Algier als Dönerbude
Von Thomas Molke
/ Fotos: © Patrick Pfeiffer
Rossinis L'italiana in Algeri hat sich mittlerweile neben dem Barbiere
und der Cenerentola einen festen Platz im Repertoire der
Opernhäuser zurückerobert. Einen bedeutenden Anteil daran dürften nicht zuletzt
die schmissige Ouvertüre, das grandiose Finale des ersten Aktes und das
urkomische "Pappataci"-Terzett im zweiten Akt haben. Lange Zeit war man davon
ausgegangen, dass Rossinis elfte Oper eigentlich in Venedig nur als Lückenbüßer
gedient habe, da das ursprünglich geplante Werk von Carlo Coccia, La
donna selvaggia, nicht rechtzeitig fertiggestellt worden sei. Allerdings ist
es wahrscheinlicher, dass Rossini höchstpersönlich den Impresario Giovanni Gallo
gebeten hat, ihm den Kompositionsauftrag zu geben, da seine in Mailand im Jahr
zuvor mit überwältigendem Erfolg uraufgeführte Oper La pietra del paragone
bei der Wiederaufnahme in Venedig ein Flop war und Rossini diesen Misserfolg
wettmachen wollte. Die Zeit, ein neues Libretto zu erstellen, war mit knapp vier
Wochen natürlich zu kurz, so dass Rossini auf ein Stück zurückgriff, das Luigi Mosca bereits fünf Jahre zuvor für Mailand vertont hatte (Rossini In Wildbad
präsentierte diese Variante übrigens 2003 und brachte auch eine Einspielung
auf CD heraus). Mit einigen Überarbeitungen und Anpassungen stand die Oper, die
inhaltlich ganz im Trend der damaligen Begeisterung für orientalische Themen
lag, über mehrere Wochen erfolgreich auf dem Spielplan.
Haly (Francesco Bossi, rechts) präsentiert
Mustafà (Dogukan Özkan, Mitte) die Italienerin Isabella (Polina Anikina).
Ob die Handlung wirklich auf der wahren Geschichte der Mailänderin Antonietta Frappoli
basiert, die 1808 Berühmtheit erlangte, als es ihr aus nicht genau geklärten
Gründen gelang, aus der Gefangenschaft im Harem des Bey von Algier über Venedig
in ihre Heimatstadt zurückzukehren, oder ob eventuell, wie Paolo Fabbri
vermutet, die Mitte des 18. Jahrhunderts entstandene Komödie La veneziana in
Algeri als Vorlage gedient hat, ist heute umstritten. In der Oper ist es
der Bey Mustafà,
der seiner Frau Elvira
überdrüssig ist und glaubt, dass nur eine Italienerin seinen Bedürfnissen nach der
"idealen Frau" entsprechen kann. Diese erscheint in Gestalt der schönen
Isabella, die in Begleitung ihres ältlichen Verehrers Taddeo von Livorno
aufgebrochen ist, um ihren Geliebten Lindoro zu suchen, der als Sklave in Algier
beim Bey gefangen gehalten wird. Mit List und Charme gelingt es ihr, sich den Bey gefügig
zu machen. Nachdem sie zunächst verhindert hat, dass Mustafà seine bisherige
Gattin verstößt und sie dem Sklaven Lindoro zur Frau gibt, ernennt sie ihn
anschließend zu einem Pappataci, dessen einzige Beschäftigung
darin besteht, zu essen, zu trinken und zu schweigen. Während er diesen Aufgaben
nachkommt, bricht sie mit Lindoro, den übrigen italienischen Sklaven
und Taddeo zurück nach Italien auf. Zu spät erkennt Mustafà den Betrug und
bittet seine Gattin Elvira demütig um Verzeihung.
Finale 1. Akt: in der Mitte von links: Elvira
(Oksana Vakula), Zulma (Camilla Carol Farias), Lindoro (Hyunduk Kim), Mustafà (Dogukan
Özkan), Haly (Francesco Bossi), Isabella (Polina Anikina) und Taddeo (Emmanuel
Franco), dahinter der Herrenchor
Regisseur Jochen Schönleber erarbeitet die Oper größtenteils mit
jungen Talenten der Akademie BelCanto, um das Potenzial der jungen
Sängerinnen und Sänger mit den halsbrecherisch rasanten Stellen und zahlreichen
weiteren großartigen musikalischen Nummern weiter zu schulen. Außerdem wird
eine Aufnahme erstellt, mit der sich die Solistinnen und Solisten an anderen Bühnen für künftige Engagements vorstellen können. Da das Ensemble aus
den unterschiedlichsten Ländern und Kulturen zusammengestellt ist, ist das Thema
Fremdheit in der Oper für die Umsetzung obsolet, so dass die in der Vorlage
vorhandenen Klischees absolut überzeichnet werden, sich damit quasi selbst
zerlegen und nicht mehr ernst genommen werden können. Da der Sänger des Mustafà
ein Türke ist, wird der Spielort Algier kurzerhand in eine türkische Dönerbude
verlegt, in der Mustafà ein übertriebenes Macho-Gehabe mit mafiösen Strukturen,
was wohl die Piraten ersetzen soll, an den Tag legt. Elvira gibt ein devotes "Weibchen", das Mustafà langweilt. Abwechslung bringt hier die Italienerin, die mit einem kleinen Fiat 126 Bambino im hinteren Teil der Bühne ankommt und sofort alle
Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Lindoro (Hyunduk Kim, rechts) und Taddeo
(Emmanuel Franco, links) erklären Mustafà (Dogukan Özkan, Mitte) die Aufgaben
eines Pappatacis.
Der Kamaikan, zu dem Mustafà Isabellas vermeintlichen Onkel Taddeo
ernennt, um bei Isabella zu punkten, ist dann ein italienischer Koch mit weißer
Mütze und einem großen weißen Kochlöffel. Aus Angst vor der Pfählung nimmt
Taddeo diese Ehrung auch an. Der Pfahl ist in der Dönerbude ein Dönerspieß, auf
dem Taddeo selbstverständlich nicht "gegrillt" werden möchte. Mit wunderbarer
Slapstick-Komik hält er sich immer das Hinterteil zu, wenn sich Haly mit dem
Spieß nähert. Warum er allerdings in einem Glitzer-Outfit wie ein Zirkusdirektor
auftritt, erschließt sich nicht wirklich. Isabella macht optisch einer
modebewussten selbstbestimmten Italienerin alle Ehre und gibt Elvira dann optisch auch einige
Tipps, die diese im weiteren Verlauf der Oper umsetzt. Trägt Elvira zunächst ein
schönes, aber langweiliges orientalisch anmutendes blaues Gewand, verwandelt sie
sich im zweiten Akt in eine optisch selbstbewusstere Frau, an der der Bey am
Ende vielleicht wieder Gefallen finden kann. Wenn der Bey kurz vor Ende der Oper
zum Pappataci ernannt wird, der sich nur mit Essen, Trinken und Schweigen
beschäftigen und alles andere nicht beachten soll, sind es natürlich
italienische Spaghetti, die ihm serviert werden. Zur Steigerung der Komik
verschwindet er unter einem Tisch, aus dem nur sein Kopf wie eine Art Gericht
herausragt, so dass er die Nudeln nicht einmal selbst essen kann sondern
gefüttert werden muss.
Isabella (Polina Anikina) und Lindoro (Hyunduk
Kim, links) triumphieren mit Taddeo (Emmanuel Franco, rechts) über Mustafà (Dogukan
Özkan, Mitte).
Das alles setzt das junge Ensemble mit großer Spielfreude in einer
von Schönleber auf den Punkt gebrachten Personenregie wunderbar um. Dogukan
Özkan gestaltet den Mustafà mit absolut virilem, dunklem Bass-Bariton und
herrlich übertriebenem machohaftem Spiel. Seine strengen Blicke dürfen als
durchaus furchteinflößend bezeichnet werden. Dabei setzt er allerdings auch auf
große Komik, wenn er schlafend unter seinem blauen T-Shirt einen fülligen Bauch
hervorlugen lässt. Besonders witzig setzt er seine Verwandlung in einen Pappataci um, wobei er auch stimmlich mit extrem lauten Tönen die Szene
karikiert. Polina Anikina verfügt in der Titelpartie über einen kraftvollen
Mezzosopran und überzeichnet darstellerisch die selbstbewusste italienische Frau
mit herrlicher Komik. Schon in ihrer Auftritts-Kavatine "Cruda sorte!" macht
Anikina mit strahlenden Höhen deutlich, dass diese Frau sich auch in der Fremde
zu helfen weiß. Mit großer Leichtigkeit setzt sie ihre Kavatine im zweiten Akt
an, in der sie die Flucht mit ihrem Geliebten Lindoro plant. Hyunduk Kim verfügt
als Lindoro über einen weichen Tenor, der die Höhen sauber aussingt. Oksana
Vakula punktet als Elvira mit leuchtendem Sopran, und darf zu Beginn auch große
Gefühlsregungen zeigen. Wenn Mustafà die von ihr zubereiteten Speisen allesamt
unfreundlich zurückweist, verliert sie für einen kurzen Moment die Fassung und fegt die Blumen und das Essen vom Tisch. Dieser Moment ist wunderbar auf
einen musikalischen Höhepunkt in der Ouvertüre abgestimmt. Auch in den
Ensembles glänzt sie stimmlich durch strahlende Höhen.
Als "alter Hase" setzt Emmanuel Franco als Taddeo komische Akzente
und punktet mit regelrecht sprudelnden beweglichen Läufen. Mit wunderbarer Komik
arbeitet er die Hasenfüßigkeit von Isabellas ältlichem Verehrer heraus und hat
am Ende ein echtes Problem, wenn er erkennt, dass Isabella Lindoro und nicht ihn
liebt, und er sich kurzfristig entscheiden muss, ob er als Kamaikan beim Mustafà
bleibt oder doch lieber ins sichere Italien zurückkehren möchte. In
den kleineren Partien zeigen auch Camilla Carol Farias als Zulma und Francesco
Bossi als Haly erneut großes komisches Potenzial und punkten stimmlich mit
warmem Mezzosopran bzw. dunklem Bariton. José Miguel Pérez-Sierra arbeitet mit
dem Orchester der Szymanowski-Philharmonie Krakau die musikalischen Finessen der
Partitur mit viel Fingerspitzengefühl heraus und lässt vor allem die großartige
Ouvertüre und das erste Finale vor der Pause, das auch vom Ensemble herrlich auf
den Punkt gebracht wird, zu einem musikalischen Glanzlicht
der Aufführung werden. Die Herren des von Agnieszka Ignaszewska-Magiera
einstudierten Chors der Szymanowski-Philharmonie Krakau überzeugen durch große
Spielfreude und homogenen Klang. So gibt es für alle Beteiligten am Schluss
verdienten Jubel.
FAZIT
Das musikalische Niveau dieser Produktion lässt keine Wünsche offen und dürfte
für die jungen Talente eine gute Visitenkarte für künftige Engagements sein.
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