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Technik und Muskeln
Von Stefan Schmöe / Fotos von Bettina Stöß
Hier geht es um "die Liebe zur Virtuosität und Technik". Das stellt Dramaturgin Carmen Kovacs im Programmheft quasi als Motto und Leitmotiv diesem dreiteiligen Ballettabend voran, und für Ballettchef Demis Volpi, der in seiner Programmgestaltung eine Balance sucht zwischen Handlungsballetten und "abstraktem" Tanz, markiert diese Produktion die Gegenposition zum Nussknacker oder auch den Geschlossenen Spielen: Choreographien ohne einen erzählerischen Kontext, was ja stark an die Abende seines Vorgängers Martin Schläpfer anknüpft. So viel sei vorweggenommen: Das gelingt Volpi hier mit drei bemerkenswerten und geschickt aufeinander bezogenen Choreographien ziemlich gut.
Den Auftakt macht Polyphonia von Christopher Wheeldon, uraufgeführt 2001 am New York City Ballett, zu Klaviermusik von György Ligeti: Zehn Stücke (aus den Étude pour piano, der Musica ricercata , dem zweiten Capriccio, dem zweiten der Drei Hochzeitstänze und der Invention), die in ihrer Kürze die kleinteilige Struktur der etwa halbstündigen Choreographie vorgeben (der Zwischenapplaus stört trotzdem und zerreißt den Zusammenhang), auch wenn sie teilweise unmittelbar aneinander anschließen und von Wheeldon tänzerisch verbunden werden. Vier Paare bilden das tanzende Personal, treten aber nur in der ersten und letzten Nummer alle gemeinsam auf, wobei auch die Schattenwürfe durch die nur hier in warmen gelb-braunen Tönen gehaltene Beleuchtung sich absetzen von der nachtblauen Atmosphäre der übrigen Teile und schon visuell eine Klammer bilden. Die Sätze dazwischen sind meist als Pas de deux angelegt, wobei der vierte Satz drei Frauen, der fünfte einem Männerduo vorbehalten ist und Wheeldon hier allein durch die Besetzung die an sich strenge Struktur aufbricht. Polyphonia: Marié Shimada, Orazio Di Bella Im Geiste Georges Balanchines dekliniert Wheeldon raffiniert und mit spielerischer Leichtigkeit das neoklassische Vokabular durch. Dem Spitzenschuh kommt dabei besondere Bedeutung zu. Nicht nur wird ohnehin viel "auf Spitze" getanzt, was man als Inbegriff des klassischen und neoklassischen Balletts und seiner Technik sehen kann; Wheeldon inszeniert den Spitzentanz mehrfach ganz explizit als solchen: In einer Szene drückt ein Tänzer seine Partnerin an den Schultern nach unten, während sie sich auf Spitze tanzen will; in einer anderen tragen zwei Tänzer ihre Partnerinnen und setzen sie ganz behutsam auf die Fußspitzen ab. Vieles in dieser Choreographie hat mathematische Klarheit, und doch bleibt der Tanz sinnlich. Die Tänzerinnen und Tänzer des Ballett am Rhein setzen das sehr überzeugend um. Leider überzieht Pianistin Susanna Kadzhoyan (in vierhändigen Hochzeitstanz unterstützt von Eduardo Boechat) Ligetis Musik mit einem romantisierenden Weichzeichner und schleift damit manche Kante unnötig ab - das dürfte ruhig schroffer, manches auch rhythmisch noch prägnanter klingen.
Demis Volpis Ballett one and others, entstanden 2015 in Uruguay am Ballet Nacional de Sodre, knüpft in mehrfacher Hinsicht an Polyphonia an. Hier sind es fünf Paare, die das tänzerische Personal bilden, und auch hier kommt der Spitzentanz eine besondere Rolle zu. In einer Szene hämmern die Tänzerinnen perkussiv den Schuh auf den Boden. Statt entschwebender Leichtigkeit geht es Volpi um extreme technische Elemente oft am Rande des Möglichen. Der Titel des Werkes bezieht sich auf eine kleine Holzskulptur der Künstlerin Louise Bourgoise aus dem Jahr 1955, in der unterschiedlich bemalte längliche geometrische Objekte, in denen man abstrahierte Personen ahnen kann, ein Ensemble bilden. Die Spannung zwischen Gruppe und Individualität sieht man auch in der Choreographie, in Übereinstimmung und Variation von Bewegungsfolgen. Das könnte schnell banal werden, gewinnt aber aus seiner Konzentration und Unbedingtheit erhebliche Spannung. one and others: Lara Delfino, Dukin Seo
Die Abstraktion im Tanz kontrastiert dabei mit der sinnlichen Musik, dem Streichquartett Nr. 1 Awakening des 1953 geborenen griechisch-kanadischen Komponisten Christos Hatzis (das hier per Lautsprecher eingespielt wird). Hatzis unterlegt elegische, sehr melodische Phrasen mit einer Toncollage aus Geräuschen von Lokomotiven und Kehlkopfgesängen der kanadischen Inuit, wobei dem Streichquartett die tonale Struktur mehrfach wegzubrechen droht. Die permanente Gefährdung eines Naturzustands, von der diese Musik wehmütig erzählt, spiegelt sich in den oft überspannten Körper in fragilen Gleichgewichtspositionen, die immer auch zu kippen drohen. Im leeren Bühnenraum kommt zudem der Beleuchtung (Claudia Sanchez) eine besondere Rolle zu. Das Licht gliedert diesen Raum zunächst mit Lichtkegeln, in denen die Tänzerinnen und Tänzer zu schweben scheinen; später gibt die fahle Beleuchtung Weite. Und obwohl Volpi mit seiner abstrakten Tanzsprache von narrativen Strukturen entfernt, kann in dieser doch sehr bewegenden Choreographie von etwa 25 Minuten Dauer eine kleine Geschichte erkennen: Am Beginn steht eine Tänzerin, die sich selbst umarmt, am Ende ein ausgedehnter und durchaus erotischer Pas de Deux. Damit schafft Volpi einen durch und durch menschlichen Rahmen. Lara Delfino, inzwischen beim Ballett am Rhein engagiert, hat bereits bei der Uraufführung mitgetanzt, hier übernimmt sie mit Dukin Seo als Partner die Hauptrolle - getanzt wird sehr schön; an Charisma und Individualität dürfen die beiden noch zulegen.
Salt Womb von Sharon Eyal und Gai Behar, das dritte Werk des Abends (entstanden 2016 am Nederlands Danse Theater), war schon im Vorjahr zu sehen, hinterlässt jetzt aber einen noch stärkeren Eindruck - das mag daran liegen, dass die Besetzung von 9 auf 17 Tänzer*innen erweitert wurde, mehr aber wohl durch die sinnfällige Kombination mit Polyphonia und one and others. Die elektronische Musik von Ori Lichtik mit hämmernden Rhythmen übernimmt Prinzipien der minimal music - große Blöcke aus vergleichsweise schlichten Floskeln erfahren kleine Veränderungen. Das setzen Eyal und Behar auch auf der tänzerischen Ebene um. Innerhalb der Gruppe gibt es unter an sich synchronen Bewegungsabläufen kleine Abweichungen und Variationen, und die an sich sehr stark skulptural angeordnete Formation ist eher kleinen, in der Wirkung aber starken Veränderungen unterworfen. Dabei zeigt die Compagnie Schweiß und Muskeln; die oft breitbeinigen Positionen scheinen dem Body Building entnommen zu sein. Wenn es zuvor um Spitzentanz ging, so macht es hier oft den Unterschied, ob das Ensemble erdverbunden auf der kompletten Sohle steht oder auf den Fußballen. Salt Womb strahlt eine ungeheure Kraft und Energie aus, hat aber auch bestechende Bildwirkung. Am Ende gab es dafür stehende Ovationen.
Eine starke Produktion ohne Handlungsballett: Demis Volpi ist ein in seiner Dreiteiligkeit stringenter, faszinierender Ballettabend gelungen. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
ProduktionsteamPolyphonia
Choreographie
Kostüme
Licht
Einstudierung
Klavier Uraufführung:
Choreographie
Kostüme
Licht Uraufführung:
Choreographie
Kostüme
Licht
Einstudierung Uraufführung: |
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