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Nostalgische Zeitreise in die 70er Jahre Von Thomas Molke / Fotos: © Ursula Kaufmann
Pina Bauschs Tanzoper Orpheus und Eurydike darf heute sicherlich als Meilenstein des Tanztheaters bezeichnet werden, auch wenn bei der damaligen Uraufführung am 23. Mai 1975 im Opernhaus Wuppertal gewiss noch nicht absehbar war, dass Bausch in den folgenden Jahren mit ihrer Compagnie Weltruhm erlangen würde. Damals hatte die Choreographin, die eine Spielzeit zuvor von Arno Wüstenhöfer als neue Leiterin der Tanzsparte nach Wuppertal geholt worden war, noch mit einigem Widerstand zu kämpfen und erhielt für ihre Eigenschöpfungen, die das Tanztheater revolutionierten, nicht nur Zustimmung. Aber sie blieb bis zu ihrem viel zu frühen Tod 2009 in Wuppertal, und auch heute pflegt das Tanztheater Wuppertal noch mit großer Hingabe ihr künstlerisches Erbe. So wird im letzten Jahr der Intendanz unter Bettina Wagner-Bergelt in Kooperation mit den Gluck-Festspielen Fürth 2022 Bauschs Frühwerk neu einstudiert, das zuletzt vor knapp 30 Jahren an der Wupper zu erleben war, bevor es viele Jahre im Palais Garnier in Paris fester Bestandteil des Repertoires wurde. Die Neueinstudierung wird von ehemaligen Tänzer*innen der Compagnie geleitet, die in den 70er Jahren die beiden Titelrollen getanzt haben, allerdings in zwei unterschiedlichen "Premieren". Bausch hatte nämlich für die Uraufführung parallel mit zwei Paaren das Stück erarbeitet. Josephine Ann Endicott verkörperte damals die Eurydike mit Ed Kortlandt als Orpheus, und Dominique Mercy, der sich bei der Neueinstudierung vor allem um die Partie des Orpheus kümmert, tanzte damals mit Malou Airaudo das mythologische Liebespaar. Anders als bei der ein Jahr vorher entstandenen Tanzoper Iphigenie auf Tauris agieren die Solist*innen, die Orpheus und Eurydike gesanglich verkörpern, mit den Tänzer*innen auf der Bühne. Hier gibt es dann doch eine Neuheit zur damaligen Aufführung. Mit Valer Sabadus ist in dieser Produktion erstmals ein Countertenor für die Partie des Orpheus verpflichtet worden. Bei den damaligen Inszenierungen wurde die Partie stets von Mezzosopranistinnen interpretiert. Die Alternativbesetzung ist mit Vero Miller auch eine Frau. Dafür verkörpert aber neben Pau Aran Gimeno mit Naomi Brito eine Tänzerin den Orpheus, die sich als Transgender positioniert. Musikalisch orientiert man sich ebenfalls an den frühen Aufnahmen, die von der Produktion vorhanden sind. Dabei lässt sich feststellen, dass in den 70er Jahren Glucks Musik scheinbar mit weniger Tempo gespielt wurde. So wirkt das Spiel des Sinfonieorchesters Wuppertal unter der Leitung des Barockexperten Michael Hofstetter, der unter anderem auch Intendant und Geschäftsführer der Gluck-Festspiele Fürth ist, sehr getragen und ungewohnt langsam, unterstreicht damit aber den melancholischen Grundton der Inszenierung. Auf das glückliche Ende wird in Bauschs Fassung verzichtet. Nachdem Orpheus seine geliebte Eurydike erneut verloren hat, da er sich zu ihr umgedreht hat, lenken hier die Götter nicht ein. Es ertönt noch einmal der drohende Klang der Unterwelt vom Beginn des zweiten Aktes, bevor der Chor erneut zum Trauergesang aus dem ersten Akt ansetzt. Der Chor, der bei der ursprünglichen Inszenierung aus dem Orchestergraben gesungen hat, ist aus Pandemie-Gründen auf die Ränge verteilt, was eine ganz neue Atmosphäre mit einem gewissen Hall schafft. Gesungen wird auf Deutsch, wobei die ursprüngliche Wiener Fassung (1762) um die Balletteinlagen der Pariser Fassung (1774) erweitert wird. Der Chor (Ensemble) trauert um Eurydike (Daria Pavlenko, hinten). Bausch teilt die drei Akte in insgesamt vier Bilder ein, für die Rolf Borzik großartige Bühnenräume geschaffen hat. Zunächst sieht man einen mit weißen Tüchern abgehängten Raum, in dem ein gefällter Baum die Bühne beherrscht. Dieser tote Baum symbolisiert das Lebensende. Auf der linken Seite sieht man im Hintergrund auf einem Hochstuhl, der mit weißen Tüchern bedeckt ist, Eurydike (Daria Pavlenko) in einem weißen Gewand mit einem roten Blumenstrauß. Sie wirkt wie eine Braut. Das weiße Tuch führt in eine Art Glaskäfig im Hintergrund, in dem sich aufgehäufte Erde befindet. Handelt es sich hierbei um die Asche der bereits Verstorbenen? Orpheus steht mit nacktem Oberkörper in einer kurzen weißen Hose mit dem Rücken zum Publikum vor einer weiteren Glaswand. Valer Sabadus steht in schwarzem Anzug neben ihm. In ebenfalls schwarzen Kostümen setzen die Tänzer*innen in eindrucksvoll fließenden Bewegungen die große Trauer um, die über den Tod Eurydikes herrscht. Das extrem langsame Tempo der Musik unterstreicht die Klage sehr emotional. Sabadus begeistert mit weichem Countertenor, der die Verletzlichkeit des Orpheus, der gerade seine geliebte Eurydike verloren hat, unterstreicht. Als "Lichtblick" tritt dann Amor in weißem Gewand auf. Bei Bausch wird Amor auch als Jugend bezeichnet. Mit lieblichem Sopran und großartiger Textverständlichkeit eröffnet Anna Christin Sayn als Amor dem verzweifelten Orpheus einen Weg, Eurydike ins Leben zurückzuholen. Der Höllenhund (von links: Reginald Lefebvre, Nicholas Losada und Oleg Stepanov) versperrt den Eingang zur Unterwelt. Im zweiten Bild sind der Baum und der Glaskasten verschwunden. Auf der rechten Seite befinden sich nun mehrere Hochstühle, die eine Art Gitter als Tor zur Unterwelt darstellen. Der dreiköpfige Höllenhund Cerberus tritt in Form von drei Tänzern auf, die mit einer braunen Lederschürze in martialischen Bewegungen recht Furcht einflößend wirken. Das Ensemble stellt nun die Schatten dar, die in dieser Art Vorhölle verweilen. Mit einem weißen Faden an den Händen, schaffen sie, wenn sie über die Bühne wirbeln, immer wieder neue Hindernisse, um den Weg in die Unterwelt zu versperren. Mit kleinen Details werden hier auch berühmte Büßer der Unterwelt aufgegriffen. Eine Tänzerin versucht beispielsweise permanent wie Tantalus einen Apfel zu greifen, der in unerreichbarer Höhe über ihr hängt. Eindrucksvoll wird umgesetzt, wie diese Furien von Orpheus' Gesang allmählich milde gestimmt werden. Das anschließende berühmte "Air de Furies", das am Ende des zweiten Bildes erklingt, hat dann viel mehr Tempo als die restliche Musik und erklingt in gewohnter Weise. Das Ensemble findet dazu eine großartige tänzerische Umsetzung. Orpheus (Pau Aran Gimeno, hier mit Vero Miller ganz links) besänftigt die Geister der Unterwelt (Ensemble). Im dritten Bild wird der Glaskasten aus dem ersten Bild wieder aufgegriffen. Hier befindet man sich nun in den Gefilden der Seligen, und es geht alles wieder ein wenig ruhiger zu. Die drei Tänzer, die den Höllenhund dargestellt haben, nehmen nun entspannt in blumenumrankten Sesseln Platz. Hier trifft Orpheus nun endlich auf seine geliebte Eurydike. Ralitsa Ralinova trägt als Sängerin Eurydike ein langes schwarzes Kleid und glänzt mit leuchtendem Sopran. Daria Pavlenko findet in weißem Kostüm als Eurydike mit Pau Aran Gimeno als Orpheus in bewegendem Tanz zueinander, bevor die Rückkehr zur Oberwelt erfolgt. Hierfür hat Borzik einen relativ leeren Bühnenraum geschaffen, der von weißen Tüchern eingerahmt wird. Nur das gefallene Laub auf dem Boden erinnert noch an den Baum aus dem ersten Bild. Eurydike tritt nun in einem roten Kostüm auf, das sie gewissermaßen als zwischen den Welten Wandelnde zeichnet. Großartig treten hier die Sänger*innen und die Tänzer*innen untereinander in Aktion. Mal agiert Sabadus als Orpheus mit der Tänzerin Eurydike, dann mit der Sängerin. Gimeno stellt Orpheus' inneren Kampf intensiv dar, während Ralinova gesanglich und Pavlenko tänzerisch immer fordernder werden. Orpheus (Pau Aran Gimeno) und Eurydike (Daria Pavlenko) auf ihrem Weg aus der Unterwelt Wenn Orpheus Eurydikes Klagen nicht mehr aushalten kann, dreht Sabadus sich nach Ralinova um, und Gimeno schließt Pavlenko in seine Arme. Sofort sinkt Ralinova leblos zu Boden. Gimeno legt Pavlenko über die Sängerin, und Sabadus kniet neben den beiden Frauen, während er die berühmte Arie "Ach ich habe sie verloren" mit warmen, verletzlich klingenden Höhen ansetzt. Die drei Tänzer mit den Lederschürzen treten mit einem roten Tuch auf, das die Farbe von Eurydikes Kleid wieder aufnimmt. Auf diesem Tuch schieben sie Orpheus über die Bühne, bis er ebenfalls leblos zusammenbricht. Dabei hat er aber einen gewissen Abstand zu den beiden Sänger*innen und der Tänzerin, was vielleicht suggeriert, dass es anders als im Mythos keine glückliche Wiedervereinigung im Jenseits gibt. Erneut setzt der Chor zum Trauergesang des ersten Aktes an, und der Vorhang schließt sich langsam. Das Publikum goutiert die Vorstellung zu Recht mit großem Jubel. FAZIT Bei dieser Aufführung werden Erinnerungen an früher wach,
besonders wenn man zahlreiche Tänzer*innen von damals im Publikum sieht und
weiß, dass sie an dem Erhalt dieser Produktion einen beachtlichen Anteil haben. |
ProduktionsteamMusikalische Leitung Choreographie
Probenleitung Neueinstudierung 2022 Assistenz der Probenleitung Mitarbeit Proben Einstudierung Orpheus Bühneneinweisung SängerInnen
Bühne, Kostüme und Licht Mitarbeit Neueinrichtung Licht Rekonstruktion Bühnenbild Chorleitung
Sinfonieorchester Wuppertal Opernchor der Wuppertaler Bühnen Besetzung*Premierenbesetzung Liebe Orpheus Tod Eurydike Jugend Amor Ensemble
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