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Die Sehnsucht der Schildkröte nach Pehuajo
Von Stefan Schmöe / Fotos von Ingo Schäfer
"Bitte mehr Geschichten", das war sicher ein Auftrag an Düsseldorfs gar nicht mehr so neuen, aber durch die Pandemie gelähmten Ballettchef Demis Volpi. Dessen Vorgänger Martin Schläpfer hatte um das Handlungsballett einen ziemlich weiten Bogen gemacht, auch wenn er sich am Ende seiner Amtszeit dem Schwanensee zugewendet hatte. Bei Volpi soll das Genre einen größeren Stellenwert bekommen, der Nussknacker wird bereits geprobt. Für den Einstand hatte der 1985 in Buenos Aires geborene Volpi ein Schauspiel seines Landsmanns Julio Cortázar (1914 - 1984), ebenfalls in der argentinischen Hauptstadt groß geworden, ausgewählt: Nada a Pehuajo (etwa Nichts nach Pehuajo), ein Einakter, dessen etwas rätselhafter Titel auf die Kleinstadt Pehuajo im Ballungsraum von Buenos Aires verweist, eine Art Nicht-Ort, Metropole und Provinz zugleich. Cortázar, ein Hauptvertreter der "phantastischen Literatur", verarbeitet darin auf surreale Weise seine Erfahrungen mit der Militärdiktatur in Argentinien. Der Mann in Weiß (Orazio Di bella)
In gewisser Hinsicht ist die Entscheidung für diese Vorlage ein Kompromiss: Eine durchgehende Geschichte, wie sie das konventionelle Handlungsballett fordert, gibt es nämlich gar nicht, sondern eine Fülle von absurden Situationen, die sich natürlich hübsch anekdotenhaft choreographieren lassen, was Volpi dann auch sehr gut macht. In einem gesichtslosen Restaurant - Heike Scheele hat das mit hoher Holzvertäfelung schräg auf die Bühne gestellt; die magische Wirkung wie Gralf Edzard Habbens in der Anlage ähnlichem Raum zu Pina Bauschs Tanzabend Bandoneon von 1980 entwickelt das nicht (hier gibt es Bilder davon), ist funktionaler gedacht und betont stärker die Auftritte als die Verlorenheit der Menschen. Es gibt offenbar eine Poststelle (das entnimmt man wie manches andere dem Programmheft, aus dem Geschehen heraus wird nicht alles klar, was aber nicht weiter schlimm ist), an der später jemand Unmengen von Koffern auf ein Laufband stellt. Die bunt gemischte Musikauswahl entspricht der Vielfalt der Charaktere auf der Bühne und umgibt diese mit einer musikalischen Aura. Der Angestellte (Michael Foster), der Kunde (Dukin Seo) und die amerikanische Touristin (Simone Messmer)
Ein Mann, ganz in Weiß gekleidet, sitzt an einem Tisch, zurückgelehnt auf seinem Stuhl, die weiße Melone über das Gesicht gelegt. Er spielt mit dieser Kopfbedeckung, später auch mit seinem Stuhl, als wolle er sich in diesem Raum verankern. Alles, was auf dem Tisch steht, ist weiß, und er verschiebt die Gegenstände, als spiele er Schach. Dieses Motiv hat dem Abend den Titel Geschlossene Spiele gegeben, denn er scheint auch mit den Menschen zu spielen, kann die Zeit einfrieren lassen. Vielleicht ist dieser (natürlich weißhaarige), nicht mehr junge, gleichwohl keineswegs alte Mann ein Symbol für Gott. Orazio Di Bella tanzt mit großer Selbstverständlichkeit in den teils absurden Bewegungsfolgen und distanzvoller Würde. Da sind Tommaso Calcia und Edvin Somai als ganz wunderbar slapstickhafte und doch elegante Kellner mit Salvador-Dali-Schnurrbärten. Ein Gast (Eric White tanzt ihn grandios mit einer Mischung aus affektierter Hysterie und plötzlicher Spannungslosigkeit) bestellt ein lebendiges Brathähnchen (Miquel Martinez Pedro gibt selbiges mit komischer Verzweiflung und einem geköpften und gerupften Huhn auf dem Kopf). Eine amerikanische Touristin verirrt sich in den Saal (Simone Messmer breitet genüsslich allerlei Yankee-Klischees aus). Ein junges Pärchen (Emilia Peredo Aguirre und James Nix bleiben mit demonstrativer Jugendlichkeit ein wenig pauschal) wirbelt herum. Die Tänzer*innen des Ballett am Rhein gestalten hier durchweg schöne Kabinettstückchen, präzise und unterhaltsame Charakterstudien. Der Richter (Niklas Jendrics)
Aus dem Radio an der Bar erfährt man von einem sehr umstrittenen Todesurteil in einem politischen Prozess. Der Richter, der das Urteil gesprochen hat, betritt prompt den Raum - musikalisch begleitet von Pauken (aus Elliot Carters Eight pieces for four timpani, düster-gewichtig gespielt von Kevin Anderwaldt hinter der Bühne). Mit der Waage, die er bei sich trägt, eigentlich doch das Symbol der Justitia, wiegt er Möhren ab. Mit schwarzer Robe ist er das Gegenstück zum Man in Weiß und wird schnell zur Hauptperson. Niklas Jendrics verleiht ihm mit abgehackten, schlaksigen, auch verzweifelten Bewegungen eine Mischung aus Dämonie und Angst. In seinem Gefolge gibt es eine alte Dame in Grün, der Mantel wie ein Schildkrötenpanzer und die Handtasche offenbar aus Schlangenhaut. Rubén Cabaleiro Campo gibt ihr in einem eindrucksvollen Solo zu dem beziehungsreichen (Kinderlied (Manuelita la tortuga) der argentinischen Sängerin Maria Elena Walsh die Würde einer vergangenen, aber forthallenden Ära, und das ist wohl eine Schlüsselstelle des Abends: Die Schildkröte Manuelita aus eben dem Städtchen Pehuajo (das dem Stück von Cortázar den Namen gab) macht sich im Lied auf nach Paris (wie einst Cortázar), lässt sich dort stylen nach der Pariser Mode und kehrt auf langem Weg zurück, wobei Frisur und Panzer auf der Reise längst wieder die alte Gestalt annehmen - und findet in der Heimat dann doch die große Liebe. Solche Kenntnisse (im Nachhinein recherchiert) gehören nun eher nicht zum rheinischen Allgemeinwissen, und so muss man das wohl als Subtext lesen, der nicht unbedingt notwendig ist zum Verständnis des Abends. Ein Eisbecher für den Richter
Das alles ergibt eine brillante Exposition, aber der gerade einmal einstündige Abend ist damit auch schon fast vorbei. Die vielen ausgelegten Fährten lassen eine große Entwicklung erwarten, die ausbleibt, und da tritt das Stück ein wenig auf der Stelle. Das liegt natürlich auch an der episodenhaften Vorlage. Es gibt eine große Ensembleszene, in der eine Frau auftritt (es handelt sich - auch das muss man nachlesen - um die Gattin des Gastes mit dem Hähnchen) und nach einem von Norma Magelhães schön getanzten, vergleichsweise klassischem Solo wird sie von allen anderen auf Händen getragen und überreicht dem Richter einen Eisbecher - ein scharfer Kontrast zu dessen Möhrendiät. Überhaupt gerät dieser in die Defensive, derweil man erfährt, dass der Verurteilte bereits hingerichtet wurde. In der Schlussszene tritt dieser dann auf, vielleicht ist es aber auch nur der Oberkellner (Damián Torio), aber für den Richter wird es so oder so zur Konfrontation. Das gestische Duell der beiden bekommt allerdings nicht das Gewicht, das es als großes Finale bräuchte. Da verschenkt Volpi den Knalleffekt, den absurden pas de deux zwischen Richter und Gerichtetem, der doch in der Luft liegt. Der Richter geht allzu schnell zu Boden, der Verurteilte allzu schnell ab, und alles ist allzu plötzlich vorbei. Ein wenig mehr Pathos hätte es für den Schluss bedurft, um die große Erzählung abzuschließen. So bleibt es bei einer kurzweiligen, insgesamt recht spannenden Collage (die Altersangabe "ab 12 Jahre" passt), tänzerisch sehr abwechslungsreich, moderat modern mit manchen Anleihen beim klassischen Ballett, eigenständig im Stil und mit Witz, dazu natürlich durch den Argentinien-Kontext ein sehr persönliches Stück von Demis Volpi. Viel Beifall; von den Stühlen erheben mochte sich das Publikum im inzwischen wieder voll besetzten Düsseldorfer Opernhaus indes nicht.
Zum ganz großen Ballettabend fehlt der (kurzen) Choreographie der lange Spannungsbogen und die gewichtigere Schlusspointe; mit vielen mitreißenden Szenen bietet er aber eine spannende, oft surreal-phantastische Collage. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Choreographie
Bühne
Kostüme
Licht
Dramaturgie
Pauken
Klavier Solisten
Der Richter
Carlos Fleta, Oberkellner
Kellner
Die amerikanische Touristin
Der Mann in Weiß
Herr Lopez
Frau Lopez
Der Richter
Carlos Fleta, Oberkellner
Kellner
Der Kunde
Der Verkäufer
Der Angestellte
Gina
Franco
Die Dame in Grün
Das Hähnchen
Sprecher
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