Reise in den Wahnsinn
Von Thomas Molke
/ Fotos: © Pádraig Grant
Mit Beginn ihrer künstlerischen Leitung des Wexford Festival Opera 2020
hat Rosetta Cucchi die "Wexford Factory" gegründet. Über einen Zeitraum von zwei
Jahren können hier ausgewählte überwiegend irische Künstlerinnen und Künstler in
Workshops vor dem Festival Meisterklassen genießen, zu denen namhafte
Lehrerinnen und Lehrer eingeladen werden, die bereits auf eine große
internationale Karriere zurückblicken. Daneben sind die jungen Talente in den
großen Opernproduktionen, den Pocket Operas, der Community Opera und in den
Pop-Up Events zu erleben. Der Höhepunkt ist in jedem Jahr allerdings die
Erarbeitung einer eigenen Opernaufführung auf der Hauptbühne im National Opera
House. In diesem Jahr ist die Wahl auf ein Werk gefallen, das sich mittlerweile
zu einem regelrechten Klassiker für junge Ensembles und Workshops entwickelt
hat: Rossinis Il viaggio a Reims. Diese Cantata scenica steht nicht nur
seit 2001 jedes Jahr an zwei Vormittagen beim Rossini Opera Festival in
Pesaro in einer Inszenierung von Emilio Sagi auf dem Programm und wird
alljährlich beim Festival Giovane mit jungen Sängerinnen und Sängern der
Accademia Rossiniana neu erarbeitet. Auch an zahlreichen Opernhäusern erfreut
sich das Werk seit mehreren Jahren einer wachsenden Beliebtheit. Dass Cucchi in
Pesaro beheimatet und dem dortigen Festival eng verbunden ist, dürfte ein
weiterer Grund dafür sein, dass sie das Stück nun auch mit der "Wexford Factory" auf
den Spielplan gestellt hat, zumal die Uraufführung dieses Werkes in diesem Jahr
ihr 200-jähriges Jubiläum gefeiert hat.
Rossini komponierte das Stück als neuer künstlerischer Leiter des Théâtre Italien in
Paris anlässlich der Krönung des französischen Königs Karl X. 1825. Erzählt wird
die Geschichte einer illustren Reisegruppe, die im Kurhotel "Goldene Lilie" in Plombières abgestiegen ist, um von dort aus zu den Krönungsfeierlichkeiten Karls
X. nach Reims zu reisen. Allerdings kommt man in Reims nicht an, da aufgrund der
großen Nachfrage kein Transportmittel zur Verfügung steht. So beschließt die
Gruppe, im Hotel zu bleiben und dort ihr eigenes Fest zu veranstalten. Für eine
Opernhandlung im eigentlichen Sinne ist das natürlich ziemlich dünn. Aber es ging
Rossini bei diesem Werk vielmehr darum, den Gesangs-Stars seiner Zeit ein Podium zu
bieten, stimmlich zu glänzen, und dem Publikum "Belcanto at its best" zu
präsentieren.
Folglich zog er das Werk auch nach nur vier Vorstellungen vom Spielplan zurück
und verwendete einen Großteil der Musik in seiner drei Jahre später
uraufgeführten komischen Oper Le Comte Ory, wobei der Text dafür nicht
nur ins Französische übersetzt, sondern auch kongenial der völlig neuen Handlung
angepasst wurde.

Die Contessa di Folleville (Jane Burnell, Mitte)
beklagt den Verlust ihrer Garderobe (von links: Meilir Jones als Antonio, Joshua
McCullough als Don Prudenzio, Ihor Mostovoi als Don Profondo, Gabe Clarke als
Cavalier Belfiore, Seamus Brady als Barone di Trombonok, Aqshin Khudaverdiyev
als Lord Sidney, Se´n Tester als Conte di Libenskof, Tong Guo als Don
Alvaro und Forooz Razavi als Nurse).
Cucchi, die für die Inszenierung verantwortlich zeichnet,
verlegt die Geschichte in eine Nervenheilanstalt, in der die Reisenden als
Insassen leben. Ob Madama Cortese hier wirklich die Leiterin ist oder mit ihrem
nervösen Kopfzucken mittlerweile selbst zu den Insassen gehört, ist fraglich.
Jedenfalls unterscheidet sie sich in ihrem schwarzen Kostüm von den übrigen
Angestellten, die alle in weißen Pflegeanzügen wie in einer Nervenheilanstalt
auftreten. Die Patienten tragen gestreifte Pyjamas, während die
Patientinnen entsprechend ihrer Rollen etwas exaltierter in den Kostümen
ausgestattet sind, was bei den Damen die Symptome ihrer Krankheiten deutlicher
hervorhebt. So läuft die Marchesa Melibea die ganze Zeit mit einem imaginären Hund
an der Leine herum, der von ihr und den anderen bisweilen auch zärtlich liebkost
wird. Nur Madama Cortese hat eine Abneigung gegen das Tier und möchte ihm nicht
zu nahekommen. Die Contessa di Folleville muss gewissermaßen in Watte gepackt
werden und bildet sich ein, nicht laufen zu können. So lässt sie sich ständig
vom Cavalier Belfiore über die Bühne tragen. Belfiore ist ein
selbstverliebter Narzisst, der sich ständig im Spiegel betrachtet, während Conte
di Libenskof und der Spanier Don Alvaro Probleme haben, ihre Aggressionen in den
Griff zu bekommen. Barone von Trombonok unterliegt einem starken Kontrollzwang
und läuft mit einem Dirigierstab über die Bühne, und Don Profondos
Vorliebe zu alten Antiquitäten geht ebenfalls stark über das normale Maß
hinaus.

Vergebliches Warten darauf, dass die Reise
endlich losgeht: von links: Lord Sidney (Aqshin Khudaverdiyev), Contessa di
Folleville (Jane Burnell), Cavalier Belfiore (Gabe Clarke), Don Profondo (Ihor
Mostovoi) und Barone di Trombonok (Seamus Brady)
Doch auch die Kompetenzen des Personals dürfen in dieser
Anstalt in Zweifel gezogen werden. So möchte man sich dem nahezu blinden Arzt
Don Prudenzio nicht wirklich anvertrauen, da er zunächst recht willkürlich die
Medikation zusammenstellt und anschließend den Rahmen des Bettes untersucht, in
dem die Contessa ohnmächtig geworden ist, um festzustellen, dass ihr Pulsschlag
ausgesetzt hat und sie wahrscheinlich tot ist. Außerdem scheint sich das
Personal aus den Macken der Insassen einen Spaß zu machen und sie somit
weiter zu fördern. Auf diese Weise wird motiviert, dass plötzlich ein riesiger Hut
auftaucht, der angeblich aus der verunglückten Kutsche der Contessa als einziges
Kleidungsstück ihrer erwarteten Garderobe gerettet worden ist. Bei Corinnas
engelgleichem Gesang, der die aufgeheizten Gemüter beruhigen soll, wird die
Harfenistin, die mit ihrem Instrument auf die Bühne geschoben wird, Teil der
Inszenierung. Don Profondo lässt dazu mit einer riesigen Schlinge
große Seifenblasen aufsteigen, die die friedliche Atmosphäre in Kitsch
übersteigern. Am skurrilsten gelingt die Versöhnungsszene zwischen der Marchesa Melibea und Conte di Libenskof, wenn das Personal mit einem Ventilator und in
die Luft geworfenem Schnee eine Art Sturm über den beiden erzeugt. Am Ende
erscheint bei Corinnas Schlussgesang nicht der gepriesene König
sondern ein neuer Oberarzt, während beim anschließenden Jubel die Neurosen
der Gäste umso heftiger in Erscheinung treten. Vielleicht handelt es sich dabei um die Einstellung, dass sich vieles im Leben nur im Wahnsinn ertragen
lässt.
Musikalisch ist als kleines Manko anzumerken, dass man im
Gegensatz zu Pesaro nicht über ein komplettes Orchester verfügt, um die
Produktion zu begleiten sondern nur ein relativ kleines Ensemble. Manuel Hartinger leitet das Wexford Festival Orchestra
Ensemble zwar mit großer Präzision und schafft auch in den schnellen
Parlando-Passagen eine großartige Abstimmung mit den Solistinnen und Solisten
auf der Bühne, lässt aber mangels Masse den erforderlichen großen Rossini-Klang
vermissen. Vielleicht hat man dieses Problem aber auch nur, wenn man die
Produktion bereits häufiger mit vollem Orchester genießen durfte. Die
Regie-Einfälle, die Cucchi für die einzelnen Musikerinnen und Musiker hat,
sprühen jedenfalls vor Komik. So hat nicht nur die Harfenistin zwei große
Auftritte auf der Bühne. Auch der Spieler der Querflöte wird in der großen Arie
des Lord Sidney zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Inszenierung und
bandelt neben hervorragendem Flötenspiel dabei noch mit Madama Cortese an.
Auch die jungen Sängerinnen und Sänger begeistern nicht nur durch große
Spielfreude, sondern
überzeugen auch stimmlich. Forooz Razavi glänzt als Madama
Cortese mit klar ausgesungenen Höhen und meistert auch die Parlando-Stellen in
ihrer Auftrittsnummer souverän. Jane Burnell verfügt als Contessa di Folleville
über einen strahlenden Koloratursopran und spielt die Exaltiertheit der
französischen Adeligen mit großer Komik aus. Valeria Gorbunova stattet die
Marchesa Melibea mit einem satten Mezzosopran aus und sorgt mit ihrem imaginären
Hund ebenfalls für zahlreiche komische Momente. Dabei steht sie zwischen ihrem eifersüchtigem Liebhaber Conte di Libenskof
(Seán Tester
mit kraftvollem Tenor) und
dem feurigen Spanier Don Alvaro, der von David Kennedy mit virilem Bariton
interpretiert wird. Sarah Shine gestaltet die liebliche Partie der Corinna mit
weichen Höhen als vermeintliche Esoterikerin, punktet aber auch im großen Duett mit Yu Shao als Cavalier
Belfiore (mit höhensicherem Tenor) zunächst auf einer Schaukel, die aus dem Schnürboden herabgelassen
wird, und später auf einer Wippe mit großem Spielwitz. Aqshin Khudaverdiyev
legt den Lord Sidney mit profundem Bass an. Ihor Mostovoi präsentiert als Don
Profondo die großartige Arie "Io! Medaglie incomparabili"
in
wunderbarem Parlando-Ton, wobei die jeweils persiflierten Figuren im Hintergrund
von den Angestellten auf einem Tisch über die Bühne gefahren werden. So gibt es
für alle Beteiligten am Ende verdienten und großen Applaus für einen absolut
kurzweiligen und humorvollen Abend.
FAZIT
Cucchis Inszenierung zeigt, dass Rossinis Meisterwerk auch für junge Sängerinnen
und Sänger absolut geeignet ist. Mit voll besetztem Orchester würde sich die
Produktion auch als Hauptoper des Festivals eignen.
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