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(K)ein Märchen vom Erwachsenwerden
Von Stefan Schmöe / Fotos von Bernhard Weis
So, jetzt hat Düsseldorf also einen neuen Nussknacker. Unter der Ägide von Martin Schläpfer gab es so etwas (also familientaugliche Handlungsballette) nicht; dabei ist das Bedürfnis offensichtlich vorhanden: Das Haus ist voll, im Publikum sind viele Kinder (empfohlen wird die Produktion ab dem zarten Alter von 6 Jahren), der Applaus in der hier besprochenen Vorstellung ist wenn auch nicht enthusiastisch, so doch herzlich. Ein Publikumserfolg, das ist ja nicht das Schlechteste für ein Theater. Seltsames Weihnachtsgeschenk: Drosselmeier hat Clara einen Nussknacker mitgebracht
Choreographiert hat Demis Volpi, der neue Ballettchef (so neu ist er inzwischen nicht mehr, aber pandemiebedingt kann er seine Programmplanung erst jetzt umsetzen), die Arbeit stammt aus dem Jahr 2016 und wurde am Ballett Vlaanderen in Antwerpen gespielt und für Düsseldorf und Duisburg neuinterpretiert "in Zusammenarbeit mit jungen Choreograph*innen". Dazu später mehr, erst einmal geht es ums Gesamtkonzept. Volpi bezieht sich auf die literarische Vorlage, E. T. A. Hoffmanns Erzählung Nussknacker und Mäusekönig, erschienen 1816, und liest eine Geschichte vom Erwachsenwerden heraus. Das Mädchen Clara erhält als Weihnachtsgeschenk von ihrem Paten Drosselmeier einen Nussknacker, zunächst eine Puppe mit rätselhafter Anziehungskraft, die sie zum Leben erweckt und aus der sie wenn auch nicht unbedingt einen Prinzen, so doch einen attraktiven jungen Mann hervorholt, der ihre erste Liebe wird. Eine Coming-of-age-Story also. Ein Alptraum: Die Mutter (hier: Doris Becker) wird zur aggressiven Maus
Kein ganz schlechter Gedanke, der etwaige adoleszente Besucher allerdings eher interessieren könnte als die ganz jungen - wenn er denn wirkungsvoll inszeniert wäre. Tatsächlich zeigt Volpi ganz hübsch die allmähliche Verwandlung des Nussknackers von der statischen Holzfigur zum lebendigen Menschen. Orazio di Bella tanzt die verschiedenen Stufen souverän; am Ende fehlt es ihm an Charisma, um die Wandlung der Figur zum verführerischen Mann glaubwürdig zu machen, da bleibt auch die Choreographie allzu pauschal. Clara zeigt kaum Verwandlung, wirkt von Anfang bis Ende mit scheußlicher rothaariger Perücke (Ausstattung: Katharina Schlipf) selbst arg puppenhaft, und wenn doch die Entwicklung vom Kind zur jungen Frau thematisiert werden soll, müsste irgendeine äußerliche Veränderung sichtbar sein, wenigstens ein kleines Moment auch an erotischem Verlangen in der an sich ja durchaus erotischen Gattung Ballett. Volpis Fassung bleibt unbedingt jugendfrei. Emilia Peredo Aguirre zeigt als Clara wenig Ausstrahlung, wirkt weder kindlich noch adoleszent. Vielleicht ist es die Choreographie, die sie einengt wie ein Korsett. Es müsste im pas de deux (den sie mit dem Nussknacker tanzt) doch ein Moment der Befreiung und des Aufbruchs spürbar sein - aber es bleibt beim Abspulen eines tänzerischen Programms, schön anzusehen, aber kaum berührend. Drosselmeier begleitet Clara auf dem Weg zum Erwachsenwerden
Die spannendste Figur ist da der Pate Drosselmeier, ein allgegenwärtiger Lenker des Geschehens (warum eigentlich? Man wird doch von allein erwachsen.) Mit wehendem Mantel ist er der Außenseiter im bürgerlichen Großfamilienambiente. Vermutlich könnte Dukin Seo die Figur noch um einiges Dämonischer anlegen; hier gibt`s die Version, die auch den Jüngsten im Publikum bestenfalls einen ganz kleinen Schrecken, aber ja nicht mehr, einjagen dürfte. So wird dieser Drosselmeier interessant, aber nicht faszinierend. Die Grenzüberschreitungen, die es im Werk E. T. A. Hoffmann allenthalben gibt, die umgeht Volpi und bleibt in einer Sicherheitszone, die zwar einen Handlungsfaden gewährleistet, in der Ausdeutung aber merkwürdigt verzagt auftritt. Claras Familie (Feline van Dijken und Nelson López Garlo als Eltern)? Bürgerliche Langweiler, nicht der Rede wert. Bruder Fritz (Evan L'Hirondelle)? Ein Lausbub aus dem Klischeebuch. Zwischendurch gibt es jede Menge Tanten, die hinter Türen lauern, ein Angsttraum beim Erwachsenwerden - wenn es denn an anderer Stelle stärker motiviert würde. Irgendwie geht die Deutungsidee "Clara wird erwachsen" schon auf, aber sie gewinnt zu wenig Bedeutung, und von der Lebenswirklichkeit einer Heranwachsenden bleibt Volpi unendlich weit entfernt. Noch ein Alptraum: Die Tante wird zur Torte; zwei Cup-Cakes schauen zu. Im Bild: Maria Luisa Castillo Yoshida (Tante Zuckermund), Paula Alves (Clara), Clara Nougué-Cazenave, Marjolaine Laurendeau (Cupcakes),
Und die jungen Choreograph*innen? Am stringentesten die Idee von Bahar Gökten und Yeliz Pazar (das Duo arbeitet u.a. am benachbarten tanzhaus nrw), in den Mäusen im ersten Akt Claras Familie widerzuspiegeln, gegen die sie kämpfen muss. Gelungen ist die allmähliche Zuspitzung, auch wenn auch diese Szene sicher noch bedrohlicher hätte gezeigt werden können. Dann sind es die Divertissements, die Volpi abgegeben hat (wäre man boshaft, könnte man sagen: Um nicht selbst daran zu scheitern). Neshama Nashman möchte zum spanischen Tanz einen Mutter-Tochter-Konflikt zeigen, der zum Wendepunkt in Claras Entwicklung wird - das sieht man auf der Bühne so nicht, da bleibt es eine Bagatelle, weil die Musik nicht passt und weil an dieser Stelle dramaturgisch der Konflikt keine Glaubwürdigkeit gewinnt, denn die Gesamtkonzeption hat Clara und den Nussknacker zwischenzeitlich aus den Augen verloren. Wun Sze Chan, in Hong Kong geboren und seit 2011 Mitglied der Compagnie des Ballett am Rhein, möchte den chinesischen Tanz nicht mit fernöstlichen Klischees bebildern, aber der Versuch, die Kinderwelt Claras noch einmal vor Augen zu führen, scheitert ganz ähnlich wie bei Nasheema Nashman; auch hier passen Musik und Zeitpunkt nicht, auch erschließt sich die Notwendigkeit für eine solche Szene überhaupt nicht. Die von Michael Foster (seit 2013 in der Compagnie) choreographierten tanzende Cupcakes zum Tanz der Rohrflöten und zu Mutter Cicogne und die Polichinelles greifen dagegen die Idee des Divertissements auf, sind für sich ein ganz hübsches, allerdings arg neckisch geratenes Intermezzo mit überdimensionaler Torte, die wieder mit einer Tante identifiziert wird. Das soll "einen letzten Durchbruch der Kindlichkeit" darstellen. Ja, wenn man das so erkennen würde, wäre das ja ganz klug gedacht, aber dann müsste Clara im Zentrum der Szene stehen - aber man sieht nicht sie, sondern das besagte Divertissement. Der Kanadier James Nix, seit Beginn dieser Spielzeit Tänzer am Haus, hat den arabischen Tanz als Spiel mit leuchtenden und verlöschenden Objekten inszeniert und bricht damit aus dem Szenario aus. Unter den anwesenden Kindern wird das als "cool" gewertet. Pas de deux: Der lebendig gewordene Nussknacker und Clara (hier im Bild: Gustavo Carvalho und Paula Alves)
Unterhaltsam ist's allemal, wobei es dem zweiten Teil an Stringenz fehlt und der Spannungsbogen zwischendurch verloren geht. Volpis Versuch, das Stück klassisch und doch irgendwie modern zu zeigen, führt allerdings auch auf den wenig aufregenden Mittelweg. Eine große, bühnenfüllende Nummer sucht man vergebens (in der Compagnie tanzen je 23 Frauen Tänzerinnen und Tänzer, da müsste doch etwas möglich sein), die Ensembles wirken kleinformatig, und die große tänzerische Brillanz bleibt aus. Und auch musikalisch macht die Aufführung nur bedingt glücklich: Unter der Leitung von Marie Jacquot klingt die Ouvertüre kratzig, als sei sie von Hindemith komponiert; regelmäßig werden Übergänge wacklig dahingespielt, als käme es nicht darauf an; Tschaikowskys genialer und raffinierter Musik fehlt es entschieden an Esprit und an gestalterischem Willen; und wenn Marie Jacquot die Nebenstimmen plastisch hervorheben möchte, mag das ja gut gemeint sein, aber immer wieder kommt die Musik aus der Balance - ein Walzer auf der Bühne braucht eben zuallererst die mitreißende Melodie. Nach besonderer Freude über den langersehnten Nussknacker klingt das alles nicht.
Demis Volpis erstes großes Handlungsballett mit Orchester am Rhein ist ein passables Familienstück geworden. Weitergehende Erwartungen kann die Produktion nicht einlösen, dazu bleibt die Choreographie allzu zaghaft und vorsichtig. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Choreographie und Inszenierung
Choreographie einzelner Teile
Ausstattung
Licht
Einstudierung
Kinderchor
Dramaturgie
Solisten* Besetzung der rezensierten Aufführung
Clara
Drosselmeier
Der Nussknacker
Mutter
Vater
Fritz, Claras Bruder
Tante Wirbelwind
Tante Zuckermund
Ihr Mann
Großmutter
Großvater
Die Haushilfe
Schneeflockenkönigin
Ihre Begleiter
Kind
Zwillinge
Schneeflocken
Blumen
Lichterkette
Cup Cakes
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