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Ist es ein Traum?Von Thomas Molke / Fotos: © Patrick Pfeiffer Rossinis 1828 uraufgeführte Oper Le Comte Ory ist die erste originär französische Oper des Schwans von Pesaro. Die beiden vorherigen Werke in französischer Sprache, Le siège de Corinthe und Moïse et Pharaon, sind genau genommen nur Überarbeitungen seiner italienischen Opern Maometto II. und Mosè in Egitto. Doch auch beim Comte Ory lässt sich darüber streiten, ob diese komische Oper wirklich als originär bezeichnet werden kann, da ein Großteil der Musik aus der drei Jahre zuvor komponierten Cantata scenica Il viaggio a Reims stammt, einem "Gelegenheitswerk", das er für die Krönungsfeierlichkeiten von Karl X. kreiert hatte. Da er es jedoch aufgrund des Sujets nicht für repertoiretauglich erachtete, nahm er es nach bereits vier Vorstellungen vom Spielplan, um die Musik anderweitig zu verwenden. Dementsprechend hat die Handlung von Le Comte Ory auch nichts mit der Geschichte in Il viaggio a Reims zu tun. Auch mag es verwundern, dass Le Comte Ory überhaupt an der Opéra zur Uraufführung kam, da eine komische Oper mit einem höchst pikanten Stoff ohne Balletteinlage hier wie ein Fremdkörper wirken musste. Doch die Konkurrenz unter den Theatern in der französischen Metropole war groß, so dass man mit einem Ausnahme-Talent wie Rossini bereit war, neue Wege einzuschlagen, zu Recht. Denn das Stück wurde ein Riesenerfolg, wohl nicht zuletzt wegen der großartigen Musik, die Rossinis kompositorische Genialität in voller Blüte zeigt. Drei Jahre später ging bereits die 100. Vorstellung über die Bühne, und bis 1884 hielt sich das Stück mit fast 500 Aufführungen im Repertoire. Eugène Scribe, der im Gegensatz zu anderen Aufträgen auf bereits vorhandene größtenteils recht italienisch anmutende Musik einen passenden französischen Text schreiben musste, glaubte bei der Uraufführung noch nicht an einen derart überwältigenden Erfolg und wollte deshalb zunächst nicht als Librettist genannt werden. Allerdings änderte er seine Meinung sehr schnell und ließ seinen Namen nachträglich unter das Textbuch setzen. Die Comtesse (Sofia Mchedlishvili, rechts) und Ragonde (Camilla Carol Farias, links) überlegen, ob sie den merkwürdigen Pilgerinnen Unterschlupf gewähren sollen. Die Geschichte geht zurück auf die alte Ballade des Grafen Ory, eines adeligen Schürzenjägers, der sich mit seinen Kumpanen Zutritt zu einem Frauenkloster verschafft, indem sich alle Männer als Nonnen verkleiden. Neun Monate später sollen dann zahlreiche kleine Ritter im Kloster das Licht der Welt erblickt haben. Scribe hatte zusammen mit Charles-Gaspard Delestre-Poirson 1816 dieses Thema zu einem Vaudeville verarbeitet, das unter anderem bereits 1819 von Carl Borromäus von Miltitz in Berlin vertont wurde. Aus den Nonnen wurden dabei eine Gräfin und ihre Edeldamen, die bis zur Rückkehr ihrer sich auf Kreuzzügen befindenden Ehemänner Keuschheit gelobt hatten. Ory und seine Gefährten verkleiden sich hier als Pilgerinnen, um Zutritt zum Schloss zu erhalten. Anders als in der Ballade können die Frauen das Ehegelübde halten, weil die Kreuzritter in derselben Nacht zurückkehren und Ory und seinen Männern folglich nur noch die Flucht bleibt. Rossini erweiterte dieses einaktige Stück um eine Vorgeschichte, in der sich der Graf als weiser Eremit verkleidet, um sich die Sorgen und Wünsche der jungen Mädchen anzuhören. Der verwitweten Gräfin, die er erobern will, rät er, ihre Liebessehnsucht nicht weiter zu unterdrücken, hat dabei allerdings nicht damit gerechnet, dass ihr Verlangen seinem Pagen Isolier gilt. So kommt es in der Nacht vor der Rückkehr der Kreuzritter im Schlafgemach der Gräfin zu einer pikanten Ménage à trois, bei der der Graf seinen Pagen für die Gräfin hält, während diese sich mit Isolier vergnügt, der nach der Flucht von Ory und seinen Männern im Schloss bleiben darf. Isolier (Diana Haller, rechts) gesteht dem als Eremit verkleideten Ory (Patrick Kabongo, links) seine Liebe zur Comtesse. Die Geschichte ist häufig als unglaubwürdig und kaum nachvollziehbar kritisiert worden. Auf der Suche, wie man der Unwahrscheinlichkeit der Handlung in der Inszenierung begegnen kann, ist Regisseur und Festspielleiter Jochen Schönleber gemeinsam mit der Interpretin des Isolier, Diana Haller, der Frage nachgegangen, ob Isolier denn jetzt im Stück eine Frau oder ein Mann sei. Liest man die Besetzungsliste im Programmheft, scheint Schönleber zu dem Schluss gekommen zu sein, dass die Figur beides umfasst, und so wird Isolier gleichzeitig als Isolière ausgewiesen. In den Regienotizen zum Programmheft vermerkt Schönleber, dass ihn die Frage auf die Idee gebracht habe, der Oper ein kurzes Vorspiel zu geben. Darin ist Isolier Isolière, eine Frau, die vergeblich die Comtesse liebt und nur in der Männerwelt eine Chance sieht, ihr Ziel zu erreichen. So legt Isolière den Kopf auf einen Tisch und träumt sich in eine Welt, in der sie zu dem jungen Mann Isolier wird. Ohne den Hinweis im Programmheft kann man dieses Detail vor Beginn der Inszenierung leicht übersehen. Zwar wundert man sich vielleicht über die üppige Haarpracht der Figur, verbindet sie aber nicht unbedingt mit der Idee, dass Isolier hier eigentlich eine Frau sein soll. Für den Ablauf der Handlung spielt dieses Detail eigentlich auch keine Rolle, da am Ende eine eventuelle Rückverwandlung ebenfalls untergeht. Schönlebers Inszenierung bietet aber auch dann beste Unterhaltung, wenn man diesen Aspekt übersieht. Als zeitliche Verortung werden die späten 60er und frühen 70er Jahre des letzten Jahrhunderts angedeutet. So sieht man die Bauernmädchen, die Antworten bei dem als Eremit verkleideten Comte Ory suchen, in bunten Flower-Power-Kostümen der Hippie-Generation (Kostüme: Olesja Maurer). Die Herren treten mit T-Shirts auf, die einen muskulösen Oberkörper imitieren, und spielen zunächst mit den Stühlen auf der Bühne eine Reise nach Jerusalem. Unter ihnen befindet sich auch der Comte Ory, der im Gegensatz zu den anderen eher unscheinbar gekleidet ist, während sein Gefährte Raimbaud mit den weiten bunten Schlaghosen optisch recht gut zu den Mädchen passt. Ory scheidet bei der Reise nach Jerusalem direkt als erster aus, weil auch er nur Augen für die Mädchen hat. Der Marsch in der Introduktion deutet an, dass die Männer sich nun auf die Kreuzzüge begeben müssen, wobei Schönleber die Disziplin in der Truppe bei diesem Marsch ironisch bricht. Die Comtesse tritt in einem weißen Kleid auf, um schweren Herzens von ihrem geliebten Bruder Abschied zu nehmen. Den Trost anbietenden Ory weist sie genauso entschieden zurück wie Isolier. Erst daraufhin überlegt sich Ory, sich als Eremit zu verkleiden. Die Chordamen stellen Bühnenelemente, die eine pittoreske Landschaft andeuten, mit einem Zelt in der Mitte auf, das an einen Wigwam erinnert. Der Comte Ory (Patrick Kabongo) nähert sich als verkleideter Eremit der Comtesse (Sofia Mchedlishvili). In weißem sackartigem Kostüm tritt nun Ory mit Rauschebart, Federn in der weißen Perücke und schwarzen Puschen auf, die ihn mit seinen übertriebenen "Peace"-Bewegungen mit den Fingern wie eine Karikatur eines Gurus erscheinen lassen. Mit herrlicher Komik setzt Patrick Kabongo in der Titelpartie die Personenregie Schönlebers als verkleideter Eremit um. Auch die kleinen Partien werden von Schönleber wirksam und mit viel Humor in Szene gesetzt. Yo Otahara gibt die Alice als sehr aufdringliches Bauernmädchen. Wie ein Groupie folgt sie dem Eremiten, auch wenn er schon gar kein Interesse mehr an ihr hat. Auch die Chordamen müssen durch die Herren des Chors mit viel körperlichem Einsatz vom Eremiten ferngehalten werden. Die Comtesse hat ihr weißes Kleid nun gegen ein schwarzes Kostüm mit einem Witwenhut eingetauscht, um ihre übertriebene Trauer hervorzuheben. Dass diese nicht ganz ernst zu nehmen ist, deutet vielleicht der lange Schlitz im Kleid an. Als der Eremit sie von ihrem Gelübde entbindet, legt sie auch sehr schnell ihren Hut und damit ihre Trauer ab. Dass sie dem Eremiten Zugang zum Schloss gewährt, wird dadurch verhindert, dass Orys Erzieher, der Gouverneur, auftaucht und seinen Schützling enttarnt. Als Pilgerinnen verkleidet feiern Comte Ory (Patrick Kabongo) und seine Gefährten (Männerchor) ausgelassen im Schloss. Der zweite Akt spielt dann im Schloss. Die Bühnenelemente sind nun umgedreht worden und zeigen hohe Bücherregale. Hier überwacht die Comtesse recht streng, dass alle Damen den Annäherungsversuchen Orys und seiner Gefährten Widerstand leisten und sich stattdessen mit angemessenen "Frauenarbeiten" wie Sticken und Lesen beschäftigen. So ganz ernst scheint es den anderen Damen damit aber nicht zu sein, da sie, immer wenn die Comtesse gerade nicht hinschaut, Zeitschriften hervorholen, die ihrer Sittsamkeit weniger dienlich sind. Da die Verkleidung von Ory und seinen Gefährten als Pilgerinnen schon allein stimmlich unglaubwürdig ist, versucht Schönleber gar nicht erst, diesen Rollentausch perfekt umzusetzen, sondern lässt Orys Gefährten mit herrlich falschen Perücken in den verrücktesten Farben auftreten. Ory selbst trägt als "Schwester Colette" immer noch die schwarzen Puschen, die er schon als Eremit verwendet hat, und macht in seinem Kleid eigentlich eine sehr gute Figur. Die blonde Perücke könnte auch theoretisch besser sitzen als bei Orys Gefährten, wenn Kabongo sie nicht herunterreißen würde, weil sie kratzt oder juckt, und er dann seine liebe Mühe hat, sie wieder richtig aufzusetzen. Die Comtesse scheint das Spiel genauestens zu durchschauen, lässt sich aber darauf ein. Isolier hat nun die rettende Idee, wie er dem Treiben Einhalt gebieten kann. Er setzt sich kurzerhand an einen Schreibtisch und schreibt einen Brief, dass die Kreuzritter am nächsten Tag siegreich zurückkehren werden. Ménage à trois: Comte Ory (Patrick Kabongo) sucht als Schwester Colette Zugang zum Schlafgemach der Comtesse (Sofia Mchedlishvili, links) (rechts: Diana Haller als Isolier). Ein szenischer Höhepunkt ist dann die erotische Ménage à trois, die sich im Anschluss zwischen der Comtesse, Isolier und Ory entfaltet. Isolier zieht einen durchlässigen weißen Vorhang vor die Mittelbühne, hinter dem er sich mit der Comtesse versteckt. Ory liebkost zunächst Isoliers Hand, die er für die der Comtesse hält. Dann begeben sich alle drei hinter den Vorhang, und es beginnt eine Art Schattenspiel, das mit farbigem Licht (Marcel Hahn) die erotische Komponente unterstreicht. Auf herrliche Art wird der Fantasie nun freien Lauf gelassen, was hinter diesem Vorhang genau passiert und wer nun eigentlich mit wem Zärtlichkeiten austauscht. Kabongo, Haller und Sofia Mchedlishvili als Comtesse setzen das mit ganzem Körpereinsatz großartig um. Doch nicht nur die szenische Umsetzung bereitet gute Unterhaltung pur. Auch musikalisch bewegt sich der Abend auf absolutem Festspiel-Niveau. Sofia Mchedlishvili, deren steile Karriere als Contessa di Folleville in den konzertanten und szenischen Aufführungen von Il viaggio a Reims 2014 in Bad Wildbad begann und die in dem gleichen Jahr mit dem Internationalen BelCanto-Preis ausgezeichnet wurde, begeistert auch als Comtesse mit stupenden Koloraturen, zumal die große Auftrittsarie "En proie à la tristesse", in der sie ihre Schwermut beklagt, mit der Arie der Contessa di Folleville in Il viaggio a Reims musikalisch nahezu identisch ist. Wie 2014 glänzt Mchedlishvili mit strahlenden Höhen und leicht fließenden Läufen. Im großen Finale des ersten Aktes lässt sie es sich auch nicht nehmen, wie schon bereits bei Il viaggio a Reims den Koloraturenlauf der Königin der Nacht aus Mozarts Zauberflöte einzubauen. Hier leistet ihr Diana Haller als Isolier mit kraftvollem Mezzosopran Paroli. Auf der Bühne inszenieren die beiden einen regelrechten Zickenkrieg, wer jetzt die besseren Koloraturen ansetzen kann. Dadurch wird fraglich, ob Isolier wirklich bei der Comtesse landen kann. Auch Patrick Kabongo punktet in der Titelpartie mit sauber angesetzten Höhen und überzeugt als verkleidete Pilgerin mit großartiger Komik. Ein weiterer musikalischer Höhepunkt ist seine Auftrittsnummer "Que les destins prospères", mit der er die Herzen der jungen Bauernmädchen höher schlagen lässt. Musikalisch hervorragend gelingt Mchedlishvili, Haller und Kabongo auch das große Terzett kurz vor Ende des zweiten Aktes. Nathanaël Tavernier entfaltet als Gouverneur mit herrlich flexiblem Bass ebenfalls ungeheure Komik, auch wenn man sich nach seinem anfänglichen Protest gegen das Verhalten seines Schützlings wundert, dass er bei der Verkleidung als Pilgerin mitmacht. Fabio Capitanucci punktet als Orys Gefährte Raimbaud mit herrlich beweglichem Buffo-Bariton. Hervorzuheben ist seine Arie im zweiten Akt "Dans ce lieu solitaire", wenn er den Weinkeller geplündert hat und nun die unterschiedlichen Sorten anpreist. Camilla Carol Farias gestaltet die Edeldame Ragonde mit warmem Mezzosopran und großem Spielwitz. Yo Otahara verfügt in der kleinen Partie des Bauernmädchens Alice über einen dunkel gefärbten, vollen Sopran. Der von Agnieszka Ignaszewska-Magiera einstudierte Chor der Szymanowski-Philharmonie Krakau begeistert durch große Spielfreude und homogenen Klang. Antonino Fogliani erweist sich am Pult des Orchesters der Szymanowski-Philharmonie Krakau als wahrer Meister des Belcanto und arbeitet mit dem Orchester die Feinheiten der Partitur mit viel Verve heraus. So gibt es für alle Beteiligten großen und verdienten Jubel.
FAZIT Die Inszenierung macht in der großartigen musikalischen Besetzung so viel Spaß, dass es überhaupt keine Rolle spielt, ob die Handlung nun glaubwürdig ist oder nicht.
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Wildbad 2024 |
ProduktionsteamMusikalische LeitungAntonino Fogliani
Musikalische Einstudierung
Regie und Bühne
Regieassistenz
Kostüme
Licht Einstudierung Chor
Orchester der Chor der
Solistinnen und SolistenLe Comte Ory
Le Gouverneur, Erzieher des Grafen
Isolière / Isolier, Page des Grafen
Raimbaud, Gefährte des Grafen
La Comtesse de Formoutier
Ragonde, Pförtnerin des Schlosses
Alice, Bauernmädchen
Kreuzritter / Ritter im Gefolge des Grafen /
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