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Vom Ballett der Straße zum Tanz im Wasser Von Thomas Molke / Foto: © Leszek Januszewski
Igor Strawinskys Werke stellen einen Meilenstein in der Erneuerung des Tanztheaters dar, da sie unter dem Impresario Serge Diaghilev mit der legendären Compagnie Ballets Russes den Übergang vom klassischen Handlungsballett zur Moderne einleiteten. Dabei ist erstaunlich, welche stilistische Vielfalt Strawinsky in seinen Kompositionen walten ließ. Während sein 1910 uraufgeführtes Handlungsballett Der Feuervogel, mit dem er einen grandiosen Erfolg verbuchen konnte, noch sehr klassische Konturen aufweist, löst er sich in den späteren Werken immer mehr von diesen Strukturen, was das damalige Publikum bisweilen auch ein bisschen überforderte. So löste sein am 29. Mai 1913 in Paris uraufgeführtes Ballett Le Sacre du Printemps einen der größten Theaterskandale aus, bei dem es im Publikum sogar zu Schlägereien kam, denen die Polizei schließlich Einhalt gebieten musste, um die Aufführung bis zum Schluss durchzuführen. Mittlerweile hat sich Le Sacre du Printemps zu einem Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts entwickelt, das immer wieder Choreographen zu neuen Auseinandersetzungen anspornt. Auch der Dortmunder Ballettdirektor Xin Peng Wang hat sich 2009 mit diesem Werk auseinandergesetzt. Nun widmet er sich in einem Strawinsky-Doppelabend Strawinskys zweitem Handlungsballett Petruschka und hat Edward Clug eingeladen, seine Choreographie des Frühlingsopfers, die mittlerweile fester Bestandteil des internationalen Ballettrepertoires ist, mit der Dortmunder Ballett-Compagnie einzustudieren. Den Anfang macht das am 13. Juni 1911 in Paris uraufgeführte Ballett Petruschka. Nach Strawinskys Sensationserfolg mit dem Feuervogel 1910 hatte er eigentlich schon einen Nachfolgeauftrag für ein anderes Werk bekommen. Aber die Geschichte der Puppe Petruschka, die sich aus dem Spiel befreit und als Geist den Puppenspieler heimsucht, weckte bei Strawinsky größeres Interesse und so schuf er in vier burlesken Szenen ein "Ballett der Straße". Auf einem großen Jahrmarkt während der Butterwoche, einem traditionellen russischen Fest eine Woche vor Beginn der orthodoxen Fastenzeit, werden drei Puppen durch das magische Spiel eines Gauklers zum Leben erweckt: der melancholische Petruschka, die lebensfrohe Ballerina und ein wohlhabender Mann aus dem Morgenland. Petruschka liebt die Ballerina, und sie zeigt sich ihm gegenüber auch nicht abgeneigt, wird aber von dem Reichtum des anderen Mannes mehr angezogen. Es kommt zu einem Zweikampf zwischen den beiden Männern, an dessen Ende Petruschka getötet wird. Der Gaukler beruhigt die aufgebrachten Zuschauer, dass alles nur ein Puppenspiel sei. Doch als der Gaukler am Abend mit den Puppen allein ist, taucht Petruschkas Geist über dem Theater auf und verspottet ihn. Petruschka (Javier Cacheiro Alemán) unterhält das Volk. Xin Peng Wang verzichtet in seiner Choreographie auf das Puppenspiel und inszeniert Petruschka als einen Clown, der optisch an den Comic-Antihelden Joker aus der Verfilmung von Todd Philips aus dem Jahr 2019 erinnert. Bevor die Musik beginnt, hört man das hohle Lachen eines Clowns, das ein wenig bedrohlich klingt, und sieht Javier Cacheiro Alemán, wie er sich für seinen Auftritt bereit macht und eine weiße Harlekinsjacke anzieht. Seine Bewegungen sind leicht abgehackt und gekünstelt, um zu demonstrieren, dass er in eine künstliche Welt schlüpft. Ein riesiges säulenförmiges Bühnenelement wird aus dem Schnürboden herabgelassen, das in der Form an einen Fabrikschlot erinnert. Auf der Oberfläche dieses Schlotes sieht man Filmschnipsel alter Stummfilme, die wohl an das Entstehungsjahr 1911 und Charlie Chaplin erinnern sollen, der mit Strawinsky eng befreundet war. Die übrigen Menschen treten als dunkle Masse wie ferngesteuerte Wesen auf, die sich durch diese reizüberflutete Gesellschaft bewegen. In diesem Ambiente versucht der Clown, Aufmerksamkeit auf sein Spiel zu lenken, was zunächst nicht von Erfolg gekrönt ist. Drei Männer verhöhnen ihn und schlagen ihn schließlich zusammen. Dann taucht das Mädchen (Amanda Vieira) auf, die mit dem auf dem Boden liegenden Petruschka Mitleid hat und ihm aufhilft. Petruschka schöpft Hoffnung auf Anerkennung in dieser kalten Welt. Doch dann taucht der wohlhabende Mann (Simon Jones) auf, der in Wangs Inszenierung "der Chef" heißt. Mit einem Hoverboard zieht Jones die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf sich, der sich auch das Mädchen nicht entziehen kann. So steigt sie zu ihm auf das Hoverboard und verlässt Petruschka, der traurig zurückbleibt. Dann macht Wang einen Zeitsprung. Die Videoeinspielungen werden nun futuristischer, und die Kostüme zeigen in bunten Farben, dass man näher an der Gegenwart ist. Petruschka kehrt erfolgreich in die Stadt zurück. Während er bei den Frauen sehr gut ankommt, gibt es bei den Männern zahlreiche Neider. Vor allem ein Polizist (Márcio Barros Mota) missgönnt ihm seinen Erfolg. Die Spielzeugwaffe Petruschkas wird absichtlich fehlinterpretiert, so dass der Polizist einen Grund hat, Petruschka zu töten. Das Mädchen klärt zwar den Irrtum auf, aber die Gesellschaft interessiert sich nicht dafür. Das Stück endet erneut mit dem hohlen Lachen des Clowns. War alles nur ein Spiel? Javier Cacheiro Alemán überzeugt in der Titelrolle mit großartigem Ausdruck und kraftvollen Bewegungen. Man leidet mit ihm, auch wenn seine Gesichtszüge ein wenig unheimlich wirken. Amanda Vieira gestaltet das Mädchen mit Liebreiz und Anmut. Simon Jones gibt den Chef sehr kühl und unnahbar, und Márcio Barros Mota zeichnet den Polizisten als eigentlichen Bösewicht des Stückes, der letztendlich die Katastrophe herbeiführt. Das Ensemble überzeugt als Masse durch ein abstraktes Bewegungsvokabular, und Motonori Kobayashi lotet mit den Dortmunder Philharmonikern die Geschichte musikalisch bildhaft aus. Le Sacre du Printemps: Ensemble Nach der Pause folgt dann Le Sacre du Printemps. Edward Clug, der dem Dortmunder Publikum noch durch seine Choreographie Hora aus dem vierteiligen Ballettabend Kontraste in Erinnerung sein dürfte (siehe auch unsere Rezension), bringt die Choreographie, die der Ballettdirektor am Slowenischen Nationaltheater in Maribor 2012 zum 130. Geburtstagsjubiläum Strawinskys mit seiner Compagnie kreiert hat und die mittlerweile wie Pina Bauschs legendäre Choreographie zum internationalen Ballettrepertoire zählt, nun mit dem Dortmunder Ensemble heraus. Anders als bei Bausch, bei der das zentrale Element der Torf auf dem Bühnenboden ist, verwendet Clug das Element Wasser, das symbolisch dem weiblichen Prinzip zugeordnet wird und für Liebe, Fruchtbarkeit, Gefühle und Reinigung steht. Im Zentrum steht dabei die Suche nach einem Mädchen als Opfer, das die heidnischen Götter gnädig stimmen soll. Zunächst sieht man sechs Tänzer und sechs Tänzerinnen in hautfarbenen Kostümen auf einer leeren Bühne stehen, die in getrennten Gruppen den Rhythmus der Musik in eine abstrakte Bewegungssprache umsetzen. Die Bühne ist von einem leichten Grauton eingerahmt, der für perlendes klares Wasser stehen könnte, das zu einem späteren Zeitpunkt aus dem Schnürboden auf die Tänzerinnen und Tänzer herabstürzt. Einzelne Tänzerinnen und Tänzer brechen aus ihrer Gruppe aus und suchen einen Platz in der jeweils anderen Gruppe, kehren aber immer wieder zu der nach Geschlechter getrennten Aufteilung zurück. Erst allmählich finden sich die Tänzerinnen und Tänzer zu Paaren zusammen. Dabei wird deutlich, dass alle auf der Suche nach dem Opfer für das bevorstehende Ritual sind. Die Compagnie begeistert dabei durch eine punktgenaue und kraftvolle Bewegungssprache. Das Opfer (Sae Tamura) ist gefunden (im Hintergrund: Ensemble). Dann verschwindet der Hintergrund hinter schwarzen Vorhängen und aus dem Schnürboden stürzen Wasserfontänen auf die Tänzerinnen und Tänzer herab, die die Bühne unter Wasser setzen. Die Bewegungen werden nun vorsichtiger, da die Bühne rutschig ist. Jeder falsche Schritt kann fatal sein. Die Tänzer lassen die Frauen schwanengleich über die Bühne gleiten. Dabei nehmen die Tänzerinnen elegante Posen ein. Jede will dem Ideal entsprechen, um den Männern zu gefallen. Doch eine Frau (Sae Tamura) tanzt in gewisser Weise aus der Reihe und wird damit zum Opfer. Zunächst versucht sie noch, dieser Rolle zu entkommen. Doch die anderen lösen ihre streng gebundenen Haare. Während das Opfer sich zu Tode tanzt, rieselt erneut Wasser aus dem Schürboden herab. Tamura setzt daher beim ekstatischen Tanz vor allem ihren Oberkörper ein und bleibt mit den Füßen größtenteils auf dem Boden. Auf dem Höhepunkt bricht sie schließlich zusammen. Die anderen Tänzerinnen und Tänzer umringen sie und betrachten das Opfer. Dann schieben sie es in den Hintergrund. Lautlos gleitet Tamura auf dem Wasser nach hinten, während sich der Vorhang senkt. Auch dieser Teil wird von den Dortmunder Philharmonikern unter der Leitung von Motonori Kobayashi musikalisch intensiv untermalt. Das Publikum spendet zu Recht euphorischen Beifall für diese eindrucksvolle Choreographie. FAZITDas Ballett Dortmund überzeugt mit zwei recht unterschiedlichen Choreographien, wobei man Clugs Sacre ähnlichen Kult-Status zusprechen kann wie der Deutung von Pina Bausch. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Dramaturgie
Dortmunder Philharmoniker
Petruschka
Choreographie und Inszenierung Konzept, Szenario Bühnenbild, Videodesign Kostüme Lichtesign Tänzerinnen und Tänzer *Premierenbesetzung
Petruschka
Das Mädchen
Der Chef
Der Polizist
Damen
Herren
Le Sacre du Printemps
Choreographie, Inszenierung
Choreographische Einstudierung
Bühnenbild
Kostüme
Lichtdesign Tänzerinnen und Tänzer
Opfer
Damen
Herren
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