Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
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Fragwürdige Reizüberflutung Von Bernd Stopka / Fotos von N. Klinger Durch das Staatstheater Kassel weht ein kräftiger Wind der Veränderung. Unter dem neuen Intendanten Florian Lutz präsentierte sich in der Pressekonferenz zu dieser ersten Saison ein hochmotiviertes neues Leitungsteam und verkündete ein sozialpädagogisch-intellektuell orientiertes Gesamtkonzept mit u. a. „interdisziplinären Projekten“ und „partizipativem Musiktheater“. Auch möchte man die Menschen aus Kassel und Umgebung, die sich bisher nicht für das Theater interessiert haben, stärker mit einbeziehen, sie aber nicht nur ins Theater locken, sondern auch das Theater selbst zu ihnen bringen, in die Stadt hinausgehen, an für ein Staatstheater ungewöhnliche Orte (z. B. Clubs). Das alles wird in einer Sprache verkündet, die nicht unbedingt geeignet ist, bildungsferneren Bevölkerungsschichten das Theater näher zu bringen. Sicher wird die Ausführung dann aber allgemeinverständlicher ausfallen. Blick auf die Mitte der Bühne vom Pandaemonium aus
Im Opernhaus steht als Eröffnungspremiere Alban Bergs Wozzeck
auf dem
Programm und
man beginnt
mit einem ganz
besonderen
Effekt, indem
man den
Zuschauerraum
auf die Bühne
ausdehnt und
einen Teil des
Publikums um
das Geschehen
herum sitzen
lässt. In
Kassel ist ein
solcher Ansatz nicht ganz unbekannt: Man
erinnert sich
an die
Zeiten des
„Kuppeltheater“
genannten
Zeltes als
Ausweichspielstätte
auf dem
Friedrichsplatz
in den Jahren
der Sanierung
des Hauses
2004 bis 2007.
Die klassische
Definition des
Wortes als
grauenvoller
Aufenthaltsort
aller Dämonen
in ihrer
Gesamtheit
verwirrt
entweder oder
lässt tief
blicken und
Wildes
erwarten.
Nebenbei ist
es aber auch
eine ironische
Wortspielerei
in Bezug auf
die Pandemie,
die uns
weiterhin
dämonisch
unter ihrer
Knute
hält. Andres (Andrés Felipe Agudelo) und Wozzeck (Filippo Bettoschi) an ihren Packstationen Beim Eintritt ins Theater und auf dem Weg zum Sitzplatz wird man gleich zweimal von an Flugbegleiter in türkis/weiß erinnernde Damen und Herren begrüßt. „Schön, dass ihr da seid.“ und „Genießt die Challenge“. Herausforderungen warten reichlich. „Heute geht die Demokratie live“ und „Bei der Wahl geben Sie ihre Stimme ab, wir geben sie Ihnen zurück“ sind Aussagen, die sich gleich zu Beginn erklären: Der regieführende Intendant Florian Lutz sieht im Hauptmann einen Politiker, einen Lobbyisten, der vom Hersteller des Nahrungsersatzmittels BIO FUEL finanziert wird und seinerseits versucht, das Mittel durch politische Arbeit und Gesetze auf dem Markt zu etablieren.
Auf den
diversen
Bildschirmen
werden auch
immer wieder
Aufzeichnungen
zu
verschiedenen
Themen
gezeigt, teils
als
Statements,
teils als
Werbefilme,
die das
Nahrungsersatzmittel
preisen und
vor den
vielfältigen
Folgen
schlechter
Ernährung
warnen. Die
Oper wird
dreimal durch
eingefügte
Aktionen
unterbrochen,
bei denen der
Hauptmann in
türkiser Robe
Abstimmungen
und
Publikumsbefragungen
zu Gesetzen
wie ein
Showmaster
zelebriert,
teils in Form
eines Rankings
(sehr beliebt
online und im
Fernsehen).
Papierne
Wahlunterlagen
werden
geräuschvoll
(wie so vieles
an diesem
Abend) ans
Publikum
verteilt, es
gibt aber auch
die
Möglichkeit
online mit dem
Mobiltelefon
abzustimmen.
Die Zuschauer
sollen
priorisieren:
Gesundheit,
Hygiene- und
Kontaktbestimmungen
und
Gewaltprävention.
Auf den
Bildschirmen
ist dann auch
das Ergebnis
der Abstimmung
zu sehen (auf
dem größten
Bildschirm,
der vom
Pandaemonium
aus zu sehen
ist, schwer
lesbar
seitenverkehrt).
Der Doktor (im
weißen Anzug
und mit roten
Schuhen)
erprobt an
Wozzeck wie
bekannt die
ausschließliche
Ernährung von
Bohnen (was
einen
historischen
Hintergrund
hat), der
Hauptmann
setzt auf das
ebenfalls aus
Hülsenfrüchten
gewonnene
Dosenprodukt
BIO FUEL. Auch
deshalb können
sich die
beiden wohl
nicht leiden.
Wozzeck und
Andres
schneiden
keine
Weidenstöcke
für den
Hauptmann,
sondern sind
eifrige
Mitarbeiter in
Verpackung und
Versand des
Produktes,
ausgestattet
wie
Paketauslieferer
heutiger
Zustelldienste
(Kostüme:
Mechthild
Feuerstein).
Lager und
Packstation
sind auf der
linken
Seitenbühne
detailreich
ausgestattet,
ebenso wie das
Labor des
Doktors auf
der
rechten.
Marie lebt (trinkt und raucht) in einer kleinen Wohnung in einem sozialen Brennpunkt. Im rosa Jogginganzug erinnert sie ein bisschen an Cindy aus Marzahn, wenn sie sich stark geschminkt mit Glitzer-Shirt und Weihnachtsbaumgirlande als Boa ausstaffiert, wirkt sie genau wie ihre Nachbarin Margret wie eine Frau des Gewerbes. Das Kind ist hauptsächlich mit seiner Playstation beschäftigt. Der Tambourmajor erscheint als eitle, bodygestylte, eher prollig-modisch überzeichnete Figur, die Abwechslung in Maries trostlose Welt bringt. Live-Kameramann, Wozzeck (Filippo Bettoschi) und der Doktor (Magnus Piontek)
Die Unterbrechungen durch die
„Demokratie-Testzentrums“-Aktionen stören den Fluss
der Handlung gewaltig, am schmerzlichsten kurz nach
der Szene, in der Wozzeck das Messer, mit dem er Marie
erstochen hat, verschwinden lassen will. Aber nicht im
Wasser, sondern auf der Brücke. Wozzeck hat Marie auch
nur auf dem Bildschirm, als eine seiner
Wahnvorstellungen ermordet, Marie geht nach dem Streit
lebendig von der Brücke. Wieso Margret trotzdem Blut
an Wozzecks Händen sieht, ist dann aber praktisch
nicht erklärlich, höchstens im übertragenen Sinne. Nun stellt sich die Frage, was das alles bringt, wohin es uns führt und ob wir da überhaupt hinwollen. Experimentelles kann, darf und muss immer wieder sein. Manchmal öffnet es Wege. Das Zusammenbringen von tatsächlich auf der Bühne zu Sehendem und lediglich auf Bildschirme Projiziertem ist nicht neu, aber weiterhin umstritten und Geschmackssache. Ob man mit der Vermischung und dem Beifügen von Anteilen der Computerspielwelt und Filmbilderfluten neues Publikum gewinnt? Oder nimmt man damit der Oper ihren Zauber, ihre Besonderheit, ihre ganz eigene Faszination, das, was nur sie kann? Dann besteht die Gefahr, sie tatsächlich sterben zu lassen, denn eine Mischform könnte den einen zu wenig, den anderen zu viel sein. Wirtshausszene vom Zuschauerraum aus gesehen
Der elektroakustisch
bearbeitete/verstärkte/hörbar
gemachte
Originalgesang
verbreitet
sich, wird an
verschiedenen
Häusern dezent
eingesetzt,
ist hier aber
auf eine für
mich
unakzeptable
Spitze
getrieben, die
einer
Liveaufführung
nicht würdig
ist. In dieser
Raumkonstellation
geht es nicht
anders, aber
da könnte man
sich auch die
Frage stellen,
ob selbige für
ein Opernhaus
geeignet ist.
Auch ist eine
Einschätzung
der Stimmen
dadurch nur
bedingt
möglich. Wozzeck ist ein Werk, das mit seiner ausdrucksstarken Atonalität tief unter die Haut gehen kann, dessen ruhige Momente die Stille als Klang erleben lassen können, mit viel Emotionalität (ich weiß, ist out, cool ist „Daumen hoch“), die sich durch Menschen auf der Bühne stärker offenbaren kann, als es Projektionen je können. Diese szenische Umsetzung wirkt aber mehr wie ein technisches Experiment, wird von den Machern ja auch als „Musiktheaterlabor“ bezeichnet. „Partizipatives Musiktheater“ ist ein enormer Anspruch, aber ist das auch nötig und sinnvoll? Sollen die Zuschauer im künftigen Freischütz spontan den Jägerchor oder den Jungfernkranz mitsingen? Oder wieder abstimmen ob und in welchem Tempo gesungen werden soll? Ob man zum Erfüllen dieser Idee eine Oper mit einer Zusatzhandlung ergänzen und unterbrechen muss, erscheint fragwürdig. Sicher kann es spannend sein, Experimente zu erleben. Wer mag, möge mit Vergnügen dabei sein. FAZIT
Ich fand diesen Abend nur schwer
erträglich, zuweilen ob seiner Überambitionen unfreiwillig komisch oder
ärgerlich, in seiner Gesamtheit in Bezug auf die Entwicklung des Musiktheaters
bedenklich. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
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