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Woran glauben wir?
Von Stefan Schmöe
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Fotos von Forster
Rein sportlich betrachtet ist der virtuose Solo-Trompeter der Sieger des Abends, denn der kommt im Finale mit klarem Vorsprung ins Ziel. Vielleicht war er ja genervt, dass die von Dirigent Alexander Eberle (dem Chordiektor am Musiktheater im Revier) vorgegebenen Tempi den ganzen Premierenabend über reichlich instabil sind und ambitioniert flott begonnene Nummern oft alsbald an Schwung verlieren. Wobei allzu oft Sänger, Chor oder einzelne Instrumentengruppen eigene Wege gehen - was auch bedeutet, dass der vibratoreiche Chor ziemlich inhomogen klingt und immer wieder Solostimmen hervortreten oder die Intonation (etwa bei der solistisch besetzen Choralvariation Gute Nacht, o Wesen aus Bachs Motette Jesu, meine Freude) wackelt. Dabei ist Bachs Weihnachtsoratorium, die musikalische Hauptingredienz dieser Produktion, ja kein gänzlich unbekanntes Stück, um es vorsichtig zu formulieren, und wird regelmäßig auch von besseren Laienensembles ganz passabel gemeistert. Und wäre hier der Solotrompeter tatsächlich der Meinung gewesen: Jetzt reicht's aber, das alles hier muss ein schnelles Ende finden, man könnte es ihm nachfühlen. In dieser Uneinigkeit steht die Nummer durchaus symbolisch für einen Premierenabend, an dem auch szenisch vieles nicht zusammenpasst, was zusammenpassen sollte.
"Woran glauben wir?" Bürgerinnen und Bürger aus Gelsenkirchen haben im Videointerview geantwortet, und das wird großformatig zu Beginn des Stückes projiziert.
Gelsenkirchens Intendant Michael Schulz persönlich hat dieses Stück konzipiert und inszeniert, das unter dem Titel Jauchzet, frohlocket damit kokettiert, "das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach" zu spielen. Es ist allerding nur ein "Best of" geworden, ein paar Chöre und Arien, kaum Choräle, wenig vom Evangelisten. Natürlich ist der Eingangschor Jauchzet, frohlocket darunter, allerdings derartig martialisch abgehackt gesungen, dass er unfreiwillig in die Nähe eines Marsches gerät, da rettet auch der eigentlich marschunfähige Dreiertakt nichts mehr. Schulz nimmt die in Bachs Oratorium erzählte Weihnachtsgeschichte als Grundlage für eine lose Szenenfolge ohne echte Handlung, die aber allerlei Motive der Erzählung aufgreift. Im Zentrum steht ein junges Paar, im Programmheft als "die fremde Frau" und "der fremde Mann" bezeichnet, was natürlich auf Maria und Josef anspielt, später auch ikonographisch. Grundsätzlich sehen die beiden (Bele Kumberger, Philipp Kranjc) aber gar nicht so fremd aus, eher wie Bio-Bauern von der Schwäbischen Alb, vermutlich moderate Impfgegner, was gegenüber dem teilweise mit medizinischer Maske singenden Opernchor allerdings auch ein gewisses Maß an Fremdheit ausmachen würde. Dieser Chor ist ausstaffiert als ein Musterbeispiel an multikultureller Diversität, da hat Kostümbildnerin Renée Listerdal ganze Arbeit geleistet (oder effektiv den Fundus geplündert), und in seiner demonstrativen Vielfalt ist das schon wieder hart am Kitsch. Ja, wir alle sind gemeint, über Religionen und Nationalitäten hinweg, es geht um unser aller Bedürfnis nach Glaubensgewissheiten in einer Welt voller Gewalt und Aggression. Das ist ebenso richtig wie beliebig.
Die Hexen in Carl Orffs Ludus de nato infante mirificus feiern die Geburts des Kindes im Stall auf ganz eigene Weise.
Aber bis zum ersten Chorauftritt ist es ein recht langer Weg. Zunächst beginnt der Abend ganz stark: Gabor Hollós hat mit etlichen Gelsenkirchener Bürgerinnen und Bürger unterschiedlichsten Alters Videointerviews geführt, vor neutralem Hintergrund toll gefilmt, und darin geht es um die Fragen "Woran glauben wir?", "Wenn es einen Messias gäbe, wie sähe er aus?" und "Was kann uns erlösen?" Die Offenheit der Antworten ist entwaffnend und berührend, und diese Filmsequenzen sind ein Kunstwerk für sich geworden. Eingespielt werden sie auf eine riesige Leinwand, wenn man den Zuschauerraum betritt (auch nach der Pause), und sie geben den Rahmen ab für das, was auf der Bühne folgt. Es tut allerdings weh, wenn ihnen dann unbarmherzig der Ton abgedreht wird, weil das Orchester stimmen muss - da hätten sich wohl respektvollere Lösungen finden lassen. Dann gibt es statt Bach erst einmal die erste Szene aus einem sehr rätselhaften Stück von Carl Orff zu sehen und hören, dem Ludus de nato infante mirificus (Wundersames Spiel von der Geburt des Kindes. Dieses archaische Krippenspiel in alpenländischer Tradition beginnt mit einem Auftritt von Hexen, die in einem Zauberglas die Geburt Christi verfolgen und zu verhindern versuchen. Zu spröder Schlagzeugbegleitung hat Orff hier in altbairischem Idiom den Text in rhythmisierter Sprache organisiert - durchaus faszinierend, zumal Colin Danderski, Gloria Iberl-Thieme, Daniel Jeroma, Johanna Kunze und Merten Schroedter (das ist das Team des Puppentheater am MiR) trotz ziemlich alberner Kostüme großartig spielen und sprechen.
Papst Bonifatius VIII. im Puppenspiel
Dann endlich kommt der versprochene Bach, wobei Adam Temple-Smith als Evangelist (mit unausgeglichenem, im Verlauf der Aufführung an Sicherheit gewinnendem Tenor) auch auf der Bühne eine Art Erzähler gibt. Recht bald singt Bele Kumberger ganz hübsch zwei Lieder von Hanns Eisler nach Texten von Bertold Brecht (Das Lied von der Moldau, Lied einer proletarischen Mutter) und bringt Kritik an Kapitalismus und Militarismus ein. Zwischendurch gibt es einen szenischen Monolog von Dario Fo, Bonifatius VIII, geschrieben 1969. Darin spricht der dekadente Papst Bonifatius VIII. (1285 - 1303) mit dem gekreuzigten Jesus - eine surreale Szene, erneut großartig dargestellt vom Puppentheater am Musiktheater im Revier (MiR) mit überlebensgroßer Pabstfigut mit glitzerndem Totenkopf, wie überhaupt die Puppenspielszenen die stärksten Bühnenmomente sind. Auch Herodes und, sehr eindrucksvoll, die Weisen aus dem Morgenland, werden durch Puppenspiel dargestellt, dazu noch zwei Kinder, die eine Pistole geschenkt bekommen, womit der Junge das Mädchen umgehend erschießt. Ach ja, diese Welt ist einfach zu gewalttätig.
Die fremde Frau und der fremde Mann im Zelt; links schaut der Evangelist zu, rechts Countertenor Etienne Welch und Mezzosopranistin Almuth Herbst
Regisseur Schulz will viel, letztendlich zu viel, und dadurch zersplittert das Stück trotz ein paar starker Szenen. Natürlich muss Theater keine Antworten präsentieren, sondern kann - wie hier - Fragen aufwerfen. Aber Schulz' Mischung (im Programmheftchen heißt nennt sich das "Kaleidoskop") aus ein bisschen Erzählung, ein paar bildhaften (eher wenig gelungenen) Assoziationen, sehr unterschiedlichen Blicken auf das Weihnachtsgeschehen und einer durchaus gewagten Musikauswahl fügt sich nicht recht zu einem großen Ganzen zusammen. Zumal die musikalische Seite arg enttäuscht. Arvo Pärts kurze fünfstimmige Motette The deer's cry (2008), vom Solistenensemble in kleiner Besetzung angenehm schlicht gesungen, gelingt noch recht gut. Die Schwierigkeiten mit Bach wurden schon angesprochen und setzen sich auch im Eingangschor der Kantate Unser Mund sei voll Lachens BWV 110 fort. Die Idee, einzelne Arien auf verschiedene Solisten aufzuteilen, überzeugt nicht, zumal Szene und Musik nicht immer zusammenpassen. So in der Tenorarie Ich will nur Dir zu Ehren leben (aus der vierten Kantate des Weihnachtsoratoriums), in der die Tenöre Tobias Glagau und Adam Temple-Smith im Wechsel wie im Wettstreit gegeneinander singen (und das durchaus eindrucksvoll), aber auf der Bühne streiten gar nicht diese beiden, sondern Glagau und Bariton Philipp Kranjc (der "fremde Mann", der mit Bach unüberhörbar fremdelt, hier aber nichts zu singen hat) um die Frau. Die Szene gerät unfreiwillig zum komischen Koloratur-Contest. (Sagen wir mal adventlich-friedlich: Er geht unentschieden aus.)
Dongmin Lee singt ja ganz hübsch, aber die Mischung aus Weihnachtsengel und kerzentragender Lucia ist, nun ja, gewöhnungsbedürftig.
Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt: Auf der musikalischen Haben-Seite stehen Mercy Malieloa mit schönem, klaren Sopran und Countertenor Etienne Walch, beide aus dem theaterübergreifenden Opernstudio NRW, sowie die souverän und unprätentiös singende Mezzosopranistin Almuth Herbst. Bassist Urban Malmberg gibt sich solide, die Neue Philharmonie Westfalen hat gute und unaufmerksame Momente. Und fehlende Stringenz hin oder her: Zumindest bei Teilen des Publikums kommt der Abend gut an. Großer Jubel bei den einen, stilles Kopfschütteln bei den anderen.
Michael Schulz serviert zum Weihnachtsfest einen Kessel Buntes mit ein paar tollen Momenten (vor allem im Puppenspiel und den Videointerviews) und viel angestrengter Botschaft. Musikalisch hat das MiR schon bessere Abende erlebt.
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ProduktionsteamMusikalische Leitung
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Puppenentwurf und Puppenbau
Video
Chor
Licht
Ton
Dramaturgie
Solisten
Evangelist
Die fremde Frau
Der fremde Mann
Puppenspieler*innen
Solist*innen
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