Grüße aus der Vergangenheit
Von Thomas Molke /
Fotos: © Pádraig Grant
Georg Friedrich Händels am 10. Januar 1741 uraufgeführte Deidamia ist
seine letzte Oper, bevor er sich vollständig dem zur damaligen Zeit in London
wesentlich beliebteren Genre des Oratoriums zuwandte. Dass dem Werk kein großer
Erfolg beschieden war und es nach bloß drei Vorstellungen vom Spielplan genommen
wurde, mag zwar aus heutiger Sicht mit Blick auf die großartige musikalische
Gestaltung verwundern. Im damaligen London hatte allerdings schon seit einiger
Zeit das Interesse an der italienischen Oper nachgelassen, und satirische Werke
wie The Beggar's Opera von John Gay und Johann Christoph Pepusch liefen
der Opera seria den Rang ab. Auch die Besetzung der Partie des Achilles mit der
jungen Sopranistin Mary Edwards stieß bereits im Vorfeld auf heftige Kritik. Für
über 200 Jahre verschwand das Werk von den Spielplänen und wurde erst bei den
Händel-Festspielen in Händels Geburtsstadt Halle 1953 wieder ausgegraben. Es
folgten einige wenige weitere Produktionen und Aufnahmen. Nun hat das Wexford
Festival Opera in Kooperation mit den Internationalen Händel-Festspielen
in Göttingen das Werk erneut auf den Spielplan gestellt, wobei der künstlerische
Leiter der Händel-Festspiele, George Petrou, nicht nur die musikalische
Leitung übernimmt, sondern auch für die Inszenierung verantwortlich zeichnet.

Odysseus (Nicolò Balducci, Mitte) und Phönix (Rory
Musgrave, rechts) wollen beim König Lycomedes (Petros Magoulas, links) auf
Skyros Achilles aus seinem Versteck locken.
Das Libretto von Paolo Antonio Rolli erzählt eine Geschichte um den Trojanischen
Krieg, die sich im 17. und frühen 18. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute.
Da Achilles' Eltern geweissagt worden ist, dass ihr Sohn sterben werde, wenn er
mit den Griechen in den Krieg um Troja ziehe, haben sie ihn auf der Insel Skyros
beim König Lycomedes versteckt. Dort lebt er als Mädchen verkleidet unter den
Töchtern des Königs. Seine Tarnung gerät aber mehr schlecht als recht, da er
nicht nur größeres Interesse am Jagen als am Sticken und Nähen hat, sondern sich
auch noch in Lycomedes' älteste Tochter Deidamia verliebt, die mit ihrer
Vertrauten Nerea als einzige neben dem König seine wahre Identität kennt. Da den
Griechen prophezeit worden ist, dass der Trojanische Krieg ohne Achilles nicht
gewonnen werden könne, werden der listenreiche Odysseus und Phönix nach Skyros
geschickt, um den versteckten Helden ausfindig zu machen. Bei einer vom König
organisierten Jagd erkennen sie zunächst, dass sich hinter der als Pyrrha
ausgegebenen Königstochter kein Mädchen verbirgt. Schließlich gelingt es
Odysseus, Achilles zu enttarnen, indem er einen Überfall auf den Palast
simuliert und Achilles sofort zu den Waffen greift, um die Frauen im Palast zu
schützen. Folglich zieht er mit den Griechen in den Trojanischen Krieg, nachdem
er zuvor Deidamia geheiratet und diese Odysseus verflucht hat, was als weitere
Ursache für dessen späteren Irrfahrten gelesen werden kann.

Achilles (Bruno de Sá, links) und Deidamia
(Sophie Junker, Mitte) haben Streit miteinander (auf der rechten Seite:
Statisterie).
Das Regie-Team um George Petrou lässt sich von einer
Werbeanzeige inspirieren, die dazu einlädt, auf den Spuren des Mythos in
Griechenland zu wandeln, und legt über die eigentliche Geschichte der Oper eine
Parallelhandlung, die in der Gegenwart spielt. Darin sieht man insgesamt acht
Statistinnen und Statisten, die als Touristen auf den Spuren des antiken
Griechenland wandeln. Während diese weitere Ebene zunächst ein wenig ablenkend
wirkt, verschmelzen die Opernhandlung und die Gegenwart im weiteren Lauf der
Aufführung immer mehr und deuten interessante Parallelen an. Unterstützt wird
dieser Ansatz durch projizierte Postkarten, auf die wie bei Handys kurze
Textnachrichten geschrieben werden, die erzählen, was die Touristen als nächstes
vorhaben. Die Kostüme von Giorgina Germanou zeichnen diese beiden Ebenen
differenziert nach, indem die Figuren des Stückes in antik anmutenden Kostümen
gekleidet sind und die Touristen moderne Alltagskleidung tragen. Auch die
pittoresken Bühnenbilder, die mal ein gestrandetes Boot zeigen, mit dem Odysseus
und Phönix in Griechenland ankommen, später die Überreste von antiken Säulen,
vor denen Deidamia und Achilles posieren, werden in den projizierten
Postkartenmotiven aufgegriffen.

Achilles (Bruno de Sá, Mitte, mit Phönix (Rory
Musgrave, links), Odysseus (Nicolò Balducci, rechts) und der Statisterie) will
den Palast vor dem vermeintlichen Angriff schützen.
Dabei verlaufen die beiden Handlungsstränge zunächst parallel
und überschneiden sich nicht. Wenn Achilles die vor den Säulen aufgebauten
Staffeleien, an denen die Touristen sitzen und malen, umwirft, weil er auf
Odysseus' Werben um Deidamia eifersüchtig ist, halten die Touristen es zunächst
nur für den Wind, der über den Strand hinweggefegt ist. Überraschter wirken sie
dann schon bei der Jagdszene. Im Hintergrund ist hier eine Bude aufgebaut, wie
man sie von Jahrmärkten kennt, bei der man auf sich bewegende Gegenstände, in
diesem Fall wilde Tiere, mit einem Bogen schießen kann. Nachdem alle zunächst
daneben geschossen haben, erfolgt eine gewisse Irritation, wenn Achilles mit
drei gezielten Schüssen die Tiere allesamt umlegt. Noch intensiver wird das
Zusammenspiel in Deidamias großer Arie im zweiten Akt, in der sie fürchtet,
Achilles könne auf der Jagd seine Identität verraten. Mit einer Statistin, die
in einen langen Glitzeranzug gekleidet ist, tritt sie in zwei separate
Lichtkegel vor dem Vorhang. Während Deidamias Gesang legt die Statistin zunächst
ihre lange Perücke ab und zieht dann ihr Kleid aus, um die Vergänglichkeit der
Schönheit und des Glücks zu demonstrieren.

Deidamia (Sophie Junker, Mitte rechts) nimmt
Abschied von Achilles (Bruno de Sá, rechts daneben) (auf der linken Seite:
Phönix (Rory Musgrave) und Nerea (Sarah Gilford), in der Mitte links neben
Deidamia: Odysseus (Nicolò Balducci) und rechts: Lycomedes (Petros Magoulos) mit
der Statisterie als Soldaten).
Wie KI passend in eine derartige Geschichte eingebaut werden
kann, zeigt dann eine Projektion während Deidamias großer Flucharie im dritten
Akt. Hier wird ein Film mit den Sängerinnen und Sängern der Figuren als
Darstellerinnen und Darsteller vor pittoresken antiken Kulissen angepriesen, der
über die Irrfahrten des Odysseus unter der Regie von George Petrou demnächst in
den Kinos zu erleben sei. Bei aller Tragik gibt es der Szene doch eine
humorvolle Note. Odysseus' List wird dann in einem Museum angewendet, in dem die
Geschenke, die er zur Enttarnung des Achilles aufgebaut hat, in Vitrinen
ausgestellt sind. Gemeinsam mit den Touristen schlendern die Figuren des Stückes
durch diesen Saal, wobei das Kampfsignal eine moderne Sirene ist, die auch die
Touristen in Angst und Schrecken versetzt. Deidamia wird anschließend selbst zu
einem Ausstellungsstück und schlüpft in eine der Vitrinen. Besonders bewegend
gelingt die Umsetzung des "lieto fine", das auch in der Vorlage eigentlich nicht
als glücklich bezeichnet werden kann, da Achilles mit seinem Fortgang von der
Insel schließlich seinem sicheren Tod entgegengeht. So lässt ihn Petrou auch
nicht in den allgemeinen Jubel des Schlusschors einstimmen, sondern separiert
ihn von den übrigen Sängerinnen und Sängern vor einem Gaze-Vorhang, auf den
erschütternde Bilder von Krieg und Zerstörung projiziert werden. Achilles nimmt
diese Eindrücke erschrocken zur Kenntnis, bis er an der berüchtigten
Achilles-Ferse getroffen wird und tot zusammenbricht. Hier schließt sich ein
Kreis, weil die Oper mit diesem Bild in der Ouvertüre begonnen hat. Da sah man
bereits einen Toten in der Projektion auf der Bühne liegen, hinter dem sich
schließlich Achilles erhob, der dann von drei vermummten Gestalten in ein
Mädchen verwandelt wurde.
Nicht nur die szenische Umsetzung wird der Vorlage absolut
gerecht und stellt unter Beweis, dass das Werk es durchaus verdient hätte,
öfters auf den Spielplänen zu stehen. Auch die musikalische Seite bietet
barocken Glanz vom Feinsten. George Petrou beweist am Pult des Wexford Festival
Orchestra, dass er auch mit einem Klangkörper, der nicht auf historische
Aufführungspraxis spezialisiert ist, einen barocken Zauber im Saal entfachen
kann. Das beginnt übrigens in Wexford bereits mit der irischen Hymne, die zu
Beginn jeder Vorstellung im Opernhaus gespielt wird. Selbst hier baut er einen
neuen musikalischen Klang ein, so dass man beim ersten Ton fast nicht erkennt,
dass erst die obligatorische Hymne auf dem Programm steht und man sich beinahe
schon in der Barockoper wähnt. Auch in der eigentlichen Oper lotet er die
dramatischen Höhen und Tiefen der Handlung mit viel Fingerspitzengefühl aus und
entfacht einen regelrechten Klangzauber, der deutlich macht, dass Händels letzte
Oper musikalisch keineswegs schlechter ist als seine auch heutzutage noch
berühmteren früheren Werke. Im Gegenteil lässt sich hier eine interessante
musikalische Entwicklung entdecken, die die Experimentierfreudigkeit des
Komponisten hervorhebt.
Auch das Ensemble besteht aus ausgewählten Spitzenstars der
momentanen Barockszene. Da ist zunächst die großartige Sophie Junker in der
Titelpartie zu nennen. Mit glockenklarem Sopran lässt sie die Koloraturen
scheinbar federleicht und ohne Anstrengung nur so perlen. Dass sie auch zu einer
Furie mutieren kann, beweist sie in ihrer großen Flucharie im dritten Akt und,
wenn sie Achilles heftige Vorwürfe für sein unvorsichtiges Verhalten macht.
Bruno de Sá darf ebenfalls als Idealbesetzung für die Partie des Achilles
bezeichnet werden. Mit seinem strahlenden Sopran lässt sich in den Höhen
wirklich nicht erkennen, dass es sich bei dem Gesang um eine Männerstimme
handelt, so dass seine Verkleidung als Pyrrha auf den ersten Blick glaubhaft
wirkt. Dabei verleiht er der Figur aber mit teils machohafter Mimik und Gestik
an anderen Stellen eine gewisse Komik, die deutlich macht, wieso die Verkleidung
am Ende doch auffallen muss, auch wenn in der Inszenierung Phönix unter
Achilles' Gewand schlüpfen muss, um zu erkennen, dass Achilles kein Mädchen ist.
Nicolò Balducci legt die Partie des Odysseus mit beweglichem Countertenor an,
der in den Höhen über eine große Strahlkraft verfügt, dabei aber dennoch
virilere Züge hat, als das bei de Sás Stimme der Fall ist. So bildet er
stimmlich einen wunderbaren Kontrast zu Achilles. Sarah Richford verfügt als
Deidamias Vertraute Nerea über einen weichen Sopran, der im Zusammenspiel mit
Rory Musgrave als Phönix aber auch durchaus härtere Töne anschlagen kann. Mit
großer Komik gestaltet sie die Arie im dritten Akt, wenn sie einen Koffer einer
Touristin inspiziert und dabei auf für sie völlig unbekannte Utensilien trifft.
Rory Musgrave und Petros Magoulas runden als Phönix und
Lycomedes mit profundem Bariton bzw. Bass die Vorstellung ab, so dass es für
alle Beteiligten großen Applaus gibt und man hofft, diese Koproduktion in
Göttingen möglichst in der gleichen Besetzung im nächsten Jahr wieder erleben zu
dürfen.
FAZIT
George Petrou arbeitet mit einer cleveren Inszenierung und einem großartigen
Ensemble heraus, welche musikalischen Perlen in Händels letzter Oper schlummern.
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