Die Karten lügen nicht
Von Thomas Molke
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Fotos: © Pádraig Grant
Die Geschichte der Carmen aus Prosper Mérimées Novelle hat
sicherlich nicht zuletzt durch Georges Bizets großartiger Vertonung des Stoffes
ihren Platz bei den "Mythen" für eine "Femme fatale" gefunden. So eignet sich
das Werk wunderbar für die diesjährigen "Pocket Operas". Da eine Aufführung
der kompletten Oper für eine rund 90-minütige Produktion allerdings viel zu lang
wäre, müsste man einige Kürzungen vornehmen. Oder man
verwendet einfach eine Fassung, die Peter Brook 1981 mit dem Drehbuchautor
Jean-Claude Carrière und dem Komponisten Marius Constant für die experimentelle
Theatergruppe "Centre International de Recherche Théâtrale" entwickelt
und im Théâtre des
Bouffes du Nord in Paris zur Aufführung gebracht hat. Unter dem Titel La
Tragédie de Carmen wird darin die Handlung der Oper unter
Verwendung von Bizets Musik und kleinere Ergänzungen von Constant auf rund 80 Minuten ohne Pause für ein
Kammerorchester verdichtet. In Wexford reduziert man diese Fassung weiter und
spielt sie nur mit Klavierbegleitung.

Sarah Richmond als Carmen
Der Chor und zahlreiche kleinere Rollen wie die Schmuggler und
Carmens Freundinnen Mercédès und Frasquita werden gestrichen. Stattdessen
konzentriert man sich auf die vier Hauptfiguren Carmen, Don José, Micaela und
Escamillo und arbeitet mit einer teilweisen Umstellung der musikalischen Nummern
diese Figuren wie unter einem Brennglas noch differenzierter heraus, als das die
eigentliche Oper tut. Die Musik ist
ebenfalls nur diesen Partien vorbehalten. Weitere Nebencharaktere wie Zuniga und Lillas Pastia treten nur als Sprechrollen auf. Wie in Bizets
ursprünglicher Fassung der Oper verwendet Brook nämlich ebenfalls Dialoge. Mit
Carmens Ehemann Garcia wird dabei eine weitere Figur eingeführt, die nur in der
Novelle von Prosper Mérimée vorkommt. Während auf Französisch ohne Übertitelung
gesungen wird, weil man wahrscheinlich davon ausgeht, dass die einzelnen
Gesangsnummern bekannt genug sind, werden die gesprochenen Texte in englischer
Sprache präsentiert. Das vermeintliche "spanische Lokalkolorit" geht durch das
fehlende Orchester in dieser Fassung natürlich verloren, aber darum ging es
Brook bei dieser Version auch nicht.

Micaela (Roisín Walsh) will Don José (Dafydd
Allen) für sich behalten.
Ins Zentrum rückt er die Kartenszene, deren Motiv
die Oper eröffnet und im weiteren Verlauf auch immer wieder aufgegriffen wird.
Zunächst sieht man Carmen mit einem Umhang bedeckt auf der Bühne sitzen. Vorbeikommenden Passanten
bietet sie an, ihnen aus den Karten die Zukunft zu lesen.
So wird auch Micaela direkt zu Beginn auf sie aufmerksam und zeigt sich nicht uninteressiert. Das Duett zwischen Micaela und Don José, das als erste
Nummer die Produktion eröffnet, wird dann direkt von der Kartenlegerin
Carmen gestört. Hier stimmt sie die Verführungsmelodie an, mit der sie Don Josés
Interesse
sehr zum Missbehagen von Micaela auf sich lenkt. Doch Micaela ist hier kein
reiner, hilfloser Engel, sondern bietet der vermeintlichen Kontrahentin direkt
Paroli. So wird die Auseinandersetzung, die Carmen eigentlich mit einer weiteren
Arbeiterin in der Zigarettenfabrik hat, zu einem Zweikampf mit Micaela, bei dem Carmen ihre Gegnerin mit dem Messer verletzt und dafür
schließlich in Haft genommen werden soll. Ihre folgende Flucht folgt dann
der bekannten Opernhandlung
relativ nah.
Direkt begibt sie sich zu ihrem Freund Lillas Pastia, der eine
Schenke leitet, in der die beiden den einen oder anderen Gast ausnehmen. Das
bekommt zunächst Zuniga zu spüren, den Carmen beim innigen Tanz bestiehlt, bevor
sie mit ihm in der Schenke verschwindet. Don Josés rasende Eifersucht wird
direkt von Anfang an noch heftiger als in der Oper gezeichnet. So verletzt er
Zuniga im Zweikampf nicht nur, sondern tötet ihn. Dass er dann den
folgenden Flirt zwischen Carmen und dem Torero Escamillo nicht verhindern
kann, liegt vor allem daran, dass er zunächst mit Lillas Pastia die Leiche
beseitigen muss. Auch legt die Inszenierung nahe, dass er im weiteren Verlauf
des Stückes Carmens Ehemann Garcia tötet, der plötzlich auftaucht und seine
Ansprüche auf Carmen geltend machen will. Nachdem Don José ihn beim Messerkampf
zunächst verletzt und entwaffnet hat, jagt er ihn von der Bühne, und man kann
vermuten, dass im Off nun ein weiterer Mord geschieht. Im Gegensatz zu Bizet und Mérimée
stirbt in dieser Fassung auch Escamillo im Off und fällt in der Arena einem
Stier zum Opfer. Desillusioniert kehrt
Carmen mit seinem roten Tuch auf die Bühne zurück und hat scheinbar ihre
Lebenskraft verloren. Nach einer heftigen Auseinandersetzung mit Don José
schreitet dieser mit dem Messer auf sie zu. Die letzten Töne der Musik nehmen die Habanera
wieder auf, wobei das Klavierspiel hier fast wie der Herzschlag Carmens klingt.
Wenn das Licht verlischt und die Musik aussetzt, vermutet man, dass Don José
jetzt auch Carmen erstochen hat, was auf der Bühne allerdings nicht gezeigt wird.
Die musikalische Reduktion auf ein Klavier funktioniert im
Jerome Hynes Theatre sehr gut, was vor allem der großartigen Interpretation von
Rebecca Warren zu verdanken ist. Nur an einer Stelle will man wohl auf ein
größeres Orchester nicht verzichten und spielt kurz vor Ende des Stückes einen
Teil der Ouvertüre vom Band ein, wobei mit dem Einsetzen des Schicksalsmotivs
der Übergang erneut zur Klavierbegleitung erfolgt und die Kartenszene wieder
aufgegriffen wird, in der Carmen überall nur noch den Tod sieht. Sarah Richmond
stellt in ihrem feuerroten langen Rock und schwarzem Oberteil nicht nur optisch
eine kongeniale Carmen dar. Auch ihre Darstellung der verführerischen Frau ist
absolut großartig und glaubwürdig. Dazu verfügt sie über einen satten
Mezzosopran, der eine laszive Färbung aufweist und absolut verführerisch klingt.
Roisín Cooper stellt als Micaela mit klarem Sopran stimmlich einen enormen
Kontrast zu Carmen dar, auch wenn sie darstellerisch und musikalisch hier viel
mehr Ecken und Kanten hat, als man das aus Bizets Oper kennt. Philip Kalmanovitch tritt als Escamillo wie ein Cowboy mit großem Hut auf, den man eher
bei einem Rodeo als bei einem Stierkampf verorten würde. Die Partie gestaltet er
mit kraftvollem Bariton, wobei er in den Höhen ein wenig zu kämpfen hat. Dafydd
Allen verfügt als Don José über einen recht harten Tenor, was dem großen
Aggressionspotenzial entspricht, das in der Figur steckt.
FAZIT
Musikalisch kommt man auch bei dieser Kurzfassung voll auf seine Kosten und hat
das Gefühl, nicht viel zu vermissen, zumal die Figuren noch prägnanter
gezeichnet werden als in Bizets "Original".
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Produktionsteam
Musikalische Leitung und Klavier
*Rebecca Warren /
Nate Ben-HorinInszenierung
Tom Deazley Bühne und Kostüme
Lisa Krügel Licht
Maksym Diedov
Solistinnen und Solisten
Don José
Dafydd Allen
Carmen
Sarah Richmond
Escamillo
Philip Kalmanovitch
Micaela
Roisín Walsh
Zuniga
Conor Cooper Lillas Pastia
Vladimir Sima Garcia
Jonah Halton
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