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Ziemlich unterschiedliche Typen zwischen politischem Phlegma und kontrollierter Wut
Von Stefan Schmöe / Fotos von Bettina Stöß
Am Ende dieses drei Stunden langen Abends (darin eingeschlossen zwei Pausen) ist man doch ziemlich erschlagen von den vielen, sehr unterschiedlichen Eindrücken. Ein Klassiker von Balanchine als Ausgangspunkt, auf den vier Uraufführungen unterschiedlicher Handschrift folgen - das ist das ambitionierte Programm, das Ballettchef Demis Volpi sich und dem Publikum aufgeladen hat. Worum geht's? Phlegmatiker, Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker - das sind die vier Temperamente der antiken Medizin, zurückgehend auf Hippokrates, der im 5. vorchristlichen Jahrhundert die vier bekannten Körpersäfte (Schleim, Blut, Gelbe Galle, Schwarze Galle) dem Temperament eines Menschen zuordnete, je nachdem, welche der Flüssigkeiten den Körper dominiert. Über alle medizinischen Erkenntnisse hinweg haben sie eine eigene Faszination behalten, auch in ihrer Beziehung zu den vier klassischen Elementen (Wasser, Erde, Feuer und Luft) oder den vier Jahreszeiten.
1946 choreographierte George Balanchine für die von ihm mitbegründete Ballett Society, dem Vorläufer des legendären New York City Ballet, eine Musik von Paul Hindemith: The four Temperaments für Streichorchester und Klavier, strukturiert in drei Themen und vier Variationen. Balanchine spielt das klassisch-akademische Vokabular durch, aber mit kleinen, markanten Veränderungen, etwa eine Tänzerin auf Spitze tanzend, aber mit abgewinkelten Knien. Das etwa halbstündige Werk besticht auch heute durch die Eleganz, mit der Balanchine ausgehend von drei Pas de deux zu den drei Teilen des Themas in den Variationen in unterschiedlichen Formationen die Tradition fortsetzt und gleichzeitig Abstand hält. Die vier Temperamente in Musik oder Tanz direkt wiederzuerkennen, fällt freilich schwer; weder Komponist noch Choreograph wollen das Programm zu deutlich machen: Es bleiben Rätsel. Manches Detail könnte die Compagnie des Ballett am Rhein noch präziser tanzen (Einstudierung: Nanette Glushak), der feine Humor, der über dem Werk liegt, kommt aber sehr schön zur Geltung, etwa im fast volkstanzartig anmuten Allegretto Scherzando der dritten Variation, die den Phlegmatiker beschreibt. Gustavo Carvalho und das Tänzerinnen-Quartett, bestehend aus Svetlana Bednenko, Norma Magelhães, Rose Nougué-Cazenave und Courtney Skalnik tanzen mit hinreißender Nonchalance. Die Düsseldorfer Symphoniker unter der Leitung von Péter Halász und Pianistin Alina Bercu begleiten Hindemiths spröde Musik durchaus klangsinnlich. Großer Jubel: Balanchine bewegt auch heute. Phlegmatic summer: Ensemble Den stärksten Kontrast dazu bietet gleich die erste der vier Uraufführungen, Phlegmatic summer, von Michéle Anne de Mey. Die 1959 geborene Belgierin zeigt die mit Abstand politischste Arbeit des Abends (und die am wenigsten dem neoklassischen Vokabular verpflichtete), denn für sie bedeutet "Phlegma" vor allem das Abstumpfen unserer Gesellschaft gegenüber den humanitären Katastrophen, die inzwischen Alltag geworden sind. Als musikalische Grundlage verwendet sie Antonio Vivaldis populäres Violinkonzert Der Sommer aus den Vier Jahreszeiten (Konzertmeisterin Franziska Früh spielt den Solopart recht verhalten), was der Temperamentenlehre nach eigentlich falsch ist (dem Phlegmatiker ist der Winter zugeordnet, der Sommer dem Choleriker); der sehr frei assoziierende Bezug ist ein anderer: Einmal sicher über die Musik, die im langsamen Satz, aus dem man eine hitzebedingte Trägheit heraushören kann; stärker über die Verbindung Sommer - Meer, das per Videosequenzen (Gaspard Pauwels) in beeindruckenden Bildern in den Raum hineingeholt wird. "Meer" ist aber auch das Symbol für die Tragödien, die sich vor unseren Augen auf dem Mittelmeer abspielen. De May organisiert das 13köpfige Ensemble immer wieder skulptural, und man kann darin Wellen erahnen (und auch Menschen, die von Wellen getragen werden oder darin versinken). Dann wieder liegen die Körper wie leblos auf der Bühne. Beinahe ein Wunder, dass das Konzept nicht im gut gemeinten Kitsch endet, aber de May gelingt es, auf einer abstrakten und autonomen tänzerischen Ebene zu bleiben, die gleichwohl Assoziationsräume schafft. So bricht die Musik immer wieder ab, Vivaldi wird auf irritierende Weise zerstückelt. De May schafft ein Tanztheater in raffiniert graublau abgestufter Alltagskleidung (Kostüme: Stefanie C. Salm), das aus natürlichen Bewegungen eine eigene Dynamik entwickelt.
Hausherr Demis Volpi bezieht sich mit Sanguinic: con brio sehr viel konkreter auf Balanchine - und auf die Musik, die in diesem Fall von Jörg Widmann stammt: con brio ist eine etwa 12minütige Konzertouvertüre, die Motive aus Beethovens siebenter und achter Symphonie verarbeitet, weniger in Form von konkreten Zitaten als durch Stimmungen und Effekte. Beethoven schimmert wie von Ferne durch die Musik, immer als Beethoven zu erkennen, aber nicht mehr wirklich greifbar (das Orchester spielt das eindrucksvoll plastisch). Die acht Tänzerinnen und Tänzer greifen das Bruchstückhafte auf, oft mit verdrehten Körperhaltungen, immer wieder bilden sich Paare und kleine Gruppen und lösen sich schnell wieder auf. Kennzeichnend sind die ausladend rudernden Armbewegungen, die ein wenig an Choreographien Marko Goeckes erinnern. Tempo und Dynamik sind hoch. Im zweiten Teil geht es strenger zu, auf die Musik Widmanns folgt die clapping music von Steve Reich für zwei klatschende Percussionisten, die wiederholt ein Motiv aus 12 Achtelnoten klatschen, zunächst synchron, dann gegeneinander versetzt, wobei sich die Verschiebung nach und nach vergrößert. Zwar greift Volpi die Bewegungssprache des ersten Teils auf, aber trotzdem geht ein leiser Riss durch die Choreographie - so recht schlüssig wird nicht, warum auf Widmanns Orchesterstück diese minimal music folgen muss. Vielleicht ganz profan deshalb, weil 12 Minuten zur Musik von Widmann, selbst wenn sie sehr dicht gearbeitet sind, die Vorgaben unterboten hätten? Faszinierend ist Volpis tänzerisch fokussierte Energie allemal. Choleric: hier: Wun Sze Chan, Ensemble
Choleric, eine Arbeit der kanadischen Choreographin Hélène Blackburn, wirkt in mancher Hinsicht wie eine Verdichtung von Sanguinic. Auch hier fallen die exzentrischen Armbewegungen auf, die aber kleiner, abgehackter, ein wenig wie in Wut erstarrt ausgeführt werden, fast nur noch mit den Händen. Eine Tänzerin trägt Spitzenschuhe, die ziemlich unbarmherzig in den Boden gerammt werden; die anderen fünf Tänzerinnen Riemenschuhe mit Absätzen, was erst einmal ziemlich ballettuntauglich wirkt, aber als Anspielung auf die wechselnden Formationen bei Balanchine verstanden werden kann (fünf Tänzer gibt's auch noch). Die elektronisch wummernde Musik von Martin Tétreault, eigens für das Stück komponiert, unterstreicht, dass es hier ganz offensichtlich um mühsam gebremste, unterdrückte, irgendwie noch kontrollierte Wut geht. Insofern setzt Choleric die inhaltlichen Vorgaben ziemlich direkt und eher schlicht um, bleibt gleichwohl fesselnd in der kraftvollen Umsetzung.
Eher im Bereich des Erwartbaren ist dann auch die den Abend beschließende Auseinandersetzung von Altmeister John Neumeier mit dem Melancholiker, was unter dem Titel from time to timeThe dangling conversation. Darin heißt es And we sit and drink our coffee / Couched in our indifference ("Wir sitzen und trinken Kaffee / liegend in unserer Abgestumpftheit"), und später ""You are a stranger now to me". Fremdheit trotz fortdauernder Nähe - Neumeier setzt das um durch zwei räumlich getrennte Ebenen, auf der Vorderbühne für den Tanz, dahinter, durch eine Plexiglasscheibe getrennt, bildlich ein Tisch, an dem mehrere Personen sitzen (darunter das alter ego des Protagonisten). Als Musik dazu erklingt der erste Satz aus Franz Schuberts letzter Klaviersonate B-Dur D960 (Alina Barcu nimmt sich allzu viele rhythmische Freiheiten, Rubati und Verzögerungen, die dem strengen Puls der Musik entgegenstehen). Neumeier choreographiert souverän und gelassen, mit leiser Wehmut statt großem Pathos, und schafft damit das am unmittelbarsten berührende, am leichtesten zugängliche Stück - auch deshalb ein passender Schlusspunkt des vom Publikum einhellig bejubelten langen Abends.
Die Lehre von den vier Temperamenten geht durchaus auf: Volpis Konzept, Balanchines Klassiker vier Uraufführungen gegenüberzustellen, von denen jede auf eigene Weise überzeugt und die durch die unterschiedlichen Herangehensweisen für viel Abwechslung sorgen, hält den Abend zusammen und dürfte gerade durch die Bandbreite der Assoziationen ein großes Publikum ansprechen. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
ProduktionsteamDie vier Temperamente
Choreographie
Dirigent
Klavier
Kostüme
Licht
Einstudierung Uraufführung:
Choreographie
Dirigent
Violine
Kostüme
Licht
Dramaturgie
Choreographie
Dirigent
Perkussion
Kostüme
Licht
Dramaturgie
Choreographie / Bühne / Kostüme
Licht
Dramaturgie
Choreographie / Bühne / Kostüme / Licht
Klavier |
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