Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
|
|
Wir konsumieren uns zu Tode
Von Stefan Schmöe
/
Fotos von Björn Hickmann (© Theater Hagen)
Am Ende dieses Premierenabends (oder besser Nachmittags, denn alle Aufführungen beginnen bereits um 15 Uhr) sitzt man einigermaßen verblüfft da über das, was man soeben gehört hat. Den Parsifal hat Richard Wagner für die spezielle Akustik des Bayreuther Festspielhauses mit dem unsichtbaren, auch akustisch zurückgenommenen Orchester komponiert. Das Theater Hagen bietet in vieler Hinsicht das Gegenteil: Kleine Abstände, einen direkten, durchaus knalligen Klang, für die Gesangsstimmen zudem oft abhängig von der Position auf der Bühne. Aber wie Hagens Generalmusikdirektor Joseph Trafton und das famos aufspielende Philharmonische Orchester Hagen daraus einen in vieler Hinsicht ganz anders klingenden, aber sehr aufregenden Parsifal machen, das ist eine kleine Sensation. Märchenerzähler: Gurnemanz berichtet vom Gral
Trafton wählt flüssige, aber nicht unbedingt schnelle Tempi; der ruhige Grundcharakter ist gewahrt, trotzdem geht die Musik voran. Es kann ganz schön krachen lassen, aber sobald eine Singstimme einsetzt, nimmt das Orchester die Lautstärke zurück, sodass die Stimmen nie zugedeckt werden und sogar der Text gut verständlich bleibt. Und dieser Wechsel gelingt ausgesprochen homogen - die Musik bleibt mit großer Selbstverständlichkeit im Fluss. An vielen Stellen wird die Struktur der Komposition klarer hörbar als bei anderen Aufführungen, etwa bei den Chören, die sich hier nicht zu einem großen Klang mischen, sondern blockhaft erklingen: Da wird deutlich, wie Wagner die verschiedenen Chorgruppen gegeneinander setzt, und plötzlich gewinnt die Szene eine Spannung, die im Verschmelzen der Stimmen verloren geht. Der Kontrast zwischen den Männerchören an der Rampe und den sehr fernen unsichtbaren Frauenchören ist groß, was in dieser extremen Form gewöhnungsbedürftig ist, aber auch eine ganz eigene Klangdramaturgie schafft. Sicher gibt es auch Passagen, in denen die Klangbalance nicht ideal ist, aber alles in allem gelingt eine musikalisch sehr spannende Interpretation. Über den mehr erzählerischen als oratorisch statischen Gestus hinaus hat das Orchester einen Klang entwickelt, der zum Haus und dessen Akustik passt, der schlank (aber nicht dünn) und warm ist, aber auch pointiert die Kanten der Musik herausarbeiten kann. Das war schon in Herzog Blaubarts Burg zu hören, auch unter Traftons Dirigat, aber auch in Hänsel und Gretel unter der Leitung von Kapellmeister Rodrigo Tomillo. Gralsenthüllung: Amfortas mit Bonsai
Auch die sängerischen Leistungen können sich hören lassen. Aus dem hauseigenen Ensemble glänzt Dong-Won Seo als eloquenter, genau deklamierender, keineswegs altväterlicher Gurnemanz, und Angela Davis ist eine lyrisch timbrierte Kundry, die aber im zweiten Teil des zweiten Aufzugs mit beeindruckender dramatischer Attacke imponiert und der Figur absolut gerecht wird. Hinzu kommt Insu Hwang als recht jugendlich auftrumpfender Amfortas. Auch die kleineren Partien bewältigt das Hagener Ensemble sehr gut. Mit Gästen besetzt sind die Titelpartie, in der Corby Welch mit beweglichem und höhensicheren, nicht allzu heldischem Tenor sich gut in den Gesamtklang einfügt; Jaco Venter gibt einen zupackenden Klingsor, Ivo Stánchev einen soliden Titurel. Sehr schön und entrückt klingt der Frauenchor hinter der Bühne; schwerer haben es die Herren, die an der Rampe agieren, wo man jeden kleinen Wackler hört - der um Gäste verstärkte Chor und der Extrachor des Theaters (Einstudierung: Wolfgang Müller-Salow) schlagen sich wacker. Verführungsversuch: Parsifal und Blumenmädchen
So wird dieser Parsifal ein eindrucksvolles Hörereignis, das durch die oft kleinteiligen Aktionen auf der Bühne leider mehr gestört als unterstützt wird. Regisseurin Nilufar K. Münzing kann mit dem sexualfeindlichen Enthaltsamkeitspathos der Gralsritter nichts anfangen (und weiß sich da einig mit Größen wie Nietzsche und Debussy). Sie deutet das Motiv des sexuell-erotischen Verlangens um in ein zunächst sehr allgemeines, unbestimmtes Bedürfnis, etwas haben zu wollen, und von dort zum Bedürfnis nach materiellem Konsum. Und so wird die Gralsburg zur Ruine eines Einkaufszentrums, in der Gurnemanz es sich unter einer Feuertreppe ganz behaglich eingerichtet hat und ein kleinbürgerliches Leben mit vielen Büchern, gemütlichem Sessel und Strickjacke führt. Der Gral, das ist die Natur, für die hier stellvertretend ein Baum steht - nun ja, ein Bäumchen, ein Bonsai im Schrein (ein Wunder, wie der ohne Luft und Licht und Wasser überleben kann). Irgendwie muss man sich zusammenreinem: Der Mensch hat im Kaufrausch die Natur offenbar weitestgehend ausgerottet (per Videosequenz mündet die industrielle Produktion kurzerhand in der Nuklearkatastrophe), und die Gralsritter sind die letzten Ökogärtner, die offenbar langfristig eine Wiederaufforstung planen. Das ist vom Grundgedanken vielleicht sogar noch ganz hübsch, aber es gelingt der angestrengten Regie überhaupt nicht, das szenisch auch nur annähernd plausibel zu machen. Zweierbeziehung: Parsifal und Kundry
Warum ist Gurnemanz, das personifizierte Gewissen der Gralsritterschaft und gleichzeitig ihr Chronist, so bieder gekleidet, während König Amfortas und König a.D. Titurel mit knallblauen Anzügen, die namenlosen Ritter mit abstrakten, ein wenig asiatisch aussehenden und ein wenig uniformen Fantasiekostümen ausstaffiert sind? Das passt ebenso wenig zusammen wie der ganz konventionelle heilige Speer zur Kaufhausruine. Das Konzept wird weder vom Text noch von der Geschichte und schon gar nicht von der Musik beglaubigt. Und selbst da, wo es leidlich funktioniert, findet das Regieteam (Bühne: Britta Lammers, Kostüme: Uta Gruber-Ballehr) keine zwingenden Bildlösungen. Die Kaufhausruine mit defekter Leuchtreklame, die einst wohl das "Paradies" versprach, bleibt ein Symbol für die Grundidee; aber welche Rolle dieser Raum in dieser Geschichte spielt, erschließt sich nicht. Karfreitagszauber: Gurnemanz und allerlei Getier
An der Grenze zur Lächerlichkeit bewegen sich viele kleine Szenen, die den Grundgedanken irgendwie legitimieren sollen: Kundry als Klimaaktivistin im Stile von Greta Thunberg, die prompt von einer Partygesellschaft verprügelt wird; Videosequenzen von industrieller Fertigung und einem Atompilz (die Nuklearkatastrophe scheint die unausweichliche Folge des Konsums zu sein); eine Bilderbuch-Christusfigur (die natürlich von Kundry verlacht wird). Oft werden solche Mini-Szenen unmotiviert eingeschoben, wohl um den großen Leitgedanken "zerstöre die Umwelt nicht" zu verdeutlichen. Das ist nicht einmal unsympathisch, aber es funktioniert hinten und vorne nicht. Am besten gelingt noch der ziemlich konventionell angelegte zweite Aufzug: Klingsor als Schöpfer einer Plastikwelt - das kann man im Programmheft nachlesen, auf der Bühne allerdings nicht nachvollziehen (dazu ist sein Mini-Labor allzu unbedeutend geraten); die hübsch anzusehenden Blumenmädchen agieren wie eh und je, und hier ist die oft unbeholfene Regie zumindest handwerklich ganz ordentlich. Wer hier wie und warum erlöst wird, bleibt offen. Am Ende wird vom Schnürboden ein neuer Baum heruntergelassen, der immerhin Reihenhausgartenformat hat. Immerhin besser als ein Bonsai.
Szenisch kommt die gut gemeinte Inszenierung nicht über albernen Ökokitsch hinaus, aber musikalisch ist dieser Parsifal ausgesprochen spannend. Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Licht und Video
Chor
Dramaturgie
Solisten* Besetzung der Premiere
Amfortas
Titurel
Gurnemanz
Parsifal
Klingsor
Kundry
Erster Gralsritter
Zweiter Gralsritter
Erster Knappe
Zweiter Knappe
Dritter Knappe
Vierter Knappe
Erstes Blumenmädchen
Zweites Blumenmädchen
Drittes Blumenmädchen
Viertes Blumenmädchen
Fünftes Blumenmädchen
Sechstes Blumenmädchen
Stimme aus der Höhe
|
© 2022 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de