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Musiktheater
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Vier neue Temperamente

Die vier Temperamente

Ballett von George Balanchine
Musik von Paul Hindemith (Die vier Temperamente - Thema mit vier Variationen für Klavier und Streichorchester)

Phlegmatic summer

Ballett von Michèle Anne de Mey
Musik von Antonio Vivaldi (Konzert für Violine und Orchester Der Sommer aus Die vier Jahreszeiten)

Sanguinic: con brio

Ballett von Demis Volpi
Musik von Jörg Widmann (Konzertouvertüre Con brio) und Steve Reich (Clapping music für zwei klatschende Percussionisten)

Choleric

Ballett von Hélène Blackburn
Musik von Martin Tétreault (Choleric, Auftragswerk für diese Choreographie)

from time to time

Ballett von John Neumeier
Musik von Simon & Garfunkel (The dangling conversation) und Franz Schubert (1. Satz der Klaviersonate B-Dur D960)

Aufführungsdauer: ca. 3h (zwei Pausen)

Premiere am 3. Juni 2022 im Opernhaus Düsseldorf


Homepage

Ballett am Rhein / Rheinoper
(Homepage)
Ziemlich unterschiedliche Typen zwischen politischem Phlegma und kontrollierter Wut

Von Stefan Schmöe / Fotos von Bettina Stöß

Am Ende dieses drei Stunden langen Abends (darin eingeschlossen zwei Pausen) ist man doch ziemlich erschlagen von den vielen, sehr unterschiedlichen Eindrücken. Ein Klassiker von Balanchine als Ausgangspunkt, auf den vier Uraufführungen unterschiedlicher Handschrift folgen - das ist das ambitionierte Programm, das Ballettchef Demis Volpi sich und dem Publikum aufgeladen hat. Worum geht's? Phlegmatiker, Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker - das sind die vier Temperamente der antiken Medizin, zurückgehend auf Hippokrates, der im 5. vorchristlichen Jahrhundert die vier bekannten Körpersäfte (Schleim, Blut, Gelbe Galle, Schwarze Galle) dem Temperament eines Menschen zuordnete, je nachdem, welche der Flüssigkeiten den Körper dominiert. Über alle medizinischen Erkenntnisse hinweg haben sie eine eigene Faszination behalten, auch in ihrer Beziehung zu den vier klassischen Elementen (Wasser, Erde, Feuer und Luft) oder den vier Jahreszeiten.

Vergrößerung Die vier Temperamente (erstes Thema): Clara Nougué-Cazenave, Niklas Jendrics

1946 choreographierte George Balanchine für die von ihm mitbegründete Ballett Society, dem Vorläufer des legendären New York City Ballet, eine Musik von Paul Hindemith: The four Temperaments für Streichorchester und Klavier, strukturiert in drei Themen und vier Variationen. Balanchine spielt das klassisch-akademische Vokabular durch, aber mit kleinen, markanten Veränderungen, etwa eine Tänzerin auf Spitze tanzend, aber mit abgewinkelten Knien. Das etwa halbstündige Werk besticht auch heute durch die Eleganz, mit der Balanchine ausgehend von drei Pas de deux zu den drei Teilen des Themas in den Variationen in unterschiedlichen Formationen die Tradition fortsetzt und gleichzeitig Abstand hält. Die vier Temperamente in Musik oder Tanz direkt wiederzuerkennen, fällt freilich schwer; weder Komponist noch Choreograph wollen das Programm zu deutlich machen: Es bleiben Rätsel. Manches Detail könnte die Compagnie des Ballett am Rhein noch präziser tanzen (Einstudierung: Nanette Glushak), der feine Humor, der über dem Werk liegt, kommt aber sehr schön zur Geltung, etwa im fast volkstanzartig anmuten Allegretto Scherzando der dritten Variation, die den Phlegmatiker beschreibt. Gustavo Carvalho und das Tänzerinnen-Quartett, bestehend aus Svetlana Bednenko, Norma Magelhães, Rose Nougué-Cazenave und Courtney Skalnik tanzen mit hinreißender Nonchalance. Die Düsseldorfer Symphoniker unter der Leitung von Péter Halász und Pianistin Alina Bercu begleiten Hindemiths spröde Musik durchaus klangsinnlich. Großer Jubel: Balanchine bewegt auch heute.

Vergrößerung

Phlegmatic summer: Ensemble

Den stärksten Kontrast dazu bietet gleich die erste der vier Uraufführungen, Phlegmatic summer, von Michéle Anne de Mey. Die 1959 geborene Belgierin zeigt die mit Abstand politischste Arbeit des Abends (und die am wenigsten dem neoklassischen Vokabular verpflichtete), denn für sie bedeutet "Phlegma" vor allem das Abstumpfen unserer Gesellschaft gegenüber den humanitären Katastrophen, die inzwischen Alltag geworden sind. Als musikalische Grundlage verwendet sie Antonio Vivaldis populäres Violinkonzert Der Sommer aus den Vier Jahreszeiten (Konzertmeisterin Franziska Früh spielt den Solopart recht verhalten), was der Temperamentenlehre nach eigentlich falsch ist (dem Phlegmatiker ist der Winter zugeordnet, der Sommer dem Choleriker); der sehr frei assoziierende Bezug ist ein anderer: Einmal sicher über die Musik, die im langsamen Satz, aus dem man eine hitzebedingte Trägheit heraushören kann; stärker über die Verbindung Sommer - Meer, das per Videosequenzen (Gaspard Pauwels) in beeindruckenden Bildern in den Raum hineingeholt wird. "Meer" ist aber auch das Symbol für die Tragödien, die sich vor unseren Augen auf dem Mittelmeer abspielen. De May organisiert das 13köpfige Ensemble immer wieder skulptural, und man kann darin Wellen erahnen (und auch Menschen, die von Wellen getragen werden oder darin versinken). Dann wieder liegen die Körper wie leblos auf der Bühne. Beinahe ein Wunder, dass das Konzept nicht im gut gemeinten Kitsch endet, aber de May gelingt es, auf einer abstrakten und autonomen tänzerischen Ebene zu bleiben, die gleichwohl Assoziationsräume schafft. So bricht die Musik immer wieder ab, Vivaldi wird auf irritierende Weise zerstückelt. De May schafft ein Tanztheater in raffiniert graublau abgestufter Alltagskleidung (Kostüme: Stefanie C. Salm), das aus natürlichen Bewegungen eine eigene Dynamik entwickelt.

Vergrößerung Sanguinic: con brio: Paula Alves, Niklas Jendrics, Rose Nougué-Cazenave

Hausherr Demis Volpi bezieht sich mit Sanguinic: con brio sehr viel konkreter auf Balanchine - und auf die Musik, die in diesem Fall von Jörg Widmann stammt: con brio ist eine etwa 12minütige Konzertouvertüre, die Motive aus Beethovens siebenter und achter Symphonie verarbeitet, weniger in Form von konkreten Zitaten als durch Stimmungen und Effekte. Beethoven schimmert wie von Ferne durch die Musik, immer als Beethoven zu erkennen, aber nicht mehr wirklich greifbar (das Orchester spielt das eindrucksvoll plastisch). Die acht Tänzerinnen und Tänzer greifen das Bruchstückhafte auf, oft mit verdrehten Körperhaltungen, immer wieder bilden sich Paare und kleine Gruppen und lösen sich schnell wieder auf. Kennzeichnend sind die ausladend rudernden Armbewegungen, die ein wenig an Choreographien Marko Goeckes erinnern. Tempo und Dynamik sind hoch. Im zweiten Teil geht es strenger zu, auf die Musik Widmanns folgt die clapping music von Steve Reich für zwei klatschende Percussionisten, die wiederholt ein Motiv aus 12 Achtelnoten klatschen, zunächst synchron, dann gegeneinander versetzt, wobei sich die Verschiebung nach und nach vergrößert. Zwar greift Volpi die Bewegungssprache des ersten Teils auf, aber trotzdem geht ein leiser Riss durch die Choreographie - so recht schlüssig wird nicht, warum auf Widmanns Orchesterstück diese minimal music folgen muss. Vielleicht ganz profan deshalb, weil 12 Minuten zur Musik von Widmann, selbst wenn sie sehr dicht gearbeitet sind, die Vorgaben unterboten hätten? Faszinierend ist Volpis tänzerisch fokussierte Energie allemal.

Vergrößerung

Choleric: hier: Wun Sze Chan, Ensemble

Choleric, eine Arbeit der kanadischen Choreographin Hélène Blackburn, wirkt in mancher Hinsicht wie eine Verdichtung von Sanguinic. Auch hier fallen die exzentrischen Armbewegungen auf, die aber kleiner, abgehackter, ein wenig wie in Wut erstarrt ausgeführt werden, fast nur noch mit den Händen. Eine Tänzerin trägt Spitzenschuhe, die ziemlich unbarmherzig in den Boden gerammt werden; die anderen fünf Tänzerinnen Riemenschuhe mit Absätzen, was erst einmal ziemlich ballettuntauglich wirkt, aber als Anspielung auf die wechselnden Formationen bei Balanchine verstanden werden kann (fünf Tänzer gibt's auch noch). Die elektronisch wummernde Musik von Martin Tétreault, eigens für das Stück komponiert, unterstreicht, dass es hier ganz offensichtlich um mühsam gebremste, unterdrückte, irgendwie noch kontrollierte Wut geht. Insofern setzt Choleric die inhaltlichen Vorgaben ziemlich direkt und eher schlicht um, bleibt gleichwohl fesselnd in der kraftvollen Umsetzung.

Vergrößerung from time to time: Julio Morel, Rashaen Arts, Simone Messmer, Evan L'Hirondelle, Orazio di Bella

Eher im Bereich des Erwartbaren ist dann auch die den Abend beschließende Auseinandersetzung von Altmeister John Neumeier mit dem Melancholiker, was unter dem Titel from time to timeThe dangling conversation. Darin heißt es And we sit and drink our coffee / Couched in our indifference ("Wir sitzen und trinken Kaffee / liegend in unserer Abgestumpftheit"), und später ""You are a stranger now to me". Fremdheit trotz fortdauernder Nähe - Neumeier setzt das um durch zwei räumlich getrennte Ebenen, auf der Vorderbühne für den Tanz, dahinter, durch eine Plexiglasscheibe getrennt, bildlich ein Tisch, an dem mehrere Personen sitzen (darunter das alter ego des Protagonisten). Als Musik dazu erklingt der erste Satz aus Franz Schuberts letzter Klaviersonate B-Dur D960 (Alina Barcu nimmt sich allzu viele rhythmische Freiheiten, Rubati und Verzögerungen, die dem strengen Puls der Musik entgegenstehen). Neumeier choreographiert souverän und gelassen, mit leiser Wehmut statt großem Pathos, und schafft damit das am unmittelbarsten berührende, am leichtesten zugängliche Stück - auch deshalb ein passender Schlusspunkt des vom Publikum einhellig bejubelten langen Abends.


FAZIT

Die Lehre von den vier Temperamenten geht durchaus auf: Volpis Konzept, Balanchines Klassiker vier Uraufführungen gegenüberzustellen, von denen jede auf eigene Weise überzeugt und die durch die unterschiedlichen Herangehensweisen für viel Abwechslung sorgen, hält den Abend zusammen und dürfte gerade durch die Bandbreite der Assoziationen ein großes Publikum ansprechen.


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Produktionsteam

Die vier Temperamente

Choreographie
George Balanchine

Dirigent
Péter Halász

Klavier
Alina Bercu

Kostüme
Kurt Seligmann

Licht
Jean Rosenthal

Einstudierung
Nanette Glushak

Uraufführung:
Ballett Society, Central High Scool of
Needle Trades, New York, 20. November 1946


Tänzerinnen und Tänzer

Clara Nougué-Cazenave
Niklas Jendrics
Miquel Martínez Pedro
Elisabeth Vincenti
Charlotte Kragh
Nelson López Garlo Rashaen Arts
Doris Becker
Emilia Peredo Aguirre
Priscilla Volpe
Mariana Dias
Neshama Nashman
Valentina Marchetto
Futaba Ishizaki
Daniele Bonelli
Paula Alves
Virginia Segarra Vidal
Lara Delfino
Elisa Andrei Mitroi
Gustavo Carvalho
Svetlana Bednenko
Rose Nougué-Cazenave
Courtney Skalnik
Norma Magalhães
Maria Luisa Castillo Yoshida


Phlegmatic Summer

Choreographie
Michèle Anne de Mey

Dirigent
Péter Halász

Violine
Franziska Früh

Kostüme
Stefanie C. Salm

Licht
Volker Weinhart

Dramaturgie
Maurice Lenhard

Tänzerinnen und Tänzer

Mariana Dias
Norma Magalhães
Neshama Nashman
Emilia Peredo Aguirre
Virginia Segarra Vidal
Marié Shimada
Rubén Cabaleiro Campo
Philip Handschin
Evan L'Hirondelle
Miquel Martínez Pedro
Julio Morel
James Nix
Daniel Smith

Sanguinic: con brio

Choreographie
Demis Volpi

Dirigent
Péter Halász

Perkussion
Alexander Nolden /
Thomas Steimer
Dirk Neuner

Kostüme
Stefanie C. Salm

Licht
Volker Weinhart

Dramaturgie
Carmen Kovacs

Tänzerinnen und Tänzer

Paula Alves
Doris Becker
Svetlana Bednenko
Daniele Bonelli
Tommaso Calcia
Niklas Jendrics
Rose Nougué-Cazenave
Damián Torío


Choleric

Choreographie / Bühne / Kostüme
Hélène Blackburn

Licht
Emmanuel Landry

Dramaturgie
Maurice Lenhard

Tänzerinnen und Tänzer

Maria Luisa Castillo Yoshida
Charlotte Kragh
Clara Nougué-Cazenave
Elisabeth Vincenti
Tommaso Calcia
Gustavo Carvalho
Orazio Di Bella
Pedro Maricato
Dukin Seo
Lara Delfino
Courtney Skalnik


from time to time

Choreographie / Bühne / Kostüme / Licht
John Neumeier

Klavier
Alina Bercu

Tänzerinnen und Tänzer

Julio Morel

Rashaen Arts
Simone Messmer
Orazio Di Bella
Evan L'Hirondelle
Futaba Ishizaki



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Ballett am Rhein
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