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Neuer abstrakter Tanz von der "Insel" Von Thomas Molke / Foto: © Leszek Januszewski
In Dortmund ist es mittlerweile langjährige Tradition, dass Ballettdirektor Xin Peng Wang neben die in der Regel von ihm kreierten Handlungsballette auch dreiteilige Ballettabende auf den Spielplan stellt, in denen seine Tänzerinnen und Tänzer durch das Engagement von renommierten Gastchoreograph*innen die Möglichkeit bekommen, ihr eigenes Tanzvokabular zu erweitern und sich andere Stile zu erarbeiten. Durch die Corona-Pandemie musste dieser Austausch in den letzten beiden Jahren ein wenig heruntergefahren werden, so dass der letzte dreiteilige Abend Visionen mittlerweile drei Jahre her ist. Nun ist die Pandemie zwar noch lange nicht überwunden, aber dennoch kann man auch beim Tanz mittlerweile immer größere Schritte zurück zur "Normalität" machen. Der neue Ballettabend steht unter dem Titel New London Moves und vereint moderne, abstrakte Kreationen von drei Choreographen, die allesamt aus England stammen und entweder in London geboren wurden oder dort hauptberuflich arbeiten. Daria Suzi und Ensemble in Eden | Eden Den Anfang macht Eden | Eden von Wayne McGregor, der seit 2006 "Resident Choreographer" am Royal Ballet in London ist. McGregor schuf das Stück 2005 für das Stuttgarter Ballett und beschäftigt sich darin mit der ethischen Verantwortung des Klonens. Als Musik verwendet er den dritten Teil der Video-Oper Three Tales von Steve Reich, "Dolly". Reich beschäftigt sich in seiner 2002 entstandenen Video-Oper mit den technischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts und greift dabei drei Ereignisse heraus, die für das Jahrhundert von großer Bedeutung waren: die Explosion des Luftschiffes Hindenburg in New Jersey 1937, die Atombombenversuche auf dem Bikini-Atoll zwischen 1946 und 1952 und das geklonte Schaf Dolly 1997. Mit Eden spielt McGregor zum einen auf den paradiesischen Garten an, den die Menschheit mit fortschreitender Technisierung wiederherzustellen versucht. Die Dopplung im Titel zielt zum anderen auf das Klonen ab, durch das "unperfektes" Gen-Gut verbessert werden soll, um Krankheiten wie beispielsweise Krebs zu besiegen. Reichs Musik folgt dem Stil der Minimal Music, in die Interviews mit Wissenschaftler*innen eingebunden werden, die zu der Problematik Stellung beziehen. Der Teil beginnt mit einer Videoprojektion, in der abstrakte Formen, vereinzelte Wörter und zusammenhanglose Buchstaben immer wieder aufflackern und eine hektische, unruhige Atmosphäre verbreiten. Diese Bilder stehen wohl für das unermüdliche Streben nach Fortschritt und Optimierung. Von diesen Projektionen geht es dann in den Paradiesgarten Eden über, der durch den Baum der Erkenntnis im Hintergrund der Bühne und einen großen kreisrunden grünen Apfel auf dem Bühnenboden dargestellt wird. Hier befindet sich zunächst als erstes menschliches Wesen eine Frau. Aber handelt es sich wirklich um eine Frau? Die Haare sind unter einer Glatze verborgen, und weibliche Merkmale fehlen eigentlich genauso wie irgendeine Form der Individualität. Im weiteren Verlauf werden mehrere Tänzerinnen und Tänzer aus dem Bühnenboden emporgefahren, die alle einander gleichen. Handelt es sich hierbei um Klonversuche?. In abstrakten Bewegungen scheinen diese Wesen auf der Bühne ihre Grenzen auszutesten und ihre Körperlichkeit zu entdecken. Es ist gewissermaßen das Leben, das entsteht. Schließlich streifen die Tänzerinnen und Tänzer ihre Glatzen ab, und durch die nun sichtbaren Haare entsteht ein Funken Individualität. Kostüme werden vom Schnürboden herabgelassen, die aber ebenfalls alle gleich aussehen. Am Ende verschwinden alle Tänzerinnen und Tänzer bis auf einen wieder im Boden, während der Baum der Erkenntnis in den Schnürboden emporgezogen wird. Hat man das Paradies nun erreicht oder ist der Versuch, erneut gescheitert? Das ist die Frage, die man sich am Ende des ersten Teils stellen kann. Das Bewegungsvokabular reicht in diesem ersten Teil von Spitzentanz bis zu sehr abstrakt gehaltenen Formen. Maquette: Ensemble Bei dem zweiten Teil handelt es sich um eine Uraufführung von Douglas Lee, der in Dortmund kein Unbekannter mehr ist. Bereits 2013 hat er hier in dem Ballettabend Drei Farben Tanz das Stück PianoPiece kreiert (siehe auch unsere Rezension), und 2019 hat er für den Ballettabend Visionen das Auftragswerk She Wore Red geschaffen (siehe auch unsere Rezension). In Maquette beschäftigt sich Lee mit der Entwicklung eines Kunstwerks. Eine Maquette ist ein maßstabsgetreues Modell, das vor allem in der Bildhauerei als Rohentwurf oder in der Malerei als Skizze verwendet wird. Lee überträgt in seiner Choreographie diesen Entwurf nun auf den Tanz und die Bewegung. Bühnenbildnerin Eva Adler hat dafür einen durch LED-Lichtstreifen aufgeteilten geometrischen Tanzboden geformt, über dem ein riesiger dunkler Kubus hängt. Zur elektronischen Musik von Nicolas Sávva probieren sich die sechs Tänzerinnen und Tänzer, die in einheitlichen braunen Bodysuits auftreten, aus und suchen mal auf Spitze, mal in abstrakten Bewegungen ihren Weg. Die Kanten des Kubus, der über der Bühne hängt, leuchten dabei in unterschiedlichen Farben, so dass immer wieder ein neues Licht auf die Tänzerinnen und Tänzer geworfen wird. In dieser Choreographie sind die Tänzerinnen und Tänzer gewissermaßen der Rohentwurf, mit dem im Verlaufe des Stückes "gearbeitet" wird. Am Ende scheint der Prozess abgeschlossen zu sein. Die Tänzerinnen und Tänzer verharren in einer Position, und der Kubus senkt sich herab und lässt sie wie in einem Paket verschwinden. Das Kunstwerk ist fertig und kann nun verschickt werden. Während der zweite Teil sehr abstrakt gehalten ist, wird die im letzten Teil erzählte Geschichte Dust wesentlich greifbarer. Akram Khan, der in etwas mehr als 19 Jahren mit seinem Repertoire einen wichtigen Beitrag zur Kunst in Großbritannien und im Ausland geleistet hat, hat dieses Stück 2014 kreiert, als sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal jährte. Tamara Rojo, die künstlerische Leiterin des English National Ballet, bat damals drei führende britische Choreographen, darunter Khan, einen Tanzabend des Erinnerns und Gedenkens zu gestalten. Der Titel ("Staub") verdeutlicht dabei die Gräueltaten des Krieges. Er steht sowohl für den Dreck in den Schützengräben oder die explodierende Erde nach einem Bombenangriff, als auch für den sich absetzenden Staub, nachdem ein Haus zerbombt worden ist. Die Musik zu diesem Ballett stammt von Jocelyn Pook, die durch die Filmmusik zu Kubricks Eyes Wide Shut Bekanntheit erlangt hat. Pook verwendet unter anderem eine Aufnahme des Soldaten Edward Dwyer aus dem Jahr 1916. Darin beschreibt er in einem Interview die schreckliche Lage an der Front und die Bedeutung des Singens, um nicht den Mut zu verlieren. Das Lied, das Dwyer dann in dem Interview anstimmt und in der Textzeile "We're here because we're here" die Sinnlosigkeit der Situation beschreibt, unterlegt Pook mit der Melodie "Old lang Syne". Auch die übrigen Klanglandschaften, die Pook entwickelt, unterstreichen, wie eine ganze Generation von Männern und Frauen zu Opfern des Krieges wurden, und klingen gerade zum jetzigen Zeitpunkt schrecklich aktuell. Dust: Solo-Mann (hier: Filip Kvačák) und Masse (Ensemble) Zu Beginn sieht man einen einsamen Mann (Guillem Rojo i Gallego), der sich in einem grellen Lichtkegel qualvoll windet. Aus dem Dunkel bewegt sich ganz allmählich eine undefinierbare Masse auf ihn zu. Die Masse entpuppt sich als Männer und Frauen, die bald mit dem Mann eine Reihe bilden. Dabei gehen die Arme ineinander über und bilden zwei riesige Flügel, die von dem Mann in der Mitte bewegt zu werden scheinen, ein sehr eindrucksvolles Bild. Dann sieht man im Hintergrund plötzlich die Schützengräben. Die Männer lösen sich aus der Reihe und steigen zu einem einsamen Mann auf dem Schützengraben, während die Frauen zurückbleiben. Die nackten Oberkörper der Männer deuten ihre Verletzlichkeit an. Der nächste Teil gehört nun den Frauen, die versuchen, während des Krieges im Land die Stellung zu halten. Die Bilder sprechen von Verzweiflung und Zermürbung, was im ausdrucksstarken Tanz der Tänzerinnen sehr deutlich wird. Im dritten Teil sieht man dann ein Pas de deux zwischen einer Frau (Alisa Uzunova) und einem Mann (Marcio Barros Mota). Dabei bleibt unklar, ob der Mann wirklich aus dem Krieg zurückgekehrt ist oder ob es sich nur um einen Traum der Frau handelt. Intensiv versuchen Uzunova und Barros Mota in modernen Tanzbewegungen zueinander zu finden. Doch am Ende bleibt Uzunova allein zurück, und Barros Mota kehrt zum Schützengraben zurück. Zum Schlussapplaus wird dieses Bild noch intensiviert, indem hinter den Schützengraben die ukrainische Flagge projiziert wird. Ein Tänzer läuft von der Bühne und kehrt mit der ukrainischen Flagge zurück, hinter der sich die Tänzerinnen und Tänzer solidarisch vereinen. Das Publikum spendet für dieses politische Statement stehende Ovationen. Wie betroffen die Tänzerinnen und Tänzer sind, wird auch in einem weiteren Bild deutlich, wenn sich der Vorhang hebt und alle sich in einem großen Kreis umarmen und gegenseitig Trost spenden. Immerhin arbeiten im Dortmunder Ensemble ukrainische und russische Tänzer*innen zusammen, die berechtigte Angst um ihre Familien in der Heimat haben und hier dennoch ein Zeichen setzen wollen, wie Tanz Völker verbinden kann. FAZITDas Ballett Dortmund begeistert mit modernem Ausdruckstanz in einem neuen dreiteiligen Ballettabend, wobei der dritte Teil mit Bezug auf die momentane politische Situation leider kaum aktueller sein könnte. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Eden / Eden
Choreographie, Inszenierung und Bühne Kostüme Lichtdesign Video Choreographische Einstudierung Tänzerinnen und Tänzer *rezensierte Aufführung
*Javier Cacheiro Alemán
Maquette
Choreographie, Inszenierung und Kostüme
Bühne
Lichtdesign
Dramaturgie
Tänzerinnen und Tänzer
*Sae Tamura
Dust
Choreographie und Inszenierung Choreographische Einstudierung Stage Design Kostüme Lichtdesign Tänzerinnen und Tänzer
*rezensierte Aufführung
Duett
Solo Mann
Tänzerinnen und Tänzer
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