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Die ambivalente Macht der Tradition
Von Stefan Schmöe
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Fotos von Björn Hickmann (© Theater Hagen)
Nein, schön war dieses Anatevka, irgendwo im ukrainischen Niemandsland gelegen, nie. Armut, Klatsch und Tratsch prägen das Leben, und das Zusammenleben der jüdischen Gemeinde im Jahr 1905 mit der christlich-russischen funktioniert mehr schlecht als recht. Im besten Falle geht man sich aus dem Weg, im schlechtesten schikaniert man einander. Und was als "Tradition" hochgehalten wird, zementiert die Hierarchien. Ein folkloristisches Idyll ist das nicht, sondern ein heruntergekommenes Schtetl, ein Kleinstadtviertel - Tevje, die Hauptfigur, ist Milchmann und kein Bauer. Darauf weist Regisseur Thomas Weber-Schallauer im Programmheft hin, und die schmucklose Bühne mit gesichtslosen Hausfassaden, die das Leben zu erdrücken scheinen (Bühnenbild: Alfred Peter), unterstreicht das, wobei der schnelle Wechsel zwischen Innen- und Außenräumen auch schon mal ziemlich improvisiert aussieht. Die Klischees vom jüdischen Zusammenleben sollen nicht übermäßig bedient werden, wobei die Kostüme (Yvonne Forster) durchaus traditionell sind - und der (ohnehin recht bemühten) Choreographie (Ricardo De Nigris) nicht viel anderes einfällt. Aber insgesamt gelingt es doch sehr gut, die Balance zu halten zwischen einer nie heilen, aber doch geborgenen Welt und der Realität von Vertreibung und Heimatlosigkeit, in der das Stück endet. Hadern mit Gott: Tevje, der Milchmann
Anatevka ist nach der Corona-Zwangspause für das Theater Hagen auch eine Art Wiederauferstehung: Ein großes Ensemblestück, angefangen beim Orchester, das unter der Leitung von Steffen Müller-Gabriel ganz wunderbar als große Klezmer-Band den richtigen Ton trifft; über den sehr engagiert singenden und spielenden Chor mit diversen kleinen Solopartien und die Ballettcompagnie bis zum großen Solistenensemble, wobei die Opernsparte da eher schlecht wegkommt - Kristina Larissa Funkenhauser als Tevjes Frau Golde hat sich in anderen Rollen vermutlich stimmlich wohler gefühlt als hier, wo ihr opernhafter Sopran nicht so recht passen will, aber auch sie bewältigt bravourös die sehr genaue Personenregie und zeigt einen vielschichtigen Charakter; die Pragmatikerin, die partout nicht von Liebe reden will, aber hinter der harten Oberfläche jede Menge davon erahnen lässt. Eine Figur, die vorführt, wie komplex, widersprüchlich, irrational Menschen handeln können, wenn sie in ihrer Rolle verhaftet sind - und die zur vielleicht größten Revolutionärin wird, wenn ihre Mutterliebe ohne Zögern alle Konventionen außer Kraft setzt, als ihre Tochter Chava mit dem Russen Fedja, aus jüdischer Perspektive ein Ungläubiger, durchbrennt. Letztendlich doch kein Fall für Heiratsvermittlerin Jente (links): Tevjes Ehefrau Golde mit den fünf Töchtern
Wie schwer das sein kann, Widersprüche auszuhalten, zeigt Tevje, der Milchmann, der seine älteste Tochter Zeitel mit dem reichen Metzger verheiraten will und doch der Liebeshochzeit mit dem armen Schneider zustimmt; der die Zweitälteste, Hodel, dem revolutionär gesinnten Studenten Perchik nach Sibirien folgen lässt, und der zerrissen wird zwischen seinen Idealen und der Vaterrolle, als Chava, die Drittälteste, mit einem Russen anbändelt und der Familie und ihrer jüdischen Herkunft den Rücken kehrt. Ansgar Schäfer spielt diesen Tevje mit einer Wucht, dass er zum absoluten Gravitationszentrum der Aufführung wird. Ein Mann, der seine Überzeugungen Stück für Stück aufgibt, aber nicht aus Charakterlosigkeit, sondern weil er lernfähig ist - bis es an die Fundamente seiner Persönlichkeit geht. Auch einer, der wüten kann, der schreit und tobt, der offen legt, wie schwer es sein kann, seine Kinder in die Welt der Erwachsenen zu entlassen. Schäfer macht das großartig, singt zudem sein populäres "Wenn ich einmal reich wär´" mit einer provozierenden Lässigkeit, die ihn zum Verbündeten von Brechts und Weills Seeräuber-Jenny aus der Dreigroschenoper machen könnte: Das sind nicht einfach Tagträumereien vom eigenen Glück, sondern ziemlich gesellschaftskritische Reflexionen. Neue Zeit: Der Student Perchik fordert Hodel zum Tanz auf, ein klarer Bruch mit der Tradition. Und das auf der Hochzeit von Zeitel und Mottel (hinten).
Diese Premiere verstolpert die erste halbe Stunde, weil fast alle zu schnell und zu undeutlich sprechen und sich offenbar erst wieder an das Theater und seinen ganz eigenen Rhythmus gewöhnen müssen. Es braucht seine Zeit, bis die Aufführung die Ruhe findet, ihre Figuren zu entwickeln. Dann aber gelingen schöne Charakterstudien wie die des scheinbar groben, innerlich verletzlichen Metzgers Lazar Wolf (Ralf Grobel) oder des plötzlich erwachsen werdenden Schneiders Mottel Kamzoil (Matthias Knaab). Und am Ende reißt es das Publikum schnell von den Sitzen, um dem sehr engagierten Ensemble stehend zu applaudieren für eine bewegende Aufführung. Anatevka ist nicht nur aktuell, weil es im Progrom gegen die jüdische Bevölkerung und der nachfolgenden Vertreibung den Antisemitismus aufgreift, ein paar Tage nach dem vereitelten Anschlag auf die Hagener Synagoge von trauriger Brisanz, woran auch Intendant Francis Hüser vor der Aufführung erinnerte. Am Abend vor der Bundestagswahl, wo auf blauen Wahlplakaten der vergiftete Ruf nach "Deutschland, aber normal" prangt, stellt das Stück eben die vermeintliche Normalität infrage, zeigt die Ambivalenz des Begriffs "Tradition", der nicht einmal dem nächsten Generationenkonflikt standhält. Das Ende des jüdischen Lebens in Anatevka: Der Wachtmeister teilt mit, dass die jüdische Bevölkerung binnen drei Tagen die Stadt verlassen muss
Es geht darum, erwachsen zu werden und Verantwortung zu übernehmen - für sich und die eigene Familie wie Zeitel und Mottel, oder auch gleich für die ganze Welt wie Hodel und Perchik, oder im entscheidenden Moment "nein" zu sagen zu Gewalt und Diskriminierung und die utopische Liebe zu wagen wie Chava und Fedja. Es geht, natürlich, um Flucht und Vertreibung und den Verlust von Heimat. Und es geht darum, eine so komplizierte Welt auszuhalten. Und weil die Frage nach der Systemrelevanz von Kultur nach den Monaten des Lockdowns ja immer noch im Raum steht: Das Theater weiß keine einfachen Antworten, aber es weiß in diesen drei Stunden viel mehr all diesen Dingen, vor allem aber vom Menschen und von Menschlichkeit, als zuletzt in irgendwelchen Triellen zu hören war.
Starker Saisonauftakt mit einer bewegenden Musicalproduktion, die bei allen Unterhaltungsqualitäten sehr ernst danach fragt, was Heimat und Tradition in einer sich ständig verändernden Welt bedeuten. Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Choreographie
Bühne
Kostüme
Licht
Chor
Dramaturgie
Solisten* Besetzung der rezensierten Aufführung
Tevje, ein Milchmann
Golde, seine Frau
Zeitel, seine Tochter
Hodel, seine Tochter
Chava, seine Tochter
Sprintze, seine Tochter
Bielke, seine Tochter
Jente, eine Heiratsvermittlerin
Mottel Kamzoil, ein Schneider
Schandel, seine Mutter
Perchik, ein Student
Lazar Wolf, ein Metzger
Motschach, ein Gastwirt
Rabbi
Mendel, sein Sohn
Awram, ein Buchhändler
Nachum, ein Bettler
Oma Zeitel, Goldes Großmutter
Fruma-Sara, Lazar Wolfs erste Frau
Jussel, ein Hutmacher
Wachtmeister
Fedja, ein junger Russe
Sascha, sein Freund
1. Russe
Der Fiedler auf dem Dach
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