazeppas Patenkind ist, bittet. Es kommt zum Zerwürfnis
zwischen Mazeppa und Kotschubej, und Mazeppa zwingt Maria, sich für ihn oder für
ihre Eltern zu entscheiden. Maria verlässt aus Liebe zu Mazeppa ihr Elternhaus.
Kotschubejs Ehefrau Ljubow fordert ihren Mann zur Rache auf, und Kotschubej
beschließt, den ehemaligen Freund beim Zaren wegen eines geplanten Umsturzes zu
denunzieren. Der Zar schenkt der Anzeige jedoch keinen Glauben und liefert
Kotschubej stattdessen an Mazeppa und seine Verbündeten aus. Unter Folter will
Mazeppa Kotschubej zwingen, das Versteck seiner geheimen Schätze preiszugeben.
Maria, die von der Gefangenschaft ihres Vaters zunächst keine Ahnung hat,
erfährt zu spät von der geplanten Hinrichtung und verliert den Verstand, als sie
zusehen muss, wie ihr Vater getötet wird. Mazeppa zieht in den Kampf gegen den
Zaren und unterliegt in der Schlacht von Poltawa. Auf der Flucht trifft er
zunächst auf Marias Jugendfreund Andrej, der ihn aus Rache zum Kampf fordert und
dabei tödlich verletzt wird, und anschließend auf die mittlerweile geistig
verwirrte Maria, die den ehemaligen Geliebten nicht mehr erkennt. So überlässt
er sie ihrem Schicksal und ergreift die Flucht, während Maria dem sterbenden
Andrej ein tröstendes Wiegenlied singt.
Im Ehealltag angekommen: Maria (Nombulelo Yende)
und Mazeppa (Petr Sokolov)
Wild gibt seiner Inszenierung den Untertitel Der Aufstieg und Fall des Hauses
Kotschubej und zeigt, wie Marias Vater Kotschubej zunächst durch das
Bündnis mit Mazeppa und seinen "Gangstern" zu großem Wohlstand gelangt, nach dem
Zerwürfnis mit dem ehemaligen Freund aber mit seiner ganzen Familie zugrunde
geht. Dafür hat Bühnen- und Kostümbildner Herbert Murauer die Bühne in zwei
Ebenen unterteilt. Auf der oberen Ebene sieht man hinter einer Wand, die sich in
unterschiedlicher Weite öffnen lässt, mehrere Räume eines Hauses, das dem
mafiös organisierten Clan als Schaltzentrale der Macht dient. Die schwarzen Balken, die
wahrscheinlich als Stützen eingebaut sind, erinnern an Gitterstäbe und lassen
diesen Bereich beinahe wie eine große Gefängniszelle erscheinen. Im unteren
Bereich befindet sich das Volk, das von der Macht ausgeschlossen ist und tatenlos
dem Treiben der Mächtigen zusehen muss. Auch Maria beobachtet auf dieser Ebene
am Ende des zweiten Aktes auf einem Fernsehbildschirm, der im ersten Akt noch im
Wohnzimmer der Kotschubejs stand, wie ihr Vater hingerichtet wird, was wohl
einen der schockierendsten Momente der Inszenierung
darstellt. Man überlegt sich, wenn man nach diesen grausamen Bildern in die
Pause geht, ob es überhaupt angemessen ist, am Ende des Aktes Applaus zu
spenden. Aber Wild inszeniert hier ja nicht gegen das Libretto, sondern setzt
bildlich schonungslos das um, was Tschaikowski in seiner Musik ebenfalls zum Ausdruck
bringt.
Andrej (Mikhail Pirogov) will Rache nehmen.
Während der Ouvertüre, die für Tschaikowski außerordentlich
martialisch klingt und Qualitäten zur Untermalung eines großen Blockbusters
besitzt, baut Wild eine Vorgeschichte als Prolog ein, die so in der Oper
eigentlich nicht vorkommt. Kotschubej sitzt mit seiner Frau beim Abendessen, während
Maria als Kind kaum vor dem Fernseher im Wohnzimmer wegzulocken ist. In diese
familiäre Idylle bricht Orlik ein und bietet Kotschubej Geld, wenn er dem auf
der Flucht verwundeten Mazeppa in seinem Haus Unterschlupf gewährt. Mazeppa wird
zunächst im benachbarten Badezimmer von Ljubow und Maria verarztet, bevor er in
Marias Kinderzimmer versteckt wird, was als Erklärungsansatz für die besondere Beziehung
dienen mag, die
sich im Laufe der Jahre zwischen Maria und Mazeppa entwickelt hat. Auch
Marias Jugendfreund Andrej taucht in diesem Prolog auf, dem sich Maria allerdings
nur auf kindliche Art verbunden fühlt. Wie sie als herangewachsene junge Frau ihre Kindheit ablegt,
indem sie die zahlreichen Stofftiere in ihrem Zimmer in Kisten verstaut, macht
sie Andrej im ersten Akt deutlich, dass
sie seine Gefühle nicht erwidert. Hinzu kommt ein riesiges Poster von Mazeppa an
der Wand, das zeigt, wie sehr sie den viel älteren Mann verehrt.
Der Fall des Hauses Kobutschej: unten: Ljubow
(Helene Feldbauer) und Kobutschej (Alexander Roslavets), oben von links: Andrej
(Mikhail Pirogov) und Iskra (Carlos Cárdenas)
Während mit dem Zerwürfnis zwischen Mazeppa und Kobutschej am
Ende des ersten Aktes bereits der Fall des Hauses Kotschubej eingeleitet wird,
hat sich im zweiten Akt das Haus auf der oberen Ebene ein wenig verändert. Die
helle Rückwand im Wohn- und Esszimmer der Kobutschejs ist einer dunkleren
Vertäfelung gewichen, vor der Mazeppas Gefolgsleute die Gelder ihrer dunklen
Machenschaften abrechnen. Das Badezimmer, in dem Mazeppa im ersten Akt verarztet
worden ist, wird zur Folterzentrale. Das Kinderzimmer hat sich in das
Schlafzimmer Mazeppas und Marias verwandelt. Besonders makaber ist die Szene, in
der Kotschubej und Iskra von Mazeppas Gefolgsleuten gefoltert werden und man
Mazeppa und Maria nebenan schlafend im Bett sieht. Es ist kaum vorstellbar, dass
Maria dabei nicht mitkriegen soll, was im Nebenraum passiert. Eindrucksvoll
gelingt es Wild in der Personenregie allerdings auch, Mazeppa nicht als
eindimensionalen Bösewicht zu inszenieren. Wenn ihn Gewissensbisse plagen, da er
Maria scheinbar aufrichtig liebt und nicht weiß, wie die grausame Behandlung
ihres Vaters damit in Einklang zu bringen ist, wird die Bühne auf der oberen
Ebene immer schmaler und steht stellvertretend für Mazeppas Bedrängnis.
Mazeppa (Petr Sokolov) gibt Maria (Nombulelo
Yende) auf.
Während der Bürgerkrieg, der zu Beginn des dritten Aktes
ausgebrochen ist, musikalisch bei Tschaikowski eigentlich nur instrumental
stattfindet und lautmalerisch genau die Schrecken des Krieges nachzeichnet, will
Wild auf eine Bebilderung nicht komplett verzichten und zeigt die mittlerweile
verwüstete Kommandozentrale von Mazeppa, in der die mittlerweile blutüberströmte Folterkammer
aus einem Horrorfilm stammen könnte. Das Volk bewegt sich nun auf der unteren
Ebene als Flüchtlingstreck. Die mittlerweile geistig verwirrte Maria versucht, ihre
Unschuld zurückzugewinnen, indem sie ihre Kindheit erneut heraufbeschwört. Aus
verschiedenen Taschen der Flüchtenden holt sie Stofftiere hervor, die sie einst
im ersten Akt in einer Kiste verstaut hatte. Doch auch die Stofftiere sind
versehrt und von den kriegerischen Auseinandersetzungen gezeichnet. Dem
sterbenden Andrej, der hier von Mazeppa nur verwundet und von dessen Gefolgsmann
Orlik hinterrücks ermordet wird, begegnet Maria nicht wirklich, sondern vernimmt
ihn nur in einer Art Vision. Blutüberströmt steht Andrej in der oberen Ebene,
während Maria ihre Stofftiere auf der unteren Ebene herzt und das bewegende
Wiegenlied singt. Orlik überredet Mazeppa, die Geliebte ihrem Schicksal zu
überlassen, und so bleibt Maria schließlich allein auf der Bühne zurück, während
sich die Wand zur oberen Ebene schließt.
Die an sich schon ergreifende Geschichte wird von Tschaikowskis Musik in der
Dramatik und Vielschichtigkeit noch übertroffen. Karsten Januschke lotet mit dem
Orchester der Tiroler Festspiele Erl die zahlreichen Nuancen der Partitur
differenziert aus und zaubert einen beeindruckenden und in jedem Moment
bewegenden Klang aus dem Orchestergraben, der auch Tschaikowskis Meisterschaft
in der Instrumentalmusik unterstreicht. In der musikalischen Zeichnung einzelner
Figuren lässt sich eine gewisse Nähe zu Tschaikowskis wenige Jahre zuvor
komponiertem Werk Eugen Onegin nicht leugnen. Andrejs Liebesschwüre für
Maria und seine Verzweiflung im dritten Akt, wenn er auf dem Schlachtfeld nach Mazeppa
sucht, erinnern im musikalischen Stil an Lenski. Auch
die Titelfigur hat zumindest in den Passagen, in denen er seine Gefühle für
Maria beschreibt, ein Vorbild in der Musik des Fürsten Gremin. Marias
Schwärmerei für Mazeppa kann musikalisch auch mit Tatjanas berühmter Briefszene
verglichen werden. Ansonsten zeichnet Tschaikowski die Figuren in der Musik
allerdings wesentlich pessimistischer und düsterer. Der von Olga Yanum
einstudierte Chor der Tiroler Festspiele begeistert durch fulminanten Klang und
bewegendes Spiel und zeigt beeindruckend die Machtlosigkeit des einfachen
Volkes.
Auch die Solistinnen und Solisten lassen keine Wünsche offen. Da ist zunächst
Nombulelo Yende als Maria zu nennen, die den
bruchlosen Wechsel zwischen leisen und innigen Tönen und dramatischen Ausbrüchen
meisterhaft zelebriert. Auch darstellerisch gelingt ihr die Entwicklung vom
naiven Mädchen zur gebrochenen Frau, die sich in den Status eines unschuldigen
Mädchens zurücksehnt, absolut glaubhaft. Petr Sokolov gestaltet die Titelpartie
mit kraftvollem Bariton als kompromisslosen Anführer, der zwar durchaus von
seinen Gefühlen für Maria überwältigt wird, dessen Überlebensdrang am Ende
allerdings dennoch größer ist, so dass er die Geliebte ihrem traurigen
Schicksal überlässt. Wenn er seine Gefühle für Maria besingt, entwickelt sein
dunkler Bariton eine unglaubliche Wärme, die sich zur Durchsetzung seiner
politischen Motive allerdings sofort in eiskalte Härte verwandelt. Ein weiterer
Glanzpunkt des Abends ist Alexander Roslavets als Kotschubej. Seine mit profundem Bass
gestaltete Hinrichtungsszene im zweiten Akt, in der er sich der Folter nicht beugt,
geht unter die Haut. Wenn
er sich wehmütig an seine Tochter Maria erinnert, rührt Roslavets'
Interpretation zu Tränen. Mikhail Pirogov verfügt als Andrej über einen
strahlenden lyrischen Tenor, der in den Höhen brillieren kann, andererseits in
den weichen, warmen Tönen aber auch zeigt, dass er in einer derart harten Welt
verloren ist. Helene Feldbauer stattet Marias Mutter Ljubow mit kompromisslosem
und kraftvollem Mezzosopran aus. Auch die kleineren Partien sind mit Dennis
Chmelensky als brutalem Orlik, Carlos Cárdenas als Iskra und Ian Koziara als
betrunkenem Kosaken hochkarätig besetzt, so dass es für alle Beteiligten am Ende großen
Jubel gibt.
FAZIT
Matthew Wild gelingt es, Tschaikowskis packenden Opernschocker absolut zeitlos
und in der Aussage erschreckend allgemeingültig in Szene zu setzen.
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Musikalische Leitung
Karsten JanuschkeRegie
Matthew Wild
Bühnenbild und Kostüme
Herbert Murauer
Choreographie
Christiana Stefanou
Licht
Reinhard Traub
Video
Bibi Abel
Chorleitung
Olga Yanum
Kampfchoreographie
Stephen Louis
Dramaturgie
Max Enderle
Orchester der
Tiroler Festspiele Erl
Chor der Tiroler Festspiele Erl
Solistinnen und Solisten
Mazeppa
Petr Sokolov
Maria
Nombulelo Yende
Kotschubej
Alexander Roslavets Ljubow
Helene Feldbauer Andrej
Mikhail Pirogov
Orlik
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Iskra
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